Die Familienministerin lässt es an Führung und Ideen missen. Dabei werden sie jetzt besonders gebraucht

Schönwetterpolitik

d'Lëtzebuerger Land du 17.02.2011

Anstatt zu lamentieren, täte die Regierung besser daran, dem Schweizer Beispiel zu folgen und die Unterbringung von Flüchtlingen in den Gemeinden über eine gesetzliche Quote festzuschreiben, so die Asti am Mittwoch. Damit reagiert die Einwandererhilfsorganisation auf Familien- und Integrationsministerin Marie-Josée Jacobs, die sich zuvor gegenüber RTL über ihre vergeblichen Mühen beklagt hatte, Unterkünfte für die steigende Zahl an Flüchtlingen zu organisieren. Obwohl der Staat 100 Prozent der Baukosten übernimmt, würden sich keine Gemeinden finden, die bereit wären, die Flüchtlinge aufzunehmen.

Mit dem konkreten Vorschlag gibt die Asti der Ministerin die verbale Retourkutsche. Vor gut einer Woche war dieselbe Ministerin an das Rednerpult der Abgeordnetenkammer getreten und hatte ihrerseits ihren Kritikern vorgehalten, sie würden zwar viel beanstanden, aber konkrete Gegenvorschläge hätten sie keine zu machen.

In der von André Hoffmann von Déi Lenk beantragten Debatte war es um die wachsende Armut in Luxemburg gegangen. Selten deutlich und mit vielen Zahlen belegt, zeichneten die Abgeordneten von Déi Lenk und Viviane Loschetter von den Grünen, aber auch Vera Spautz vom Koalitionspartner LSAP, nach, wie sich die Einkommensschere zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren immer weiter geöffnet habe. Die jüngsten Daten kommen vom statistischen Amt Statec, das neben dem Medianeinkommen auch die materielle Ausstattung und die Beschäftigungssituation erfasst: Demnach sind mittlerweile 17,8 Prozent der luxemburgischen Bevölkerung von Armut bedroht. Ein besonderes hohes Armutsrisiko tragen Einelternhaushalte: Jede zweite Alleinerziehende mit einem oder mehr Kinder ist von Armut bedroht.

Jacobs reagierte wie gehabt. Sie beteuerte zunächst, nicht über die Statistiken streiten zu wollen, um im folgenden Satz eben diese zu hinterfragen. Die Steigerung könne mit Schwankungen in der Stichprobe zusammenhängen, sagte Jacobs, und dann sei da noch die Teilzeitarbeit. Dass aber auch das Armutsrisiko bei Kindern deutlich gestiegen ist, darauf ging die Jugend- und Familienministerin nicht ein. Den alarmierenden Ausführungen der Grünen Loschetter über die rasant steigende Kinderarmut hielt die CSV-Politikerin die gute Nachricht entgegen, dass zumindest die ältere Generation vergleichsweise wenig von Armut betroffen sei.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Ministerin schlechten Nachrichten lieber ausweicht oder mit guten kontert. Als die Grünen die Ministerin kürzlich fragten, was sie für die Opfer von Missbrauch in (katholischen) Heimen zu tun gedenke, entgegnete sie, es gebe doch ausreichend Anlaufstellen. Und als der liberale Abgeordnete Eugène Berger vor kurzem die Recherchen des Tageblatts thematisierte, wonach die Qualität der Pflege in manchen Altersheimen aufgrund von Personalmangel zu wünschen übrig lasse, wehrte die Seniorenministerin ab, die Darstellungen entsprächen nicht der Realität. Dabei spricht die Patientevertriedung ebenfalls von „Missständen“ und davon, dass „viel verschwiegen“ wird. Lieber lobt die Ministerin das üppige Angebot an Altersheimen. Mit über 5 100 Betten hält Luxemburg den Europarekord bei der Bettenzahl pro Einwohner. Wie viele allerdings genau gebraucht werden, darüber ist wenig bekannt (siehe Land-Beilage, S. 9.).

