77. Filmfestspiele von Venedig

Mit dem Vorschlaghammer

d'Lëtzebuerger Land du 11.09.2020

Der rote Faden der 77. Filmfestspiele von Venedig ist nicht in einem kohärent thematischen oder dramaturgischen Leitmotiv in der Filmauswahl wiederzufinden. Über allem – Programm, Logistik und Ausführung des Festivals – steht bekanntlich der Sie-wissen-schon-Virus. Trotzdem lassen sich mit kurzen Fädchen Filme gemeinsam besprechen, die auf den ersten Blick nichts miteinander verbindet.

Wie zum Beispiel der Wettbewerbsfilm Pieces of a Woman von Kornél Mundruczó und der griechische Spielfilm Mila (zu deutsch: Äpfel) von Christos Nikou, der im Orrizonti-Programm zu sehen war. Was die beiden Film miteinander verbindet? Äpfel.

Nikous Film scheint von der aktuellen Situation inspiriert: In einem undefinierten Griechenland wütet eine Pandemie, mit deren Auswirkungen die Menschen längst zu leben gelernt haben. Covid-19 hat eben nicht das Virus-Monopol. Im Kino eh nicht. Im Film erkranken Menschen an plötzlicher Amnesie und es wundert niemanden, wenn jemand auf der Bordsteinkante sitzt und nichts mehr weiß, wo oben und unten ist.

So ergeht es in Mila dem Protagonisten Aris. Er verlässt morgens seine Wohnung, grüßt noch den Nachbarshund, steigt in den Bus und schon ist es passiert. Während der Fahrt überkam es ihn, und ohne Papiere landet er in einer Notaufnahme. Weil ihn jedoch niemand zu vermissen scheint, wird er in das staatliche New-Identity-Programm transferiert. Dort wird ihm mithilfe von Psychologen eine Polaroid-Kamera zur Verfügung gestellt, mit der er Aufgaben fotografisch dokumentieren soll – ins Kino oder Tanzen gehen, Fahrrad fahren und sogar jemanden im Club für ein Techtelmechtel aufs Klo abschleppen.

Christos Nikou ist ein griechischer Filmemacher aus dem Kreis um Yorgos Lanthimos. Hauptdarsteller Aris Servetalis ist nicht nur Lanthimos bekannt, sondern auch dem Luxemburger Kinopublikum. Zuletzt war er in Steve Krikris The Servant sowie in L von Babis Makridis sehen, die beim Luxembourg City Film Festival gezeigt wurden. Zu behaupten, Nikous Debütfilm sei dem Kino Lanthimos nicht unähnlich, wäre nicht unberechtigt. Wo Lanthimos jedoch mit einer formal und dramaturgisch messerscharfen Kälte vorgeht – insbesondere in seinem Frühwerk – so macht bei Mila die Kälte einem Humanismus Platz, der den Starregisseur gar nicht interessieren würde.

Nikous Figur wandelt, von Servetalis verkörpert, mit Polaroid-Kamera und einer stoischen Mimik durch den Film, die jedoch bald Risse bekommt. Ist die Amnesie-Pandemie nicht doch bloß Einbildung oder simuliert Aris seine Krankheit vielleicht sogar?

„People take picture of the summer / Just in case someone thought they had missed it / And to prove that it really existed“, sangen 1968 The Kinks und nahmen Social Media um Jahrzehnte vorweg. Aris wird mit einer anachronistisch anmutenden Kamera in eine von Smartphones freie Welt entlassen, um eine neue Identität zu konstruieren oder seine eigenen vergessenen Erinnerungen zu rekonstruieren. Der Regisseur inszeniert Aris inneren Prozess mithilfe von Vignetten, die oft an und für sich alleine stehen könnten und dem Film eine freie und verspielt-abstrakte Note verleihen. Manchmal zu frei und zu abstrakt vielleicht, um bei aller Fabulierfreude den psychologischen Bogen von Aris aktiv mitzuverfolgen.

