Eigentlich gäbe es nur Missverständnisse über den Sinn seines Mandats, wenn man dem neuen 100,7-Direktor glauben müsste. Im Tageblatt-Interview vom 10. Dezember jedenfalls zeigt sich Marc Gerges durchaus überrascht wegen aller Kritiken, auf die seine neue „Vision“ des öffentlich-rechtlichen Radios stößt.1
So richtig zu verstehen vermag er die Kritiken ebenfalls nicht, da er wie jeder Reformer ja nur das Allerbeste will. Also richten sie sich wohl mehr gegen seine Person als gegen das Leitbild, für das er steht und das er wohl ohne Zufall mit der Stimme seines ministerialen Herrn teilt.
Gerges versteht sein Mandat als Leiter des Radios darin, dieses „nach vorne zu bringen“. Und was regierungsnaher Fortschritt bedeutet, dürfte wohl niemanden überraschen: Wachstum. Wachstum der Hörerzahlen, Eroberung neuer Marktanteile, heraus aus den Zwei-Prozent-Nischen, und das alles mit einer neuen Rechenschaft gegenüber den Zuhörern.
Extrembeispiele wie der Deutschlandfunk, der mit seiner calvinistisch anmutenden Austerität gerade einmal zwei Prozent der Hörerschaft anspricht, gilt es jetzt hinter sich zu lassen. France Inter hingegen, das „mit Emotionen arbeitet“ und bei dem „auch mal gelacht werden darf“, habe, so Gerges im Tageblatt, bereits RTL bei den Zuhörerquoten überholt. Und das zähle letztendlich.2
Man könne ja, so der neue Direktor ironisch, heute weder dem Verwaltungsrat noch dem Direktor trauen – Politik wird nicht erwähnt, ist aber sicher mitgemeint –, also müsse man sich dem Qualitätsanspruch messbarer Zuhörerzahlen überantworten. Ohne Zuhörer, so die einwandfreie Logik des Vordenkers, gäbe es ja auch kein Radio. Also sollte, im Umkehrschluss, das Radio von den Hörern bestimmt werden?
Ganz so basisdemokratisch und revolutionär sollte die Vision nun auch nicht verstanden werden. Denn immerhin bestand eine der ersten offiziellen Entscheidungen Marc Gerges’ genau darin, das „Fräie Mikro“ abzuschaffen, das einer breiten Öffentlichkeit eine Stimme gab. Im Grunde kann man dem Volk dann doch nicht ganz so vertrauen, wie es scheinen mag: Da sich dort möglicherweise „Witzbolde“ finden könnten, die unerwünschten Meinungen ausdrücken, bedarf die Stimme des Volkes eines Regelwerks, das es dem Direktor erlaubt, einzugreifen und die Sachen zu richten. Vertrauen in Zahlen ist gut, Kontrolle über öffentliche Meinungen besser.
Auch deshalb scheint es dem Visionär noch verfrüht, schon „von Kommerz zu reden“. Die abgrundtiefe Zahlennische, in der sich das Staatsradio allem Anschein nach heute befindet, muss erst mit Liedern, Lachern und Emotionen aus seiner volksfernen Spaß-Askese herausgehoben werden, um die Frage des Kommerzes auch nur zu erwähnen. Massenkultur – das wäre die neue Maßgabe der Öffentlichkeit – ist, wenn man trotzdem lacht.
Bei sechs Millionen Euro Budget und sinkenden Zuhörerzahlen muss jeder verantwortungsvolle Direktor eines öffentlichen Radios zwangsläufig eingreifen. Nicht dass es sich hier um eine Form der Investitionslogik handle. Marc Gerges’ Frage setzt tiefer an, und zwar bei einer hypothetischen politischen Zukunft: Irgendwann einmal könnte ein opportunistischer Politiker, „egal welche Regierung“, sich dieses staatlichen Verlustgeschäfts bedienen, um das Radio abzuschaffen. So aber denkt der Mann mit Zukunftsvision nicht: „Lasst uns etwas tun.“ Lasst uns, in vorauseilender Anpassung an das Argument der ausbleibenden Investitionsrendite, die drohende Zwei-Prozent-Zuhörer-Falle mit wachsender Einschaltquote abwehren.
Hier gibt es dann auch einen glücklichen Zusammenschluss der Fragen von Qualität und öffentlicher Verantwortung. Ein Radio muss seinen Zuhörern Rechenschaft ablegen, um nicht in solipsitisch-elitistischen „Dogmatismus“ zu verfallen, „in dem ich immer und alleinig recht habe“. Recht hat in letzter Instanz die Zuhörerschaft, und die Zuhörerschaft will Qualität, aber bitte mit Lachern und Liedchen. Das geht, so der Direktor, sogar „ohne seine Seele zu verkaufen“. Keine zu langen Journale, keine freie Meinungsäußerung für Witzbolde, keine zu kritischen oder politischen Aussagen, sondern ein Flachhalten der Bälle, damit ein verkaufsträchtiges Angebot für die angenommene Nachfrage garantiert werden kann.