Auch dieses Muster ist ein gängiges: Anstatt sich vorher ein Bild über die Bedarfe zu machen, wird fröhlich drauf losgebaut. Das Gesetz zur Jugendhilfe hat zum erklärten Ziel, die ambulante Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Not auszudehnen und die Zahl der Heimeinweisungen zu reduzieren. Zugleich steigt die Zahl der stationären Betreuungsplätze weiter. Derzeit verhandelt das Familienministerium darum, eine weitere größere Einrichtung zu bauen, die schwer verhaltensauffällige Luxemburger Kinder aus dem Ausland aufnehmen soll. Experten haben die Unterbringung im Ausland von Jugendlichen fernab von ihren Familien und Freunden wiederholt kritisiert, die Maßnahme ist also nicht grundsätzlich falsch. Zumal dieses Mal ein Konzept vorzuliegen scheint.

Üblicherweise läuft es aber anders herum: Zunächst werden die Einrichtungen gebaut, bevor ein klares Konzept existiert, so geschehen bei der Unité des sécurité in Dreiborn, wo das Gesetz längst gestimmt und die Pläne für das Gebäude erstellt waren, bevor das pädagogische Konzept nachgereicht wurde. Das Office national de l’enfance, das künftig als koordinierende Anlaufstelle für hilfsbedürftige Jugendliche und deren Eltern fungieren soll, sollte seine Arbeit laut Gesetz schon zu Beginn dieses Jahres aufnehmen. Aber die Ausführungsbestimmungen liegen noch beim Staatsrat und in den Kulissen ringen die Träger erbittert um die Finanzierung.

Es ließen sich für diese Planungslücken noch weitere Beispiele anführen: Um den dringenden Bedarf an Betreuungsplätzen zu begegnen, wurden massenhaft Maisons relais aus dem Boden gestampft. Gleichzeitig wurde der Betreuungssektor verstärkt für Niedrigqualifizierte und Stundenjobber geöffnet, mit dem Effekt, dass sich Träger und Gemeinden nun um die Qualität des Angebots sorgen. Die will das Familienministerium, in Zusammenarbeit mit der Uni Luxemburg, jetzt in einem zweiten Schritt nachreichen. Die Restrukturierung und Professionalisierung der Sozialämter indes findet zwar weitgehend Zustimmung, aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass es an Personal fehlt, um den gestiegenen Anforderungen nachzukommen.

Nun ist die Ministerin für diese Konzeptlosigkeit nicht direkt verantwortlich. Die Gesetze haben ihre Berater geschrieben, das Jugendhilfegesetz und das Gesetz zu den Maisons relais tragen beispielsweise die Handschrift des ehemaligen Beraters und heutigen CSV-Abgeordneten und Präsidenten der parlamentarischen Familienkommission Mil Majerus. Aber die Frage stellt sich: Welche Vision hat die ehemalige Krankenschwester aus dem Ösling, die seit über zwölf Jahren das Familienministerium leitet, eigentlich für die Zukunft des sozialen Sektors? So lange die Regierung finanziell aus vollen Etats schöpfte, konnte Problemen, wenn nötig, eben mit einer neuen Struktur begegnet werden. Nun aber gibt es weniger Gelder zu verteilen, auch das Familienministerium soll sparen. Die schlechten Nachrichten, siehe steigende Armut, mehren sich.

Nun rächt sich, dass Weitsicht und eigene Visionen bei der Ministerin Mangelware sind. Zahlreiche Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren ergriffen wurden, stammen nicht aus ihrem Haus – und sie wurden eingeführt, als es nicht mehr anders ging. Erste Pläne zu einer sozialen Wohnungsagentur etwa wurden schon vor rund 15 Jahren formuliert. Der ­damalige Wohnungsbauminister Fernand Boden konnte sich dafür nicht erwärmen und auch die Familienministerin vermochte es nicht, ihren Parteikollegen zu überzeugen. Erst als mit der sich zuspitzenden Wohnungsnot das European Anti-Poverty Network Lëtzebuerg (EAPN), ein Verbund verschiedener Wohlfahrts- und Nichtregierungsorganisationen, mit vereinten Kräften Druck machte, gelang der Durchbruch. Die 2009 gegründete soziale Wohnungsagentur ist allerdings von ihrer Zielgröße, 500 bezahlbare Miet­wohnungen für sozial Benachteiligte anzubieten, noch weit entfernt: Die drei Mitarbeiter sind mit Betreuung und Instandhaltung der bislang 60 Wohnungen voll ausgelastet.

