Eleanor Antin. A Retrospective im Mudam zeigt unterschiedliche Schaffensphasen der feministischen Pionierin. Eine eindrucksvolle Schau

In Siebenmeilenstiefeln und Ballerinapose zur Gleichstellung

d'Lëtzebuerger Land du 03.10.2025

Wer dieser Tage das Mudam betritt, sieht überall in der Haupthalle aneinandergereiht schwarze Gummistiefel. Sie stehen im Kontrast zum gleißenden Weiß des Museums: 100 Boots (1971-73), das die Form eines episodischen, fotobasierten Road Movies annimmt, bildet den Auftakt der Eleanor-Antin-Retrospektive, deren Rundgang mit ihrem ikonischen Projekt beginnt. Es ist eines der bekanntesten Werke der Konzept- und Performance-Künstlerin Antin; ein Mail-Art-Werk, das die inszenierte Reise von 100 Paar schwarzen Gummistiefeln dokumentiert, die in Kalifornien ein abenteuerliches Leben beginnen und mit einer rasanten Exkursion durch New York enden.

Antin arrangierte zunächst 50 Paar Stiefel auf Postkarten zu unterschiedlichen Szenen, die zusammen einen Schelmenroman ergaben. Im Geiste des Fluxus verschickte sie die Postkarten von 1971 bis 1973 an Akteur/innen der Kultur- und Kunstszene. Die Postkarten, Stiefel und Fotografien wurden 1973 im New Yorker MoMA ausgestellt. Die Ausstellung fungierte zwar weitgehend als Institutionskritik, versuchte aber auch, historische Definitionen des Kunstobjekts in Frage zu stellen. Im Mudam sind die schwarzen Gummistiefel an der Treppe arrangiert, die hinab ins Foyer des Museums führt, und leiten so zur Retrospektive, die sich über das gesamte Untergeschoss sowie Räume im Erdgeschoss erstreckt.

Die US-amerikanische Künstlerin Antin war eine Vertreterin der Konzeptkunstbewegung der 1970er Jahre und gilt bis heute als bedeutende feministische Pionierin. Ihr multidisziplinärer Ansatz reicht von Installation, Malerei, Zeichnung, über Fotografie, Performance, Literatur bis hin zu Video und Film.

Eleanor Antin (geb. 1935 in der Bronx, New York) wuchs in einem Umfeld linker jüdischer Intellektueller polnischer und russischer Herkunft auf, die eine große Liebe für die jiddische Kultur hegten. Ihre Eltern waren in den 1930er Jahren aus Polen emigriert. Ihr Vater Sol Fineman war Sozialist und Atheist und arbeitete in der Bekleidungsindustrie in New York. Ihre Mutter Jeanette Efron, eine ehemalige Schauspielerin am jiddischen Theater in Polen, Kommunistin, die Russland liebte, war Unternehmerin.

Eleanor besuchte die Music and Art High School in New York mit dem Hauptfach Kunst und das City College of New York (CCNY). Von 1954 bis 1956 studierte sie Philosophie und Schauspiel an der Tamara Daykarhonova School for the Stage. In ihrem letzten College-Jahr beschloss sie, die Schule abzubrechen und eine Stelle als Schauspielerin bei einer Wandertheatergruppe in William Inges Bus Stop anzunehmen. Antin begriff ihre Kunst von den Anfängen an als etwas von Natur aus Fluides – als einen Spiegel ihrer vielschichtigen Identitäten.

Im Untergeschoss des Mudam sind die Postkarten des Projekts 100 Boots in Miniaturen arrangiert, daneben eine Serie von Schwarz-Weiß-Porträts der fast nackten Künstlerin über die Jahrzehnte: Representational Painting (1971), Carving: A Traditional Sculpture (1972), 8 Temptations (1972) und Carving: 45 Years Later (2017).

Die Künstlerin erkannte, dass das Spektrum der Konzeptkunst um Biografie und narrative Fantasie erweitert werden sollte, mit denen sie sich bereits beschäftigt hatte, sowie um Autobiografie, innere oder psychologische Erkundungen und Transformationen.

Früh wurde ihr bewusst, dass sie ihr Leben und ihren eigenen Körper als Medium nutzen konnte. 1972 schuf sie Carving: A Traditional Sculpture, eine Raster-Installation aus 144 Schwarz-Weiß-Fotografien, die Antins nackten Körper zeigen und ihren Gewichtsverlust während einer 36-tägigen Diät dokumentieren, bei der sie elfeinhalb Pfund abnahm. Antins Körper wurde so zu einem work in progress, den sie täglich von vorne, hinten und der Seite fotografierte. Auf den ersten Blick scheint Antin auf das Streben kapitalistischer Gesellschaften nach körperlicher Perfektion und auf die weibliche Selbstoptimierung hinzuweisen. Bei genauerer Betrachtung wirft sie jedoch tiefere Fragen auf. Sie steht völlig nackt vor uns, der Körper einer weißen jüdischen Frau, und als solche Repräsentantin zweifacher Diskriminierung.

Die Foto-Serien spiegeln ihr Interesse an der Frage wider, wie Weiblichkeit im kunsthistorischen Kanon sowie in gesellschaftlichen Kontexten gemessen, diszipliniert und konsumiert wird. Sie stellt sich als archetypisch in den Dienst einer kritischen Betrachtung heteronormativer Klassifikationslogiken, die sie aufgreift und bewusst durchbricht. Zudem war sie die erste Konzeptkünstlerin, die serielle Bilderserien und fiktionale Erzählinhalte in einem zweieinhalbjährigen Kunstprojekt miteinander verband.