Ein willkürlicher Verdreher, der Böses dabei hört! Marc Gerges versichert, dass er trotz allen diesen Aussagen, die wohl nicht zufällig der Affirmation einer reifizierten Kulturindustrie detailgerecht entsprechen, „immer überzeugter Verfechter des Werts öffentlicher Einrichtungen gewesen“ sei. Auch sei er der Letzte, der einer Redaktion sagen würde: „Nein, das tut ihr nicht.“
Eigentlich sagt er der Redaktion und dem Volk ja nur: Nein, tut das nicht so, nicht hier, nicht jetzt. Und das ist keine Frage des Inhalts, sondern ausschließlich eine des Formats; denn das Format macht die Musik, die Qualität und das Wachstum. Gerade weil Marc Gerges ein bedingungsloser Anhänger der Meinungsfreiheit, des kritischen und investigativen Journalismus ist, müssen überkommene Formate diesbezüglich eingefroren werden, damit ein neues Regelwerk für Qualität und Kohärenz in der Freiheit sorge.
Wie ist es also möglich, dass ein zukunftsweisender Direktor mit den besten Absichten, den höchsten ethischen und deontologischen Ansprüchen und einer gesunden Anerkennung des massentauglichen Amüsements so falsch verstanden werden kann? Wie ist es möglich, dass Leute, denen man ein neues Geschäftsmodell, „das die Leute interessiert“, mit größtem Respekt vor Öffentlichkeit und objektivem Journalismus aufoktroyiert, plötzlich böswillig Stricke drehen und gegen alle wohlgesinnte Weitsicht aufbegehren?
Könnte es etwa trotz des Unglaubens des Formatexperten sein, dass die Verächter seiner Vision nicht die neue Person, sondern die altbekannte Sache, die er durchgebracht sehen will, anfechten?
Was also, wenn überhaupt etwas, könnte falsch sein am gutgemeinten Wachstum der Zuhörerzahlen mit Lachern und Liedchen? Eigentlich fast alles. Denn hinter der rhetorischen Nebelwand von Strohmännern, falschen Dilemmata und Selbstwidersprüchen in der Selbstdarstellung des Direktors verbirgt sich eine politische Geschichte, die die scheinbare Selbstverständlichkeit der guten Absichten als schale Mystifizierung erkennen lässt.
Wie es Pia Oppel in ihrer kurzen politischen Geschichte des „soziokulturellen Programms“ seit 1991 klar zum Ausdruck bringt3, bestand von Anfang an eine tiefe Verflechtung des „nationalen Interesses“ und der Compagnie Luxembourgeoise de Télédiffusion (CLT). In bester Public-private-Partnership-Manier sollte RTL seine ungünstigsten Zeitfenster luxemburgischen Zeitungen zugänglich machen und gleichzeitig von eventuellen Werbeeinnahmen profitieren. Aus der „Deckungsgleicheit“ der nationalen mit privaten Interessen lässt sich unschwer schließen, dass Journalismus und Kultur, wie sollte es denn auch anders sein, an erster Stelle als Verkaufsargumente der geschäftstragenden Werbung dienen sollen.
Was aus der Feder von Robert Garcia einmal „pluralistische Information, Bürgerpartizipa-
tion, Kultur, Bildung, „Verfeinerung der Musikkultur“, „Verbesserung des interkulturellen Klimas“ und „Diffusion der Ideen und Aktionen der sozio-kulturellen Vereinigungen“ dienen sollte, und nach Robert Krieps als Mischung zwischen „France Musique, France Culture (und) Radio bleue“ funktionieren sollte, stieß von Anfang an auf die Missgunst der DP-RTL Partner. Im wohlbekannten nationalen Konsenshabitus wurde dann auf weiteres Nachdenken darüber, wie genau ein öffentlich-rechtliches Radio zu bestimmen sei, verzichtet.
Der Verzicht auf Denken entspricht aber keineswegs einer Abwesenheit von verstockter Ideologie. Ganz im Gegenteil: Sie birgt, mit einer inhaltlich entleerten Gesetzgebung, eine Chance für listigen politischen Opportunismus, der, wie nach einem perfekt abgestimmten Regelwerk, notwendig in die gedankenlos politisierte Friedman-Ethik mündet: So wie die Konzernleitung alleine dem Profit der Anteilsbesitzer zu dienen hat, so sollen auch öffentliche Einrichtungen dem Interesse derer dienen, die während einer Legislaturperiode den „allgemeinen Willen“ vertreten.
Vor diesem Hintergrund dürfte vielleicht auch den Verfechtern von Marc Gerges’ Auflockerungen der soziokulturellen Austerität das hohle Gefallen an den unschuldigen Lachern und den harmlosen Liedchen zweifelhafter werden.
„Was an der Kulturindustrie als Fortschritt auftritt“, schrieb Adorno 1963, „[…] bleibt die Umkleidung eines Immergleichen; überall verhüllt die Abwechslung ein Skelett, an dem so wenig sich änderte wie am Profitmotiv selber, seit es über die Kultur die Vorherrschaft gewann.“4
In seinem politischen Gewand erscheint dieses immer gleiche Skelett noch klarer als das, was es beim Profitmotiv mit geschäftlicher Scheinrationalität zu verbergen vermag: als Machtbehauptung der Interessen einer Minderheit, die in personalistischer Positur sich selbst, in unverhohlener Anmaßung, als nationales Interesse versteht. Und das nicht einmal zu Unrecht. Dass die Welt betrogen sein wolle, legitimiert sich nirgends besser als in der Hoffnung, letztendlich am Profit teil zu haben. Mitlachen lohnt sich allemal: Denn wer profitieren will, muss erst von sich profitieren lassen. Mit Musik geht vieles besser.