Die Idee für die – überstürzt eingeführten – Chèques service, die einkommensschwachen Familien den Zugang zu Kinderbetreuungsstrukturen erleichtern sollten, stammt ebenfalls nicht aus dem Familienministerium, es sei denn, man setzt das CSV-dominierte Ressort mit der Caritas gleich. Die katholische Wohlfahrtsorganisation hatte die Dienstleistungsschecks diskutiert, ehe der Premierminister sie in seiner Rede zur Lage der Nation 2008 ankündigte. Damals war noch die Rede von einer flächendeckenden Gratisbetreuung. Aber das war vor der Krise.

Auch die im Regierungsprogramm versprochene Revision des RMG ist ein Dauerthema: Inter-Actions beispielsweise fordert, das Alter herabzusetzen, so dass auch junge Leute unter 25 Jahre von dem Mindesteinkommen profitieren können. Die Caritas setzt sich dafür ein, die Kosten für die Miete extra und einzelfallorientiert zu berechnen sowie höhere Bedarfssätze für Kinder vorzusehen. Angesichts der steigenden Jugendarbeitslosigkeit ist auch das Ministerium aufgeschreckt: In den nächsten Wochen treffen sich Vertreter des EAPN und Beamte des Familienministeriums, vielleicht wird ja dann ein Schuh daraus. Allerdings soll die Ministerin, das berichtet die Caritas, sich dagegen ausgesprochen haben, das RMG grundsätzlich zu restrukturieren.

Was lehren diese Beispiele? Das Familienministerium hat ein Problem, nein, viele Probleme. Auf die es meist spät und unter Zugzwang reagiert. Dass Jacobs gut zuhören kann, bescheinigen ihr sogar ihre Kritiker. Zur Führung eines der finanzstärksten Ressorts bei einem durch die Folgen der Wirtschaftskrise geschmälerten Handlungsspielraums reicht das aber nicht aus. Die LSAP-Abgeordnete Vera Spautz stellte vergangene Woche im Parlament zu Recht fest: Die Ursachen der Armut sind vielfältig und liegen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarkt- sowie der Sozialpolitik – übrigens auch ihrer eigenen Partei. Die Krise wirkt zusätzlich verschärfend. Spautz bemerkte aber auch: Die Ressortminister für Arbeit, Wirtschaft und Wohnungsbau glänzten in der Debatte durch Abwesenheit. Von vernetzter Politik war seitens der Ministerin nicht viel zu hören.

Fehlende Transversalität war übrigens auch der Grund, warum Jacobs in einem anderen Ressort keine großen Akzente setzen konnte: bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das Prinzip des Gender-Mainstreaming hatten die Amsterdamer Verträge der EU schon 1999 vorgeschrieben, nur ist davon nicht viel in Luxemburg angekommen. Ihre Nachfolgerin Françoise Hetto-Gaasch, eigentlich Quotengegnerin, traut sich, eine Geschlechterquote für Führungspositionen in der Privatwirtschaft in Aussicht zu stellen, nachdem Brüssel sie angekündigt hat. Die Quote will Hetto-Gaasch nach 2014 einführen: wenn ihre Amtszeit zu Ende ist. Wie schon ihre Amtsinhaberin vor ihr hat Premierminister Jean-Claude Juncker (CSV) eine Frau für das Chancengleichheitsministerium ausgewählt, von der er sicher sein kann, dass sie es mit ihren Forderungen nicht zu weit treiben wird.

Doch das defensive Prinzip mag für eine lange Weile funktioniert haben. Mittlerweile droht es für die CSV peinlich zu werden: Wie sehr die Partei gesellschafts- und sozialpolitisch ins Hintertreffen geraten ist, zeigt nicht nur ihre Haltung bei der Sterbehilfe oder Abtreibung. Beim Thema Rentensplitting und der Scheidungsreform herrschte die völlige Blockade, bis selbst dem CSV-Abgeordneten Lucien Weiler der Kragen platzte. Wann sie – und in welcher Form – kommen wird, steht weiter in den Sternen. Marie-Josée Jacobs äußerte sich nicht, dabei geht das Thema auch die Familien- und Altenministerin an. Aber vielleicht ist ihr dazu einfach keine gute Nachricht eingefallen.

Ines Kurschat
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