Linker Hand geht es im Untergeschoss des Mudam in einen Saal, in dem mit Pose eine immersive Installation ausgestellt ist, die verspielt mit leuch-
tenden Glühbirnen an die Fassade eines alten Kinos erinnert. Zauberhaft und doch irritierend wirkt dieser Raum, leicht kitschig, wie die Kulisse eines Films.

Loves of a Ballerina (1986) führt in einen schwarzen Kubus, der ganz der Darstellung von Antins glamourösestem feministischem Alter Ego gewidmet ist: der Ballerina. Gespiegelt in schwarz-weiß ein Selbstbild der Künstlerin als Ballerina (The Two Eleanors, 1973). Ihre Beherrschung der Pose, kombiniert mit einer Unfähigkeit, sich tänzerisch auszudrücken, erscheint als komischer wie zugleich kritischer Kommentar auf klassische Schönheitsideale. Später entwickelte sich die Figur weiter zu Eleonara Antinova – einer schwarzen Ballerina, die aus den USA nach Paris reiste, um mit Diaghilevs Ensemble Les Ballets Russes aufzutreten.

Warum ausgerechnet eine Ballerina feministisch sein soll, erläuterte Antin in einem Interview mit Howard N. Fox: „Ballett ist schon absurd, oder? Ganz ehrlich, es ist lächerlich. Blanker Unsinn. Klar, es hat etwas Hübsches, aber was macht das schon? Das gilt auch für Eiskunstlauf – hübsch und absurd. Trotzdem gingen wir ständig zu den Aufführungen des Ballets Russes [...]“

Durch die Verknüpfung persönlicher Erinnerungen mit historischer Fiktion inszeniert Antin Vilna Nights (1993-97) ein Kriegsszenario in Vilnius, das einst die größte jüdische Gemeinde Europas beherbergte, bevor diese im Zweiten Weltkrieg ausgelöscht wurde. Drei Rückprojektionen zeigen die Ruinen des jüdischen Ghettos von Vilnius und erinnern so an die „Geister“ seiner ermordeten Bewohner/innen.

Vilna Nights ist eine filmische Installation, bestehend aus einem Bühnenbild und drei Rückprojektionen, die die eingestürzten Bauten des jüdischen Ghettos der Hauptstadt Litauens darstellen. Hier beschäftigt sich Antin explizit mit Motiven osteuropäischer Juden während des Zweiten Weltkriegs und der Massenvernichtung. Sie öffnet drei Fenster in zerbombten Gebäuden, umgeben von Trümmern, durch die die Besucher/innen, die Geister der Verschwundenen sehen, die ihr unterbrochenes Leben weiterleben. Jede Vignette zeigt die drei Lebensphasen und versetzt diese Geister des Verlusts nach Vilnius. In die Mauern des Untergeschosses im Mudam gefasst, wirkt die im Dunkeln gehaltene flimmernde Installation gespenstisch.

Fürsorge und Widerstand entfalten sich in der Serie The Angel of Mercy (1977) anhand der Figur der Krankenschwester Eleanor Nightingale – inspiriert an Florence Nightingale, der Begründerin der modernen Krankenpflege während des Krimkrieges. Eine weiße Schwesternkluft baumelt wehend an einer Wand. Ein Raum mit dem Titel Admiration ist schließlich jenen Frauen gewidmet, die Antins Leben und künstlerisches Schaffen maßgeblich geprägt haben. Feministische Künstlerinnen aus ihrem Umfeld, wie Kathy Acker, Carolee Schneemann oder Martha Rosler – alle aktiv im New York der 1970er Jahre – aber auch Rochelle Owens, Hannah Weiner oder Amy Goldin waren aus Antins Sicht nie ausreichend in der Kunstwelt sichtbar, geschweige denn anerkannt. Den persönlichen Gegenständen dieser Frauen sind Karteikarten zugeordnet, die eine stille, persönliche Würdigung formulieren.

Diese tritt in einen Dialog mit Domestic Peace (1971-72), dem letzten Teil der Retrospektive, der einer Schlüsselfigur in Antins Leben gewidmet ist: ihrer Mutter. In den 1990er Jahren wurde die Sterblichkeit zu einem wichtigen Thema in Antins späteren Filmen, was zum Teil auf die langjährige Krankheit ihrer Mutter zurückzuführen war, die Antin tief bewegte. Sie berichtet, dass ihre Mutter, als sie an Alzheimer starb, ihr Englisch verlor und ihr Jiddisch, die Sprache ihrer Kindheit, zurückkehrte.

Eleanor Antin. A Retrospective dokumentiert so Antins über fünfzigjährige künstlerische Laufbahn aus unterschiedlichen Blickwinkeln und hebt dabei die bleibende Wirkung ihres Werks hervor. Die Schau illustriert die Vielschichtigkeit ihres Œuvres. Während ihre 100 Boots nach wie vor fesseln, mutet der Ballerina-Raum etwas kitschig an, ihre nackten Selbstporträts wirken dagegen mutig-verstörend, Vilna Nights unheimlich wie eine Heimsuchung, die Geister der Vergangenheit heraufbeschwörend: ein Mix einer vielseitig wirkenden, feministischen Künstlerin, deren Schaffen im Mudam zu Recht Raum gegeben wird.

Anina Valle Thiele
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