Man nehme zwei beliebige Einwohner Luxemburgs. Es sind Bauern. Man nenne sie Jeff und Josefine. Sie sind enttäuscht: Beim alljährlichen Kühezählen bemerkten sie, dass ihnen wegen eines Sturms nur noch vier Kühe geblieben waren. Doch zum Glück geschehen auch Wunder. Die Kühe vermehrten sich wieder ... Anna, Fritz, Ben.
Mitten unter eigenwilligen Luxemburgern befindet man sich bei Simone Moussets und Lewys Holts BAL: Pride and Disappointment. Vergangene Woche war Premiere im Escher Theater. Vor der Kulisse einer Tapete voller Pferde betreten die beiden in braunen Cordhosen und schlabbrigen T-Shirts die kleine Bühne und werfen noch einmal die Idee in den Raum. Was war noch das Schlüsselelement von BAL? Stolz als Folge von Trostlosigkeit und Bequemlichkeit! An diesem Abend erzählen sie eine Fabel, zusammengeschmiedet aus Erzählung, Tanz und Klängen – die Soundeffekte sind nicht bloß Beiwerk.
Dann gab es ein Unglück, die Milch war verseucht. Was nun? Die zwei Tänzer betreten erneut die Bühne und lachen sich in unterschiedlichen Tonlagen schlapp, bis das Lachen in Schluchzen umschlägt und sie mit Trippelschritten in unterschiedliche Richtungen ausscheren. Sie kehren mit Minibäumen zurück, die sie neu pflanzen und über die Bühne verteilt aufstellen: ein Miniaturland.
Die einstündige sinnliche Performance zeigt, dass es nur weniger Mittel bedarf, um eine Geschichte zu erzählen. Das minimalistische Bühnenbild wird mit kleinen Figuren gebaut und mir nichts, dir nichts wieder zerstört. Eine Kuh stürzt unter Schreien ab, Glockengeläute erklingt und schnaufend werden Bäume umgestellt. Ein heftiger Sturm fegt die Kühe irgendwann weg. Nur eine Kuh bleibt übrig: Mood.
Jeff – oder war es Jos? – und Josefine liebten es, ihre Kühe zu zählen. Sie liebten es, Dinge für ihr Land zu erfinden. Sie gaben auch ihren Bäumen Namen: Fritz, Franz, Antoinette ...
Freudig springen die beiden Tänzer um die Bäume, die Namen werden am Mischpult verquirlt: Peter, Priscilla, Esmeralda. Doch auch ihr Wald wird durch einen Sturm zerstört. Keine Wurzel hält ewig. Zum Glück geschehen Wunder. Und Jeff und Josefine liebten diese Wunder!
Die Gegenüberstellung von Stolz und Enttäuschung wird sukzessive aufgelöst, und es verfestigt sich der Eindruck: Im Grunde handelt es sich um zwei Seiten einer Medaille, vom Zufall abhängig. Wie beim Fußball, wo diejenigen den Stolz auf die Nation aktivieren, deren Team Tore schießt. Nach einer oder mehreren Niederlagen wird enttäuscht die am Balkon wehende Fahne eingerollt.
Auch den Wald sollten Josefine und Jeff wiederaufbauen. Was ist schon der Wald? Ein paar Bäume. Aber: Waren es kleine Seitenwinde oder Stürme? Sind es vier oder fünf Kühe gewesen, die übrigblieben? Es kommt auf die Perspektive an. Die Tänzer wechseln die Seiten und setzen zur schwungvollen Choreografie an – mit dem synchronen Tauben-Wipp als Wiedererkennungsmoment. Sie schwingen mit dem Wind, bis eine fröhliche Blaskapelle erklingt, beschwingt taumeln sie im Sturm und trotzen tanzend den Stürmen und Widrigkeiten ...
Irgendwann wird die Pferde-Fassade hochgezogen, die beiden sinken an den Bühnenrändern auf Stühle und tragen bruchstückhaft ihre Erinnerung zusammen. Was er vom 21. Mai in Erinnerung behalten habe, will Josefine von Jeff wissen. „Es war der Tag, an dem die Kühe gezählt werden sollten, aber die kleine Kuh wurde vermisst“, erinnert sich Jeff. „Weil sie nicht da war, wusste man nicht, wo beginnen ... sie hatte sich im Mund eines Pferdes versteckt.“ Was erinnerst Du vom Sturm? „Dieser Sturm war so schlimm, dass wir ihn nicht ignorieren konnten“, so Jeff. Er dachte damals: „Dies könnte das Ende sein.“ Was ist das offizielle Narrativ? Waren es 59 oder 60 Pferde? Es entbrennt ein Streit. Etwas hat sich verändert, oder haben sich nur die Leute verändert?
Am Ende kehren Jeff und Josefine zum Ursprung zurück, zu ihren Kühen und Pferden, und sind sich zumindest darüber einig, dass es wichtig ist, wenn überhaupt eine Version der Geschichte steht. Die Bühne ist in Lila getaucht, und Josefine und Jeff besingen die Kühe, Pferde und mimen noch einmal den Taubentanz.
BAL: Pride and Disappointment schließt sich kohärent an die Fake-Ballet-Dokumentation BAL (2017) an, in der Simone Mousset mit Elisabeth Schilling die Geschichte von Pionierinnen erzählte, die im letzten Jahrhundert den Tanz in Luxemburg revolutionierten. Holt und Mousset erzählen an diesem Abend eine universelle Fabel, die sich so oder anders zugetragen haben könnte. Wenngleich in keinem Moment explizite Kritik am Nation Branding geübt wird, stellen sich der Zuschauerin Fragen: Spielt es eine Rolle für das Selbstverständnis einer Nation, ob es nun 59 oder 60 Pferde gab? Was hält uns überhaupt zusammen, die Geschichte von Kühen und Pferden? Ist die verschwommene Erinnerung eine Gewähr, und wenn, für welche Erzählung?