Kino

Überwältigungsmaschinerie

d'Lëtzebuerger Land du 28.08.2020

„Lügen gehört zur Standardvorgehensweise“, heißt es in Tenet mehrfach, und es wirkt beinahe so, als spreche das Werk gleichsam über seinen Schöpfer: Täuschungen sind Christopher Nolans Metier, sie sind die inhaltliche Konstanz seiner Werke. Bei allen Täuschungsmanövern, die Tenet für seine Zuschauer bereithält, kann er uns nicht darin täuschen, dass er augenscheinlich Nolans Handschrift trägt. Der Regisseur ist als Autor immerzu omnipräsent: Wie in Dark Knight und dem Nachfolger The Dark Knight Rises eröffnet Nolan den Film mit einer rasanten Action-Szene, der packenden Erstürmung einer ukrainischen Oper, bei der sich allerlei kuriose Ereignisse abspielen: Kugeln, die plötzlich rückwärts fliegen, sich gegen den natürlichen Lauf der Zeit verhalten. Und damit sind wir mittendrin in der Welt von Tenet, denn wie immer ist für Nolan die wichtigste Einheit des Films die Zeit.

Ein kalter Krieg zwischen Zukunft und Gegenwart droht da plötzlich ganz heiß zu werden. Es geht um nichts weniger als um das Erkämpfen der Zeit und damit verbunden selbstverständlich die Rettung der Welt – eine Mission, der eigentlich nur James Bond gewachsen ist, und damit sind wir weiter in die Handlungsebene von Tenet vorgestoßen: Da gibt es den größenwahnsinnigen Schurken Andrei Sator (Kenneth Branagh), der die Welt ins Unglück stürzen will, seine zwielichtige Ehefrau Kat (Elizabeth Debicki), die seiner Bosheit überdrüssig ist und ihm entkommen will, aber durch den gemeinsamen Sohn an ihn gebunden bleibt. Ihre Rettung erscheint vielleicht in der Gestalt eines fremden, namenlosen Agenten (John David Washington), der Satos Pläne zu vereiteln sucht. Ihm zur Seite steht der geheimnisvolle Neil (Robert Pattinson), aber auch dem ist in diesem hochgradigen Verwirrspiel nicht zu trauen. Sieht man von der komplexen Zeitkonstruktion einmal ab und bedenkt nur die semantischen Genre-Aspekte, dann ist Tenet im Grunde ein Spionagethriller, er kreist ganz bewusst um all die exotischen Schauplätze und schnellen Fortbewegungsmittel, die ein James-Bond-Film zu bieten hat. Darin zeigt sich freilich einmal mehr Nolans Verständnis, die für den Blockbuster so wichtigen Schauwerte und Klangräume zu inszenieren: Sein Hang zu besonders massiven horizontalen und vertikalen Strukturen ist deutlich erkennbar, die Kamerabewegung ist äußerst intensiv gestaltet, und obwohl diesmal nicht Hans Zimmer die Musik schrieb, sondern der schwedische Komponist Ludwig Göransson, ist die musikalische Kulisse ohrenbetäubend, kurz: Bild und Ton fungieren als Überwältigungsmaschinerie.

Der Filmtitel (zu deutsch: Grundsatz) ist ein Palindrom, und in etwa so ist die Filmhandlung konzipiert: Zeit scheint für den Zuschauer vorerst linear zu verlaufen, sodann erleben wir die Ereignisse nochmals in zeitlich invertierter Form. Vorwärts schreitende Zeit und rückwärts laufende Zeit begegnen sich in diesem Film auf – im Wortsinne – unvorhergesehene Weise. Die Konvergenz von vor- und rückwärts laufenden Zeitebenen in ein- und derselben Einstellung, im filmischen Bild, hat so keine filmischen Vorläufer. Bei aller temporalen Komplexität, mit der Tenet sein Publikum herausfordern will, ist er Inception oder Interstellar dahingehend nah, narrativ sehr transparent angelegt zu sein. Nolan stellt die Regeln seines Films vor, richtet sie sogar selbstironisch spöttelnd an seinen Protagonisten und damit an uns; ferner sind die diversen Handlungsebenen und -motivationen an bestimmte Figuren gekoppelt, an die wir uns binden und damit orientieren können. Es dürfte vor diesem Hintergrund kaum verwundern, dass der Film in sich gewinnbringend angelegt ist, sodass man ihn sich mehrmals anschauen und das Gesehene immer wieder neu bewerten kann.

Für die einen ist das filmische Philosophieren über die Zeit hochintelligente Unterhaltung, für die anderen aber ist die überkomplexe Geschichte nur Aufhänger für fesselnde Action-Szenen. Damit bewegt sich Nolan in der Rezeption seines Publikums irgendwo zwischen Andrei Tarkowski und Michael Bay. Egal wie man Nolans neuesten Film auch bewerten will, Tenet funktioniert als performatives Erlebnis, als ein Experiment, das mit der Zeit, der Umkehrung von Linearität, der Variation der filmischen Vorstellung der Zeit über filmische Zeit, genauer: filmische Eigenzeit, nachdenkt, mit den überwältigenden Ausdrucksmitteln des Films.

Marc Trappendreher
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