Mit dem Fabulieren hat der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó so seine Erfahrungen gemacht. 2014 hat er die grandiose politische Fabel White God inszeniert, in der unter anderem der Kryptofaschimus Viktor Orbáns durch ein Rudel Straßenhunde überhöht thematisiert wird. Nach dem anschließenden Versuch, so etwas wie einen Arthouse-Superheldenfilm zu drehen, war Mundruczós nächster Schritt schon fast natürlich: einen Film in englischer Sprachen in den USA zu produzieren. Pieces of a Woman ist in Venedig einer von 18 Kandidaten in der competizione ufficiale und einer der wenigen Star-besetzten Filme auf der Mostra.

Shia LaBoeuf und Vanessa Kirby sind darin angehende Eltern in Boston, denen die Geburt ihres ersten Kindes ganz kurz bevorsteht. Und eines vorweg: Die Geburtssequenz, die den Film (quasi) eröffnet, ist nichts für schwache Nerven. In einer fast dreißigminütigen Einstellung wird das Publikum Zeuge einer Geburt, die Kamera hält erbarmungslos drauf. Die von Benjamin Loeb geführte Handkamera zieht die Beklemmung der Situation ins Unerträgliche. Hinzu kommt, dass am Ende das Allerschlimmste eintritt: Das Kind überlebt nicht.

Der Regisseur gibt in der Absichtserklärung im Festivalkatalog zu verstehen, dass er und seine Lebenspartnerin Kata Webér, die das Drehbuch mitgeschrieben hat, diesen Film als Aufarbeitung eines nicht weiter erklärten Verlustes verstünden. Wie lebt es sich nach einem für Nichtbetroffene nicht mal ansatzweise nachzuvollziehenden Verlust? Das Paar in Mundruczós Film schlittert konstant am Abgrund des Zusammenlebens. Die Verwandten haben stets gutgemeinte Ratschläge parat, die den Gemütern der Trauernden aber mehr zusetzen als dass sie helfen würden.

Nach dem virtuos bedrückenden Start lässt Mundruczó sein englischsprachiges Debüt einen ganzen anderen Weg einschlagen. Der Ungar unternimmt den Versuch, die Codes eines europäischen psychologischen Dramas mit denen des amerikanischen Melodramas zu verbinden. Der Versuch missglückt jedoch auf der ganzen Linie.

So überwältigend die Anfangssequenz ist, so flacht der Film von Minute zu Minute immer weiter ab. Es hilft nicht, dass Shia LaBoeuf – der zunächst noch den Deckel auf seiner Performance halten kann – schauspielerisch überzieht, als ob es kein Kinomorgen gäbe. Und obschon der künstlerische Griff, den von der Handkamera eingefangenen Bostoner Realismus mit fast schon kitschigen Klavierklängen zu untermalen, seinen Reiz hat, so müssen die Situationen dementsprechend präzise sein und stimmen. Wenn das Drehbuch jedoch allzu simple und kitschige Dialoge, zerfällt diese Idee der mise en scène. Wie das Paar hinter der Kamera irgendwann im Schreibprozess ins unsäglich Explikative verfallen konnte, ist beim besten Willen nicht zu verstehen. Da lobt man sich doch Atom Egoyans The Sweet Hereafter, der das Thema von Verantwortung und Rechenschaft – in welches Pieces of a Woman auch irgendwann abdriftet – so viel sensibler verhandelt hat. Ohne dabei peinlich explikativ zu werden.

Mila und Pieces of a Woman wollen eigentlich beide das Leben, Todesgefahr und Verlust thematisieren, gehen aber wie mit dem Vorschlaghammer zu Werke, damit bloß alles nachvollziehbar wird, und am Ende bleibt nur ein fader emotionaler Nachgeschmack. Fade Äpfel aber schmecken nicht. Bei Christos Nikou erinnert der stoische Wunsch nach Äpfeln, die die Hauptfigur genüsslich verspeist, an Becketts Krapp und seine Bananen, um am Ende dem Obst tatsächlich eine berührende Bedeutung zu geben. Bei Kornél Mundruczó hingegen führen die Äpfel eigentlich nur noch dazu, dass Douglas Sirk, der große Film-Melodramatiker, sich im Grabe umdrehen möchte.

Footnote

Tom Dockal
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