Zum ersten Mal seit der Verfassungsrevision soll mit François Bausch ein früherer Minister vor Gericht

Der kleinstmögliche Fehler

François Bausch 2022 bei einer Pressekonferenz
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 03.10.2025

Im Sommer 2018 ist die erste DP-LSAP-Grüne-Regierung noch im Amt. François Bausch von den Grünen ist Minister für Nachhaltigkeit und Infrastrukturen, damit auch zuständig für die öffentlichen Bauten. Etienne Schneider von der LSAP ist Verteidigungsminister. Am 25. Juli 2018 bekommt Bausch Post von Schneider. Der Verteidigungsminister unterrichtet ihn über die seiner Ansicht nach „nécessité impérieuse d’entamer dans les meilleurs délais le réamenagement du dépôt de munitions de l’Armée situé à Waldhof“. Eine „rénovation et modernisation“ sei „désormais indispensable, sachant que les constructions ne répondent plus aux normes et standards les plus élémentaires en matière de sécurité“.

So steht es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, die die Ratskammer des Bezirksgerichts Luxemburg vergangene Woche bestätigte. François Bausch sowie dem früheren Generalstabschef der Armee, Alain Duschène, wird vorgeworfen, durch Fahrlässigkeit verantwortlich zu sein für die Verletzungen, die zwei Armeeangehörige am 14. Februar 2019 bei der Explosion einer Artilleriegranate aus dem Zweiten Weltkrieg im Munitionsdepot Waldhof erlitten; coups et blessures involontaires.

Ob es zum Prozess kommt, ist noch nicht sicher. Bausch und Duschène haben über ihre Anwälte gegen die Entscheidung der Ratskammer Berufung eingelegt. Darüber entscheidet die Ratskammer des Berufungsgerichts in einer nicht-öffentlichen Anhörung der beiden Beschuldigten, beziehungsweise ihrer Anwälte. Die Anhörung kann kurz sein, die ganze Prozedur aber eine Weile dauern: Das Dossier geht zunächst zum Generalstaatsanwalt. Der übergibt es einem Generalanwalt. Welcher es studiert, einen Schriftsatz anfertigt und ihn an die drei Richter der Berufungs-Ratskammer weiterleitet. Sie entscheiden, ob die Anklagen aufzuheben sind oder an die erste Instanz zur Verhandlung zurückverwiesen werden.

Dass einem ehemaligen Minister ein Strafprozess gemacht werden könnte, ist natürlich besonders spektakulär. Das gab es in Luxemburg noch nie. Es war 175 Jahre lang auch nicht einfach. Die Verfassung von 1848 erhielt einen Artikel 82, der besagte: „La Chambre a le droit d’accuser les membres du Gouvernement.“ Und einen Artikel 116, der verfügte: „La Chambre aura un pouvoir discrétionnaire, pour accuser un membre du Gouvernement, et la Cour supérieure, en assemblé générale, le jugera.“ Die genaue Prozedur sollte ein Gesetz regeln, das jedoch nicht geschrieben wurde. Die Regierung sollte möglichst ungestört regieren können. Das fiel erst im April 2022 richtig auf, als die Staatsanwaltschaft dem Kammerpräsidenten die Ermittlungsakte in der Differdinger Gaardenhaischen-Affär übergab und das Parlament informierte, es liege nun in seinem „Ermessen“, Anklage gegen die damalige Umweltministerin Carole Dieschbourg (Grüne) zu erheben.

Um einer Anklage in der Kammer mit ihren politischen Implikationen zuvorzukommen, trat Dieschbourg zurück. Das Verfahren gegen sie wurde später eingestellt. Die 2023 revidierte Verfassung macht die Strafverfolgung von Minister/innen einfacher. Artikel 94 legt fest: „Les membres du Gouvernement sont pénalement responsables des actes commis par eux dans l’exercice de leur fonction.“ Auch nach dem Ausscheiden aus ihrem Amt.

Damit könnte François Bausch das erste – ehemalige – Regierungsmitglied sein, das sich nach den neuen Regeln vor einem Strafgericht verantworten muss. Sofern es zu einem Prozess kommt. Die Staatsanwaltschaft will Bausch offenbar einen kleinstmöglichen Fehler nachweisen. Einen Mangel an Voraussicht und Vorsorge, der eine Körperverletzung zur Folge hatte. Die Anklageschrift elaboriert, so ein Fehler „ne doit pas nécessairement découler de la violation d’une obligation légale ou réglementaire particulière, la norme générale s’imposant à tous“. Sodass der Fehler schon herrühren könne aus einer „atteinte, aussi légère soit-elle et quelle qu’en soit la forme, au devoir général de prudence ou de précaution, dont la loi ne définit pas le contenu“.

In anderen Worten: Am 14. Februar 2019 war etwas geschehen, und die Verantwortung dafür sei auch ganz oben zu suchen. Die Staatsanwaltschaft wirft Bausch vor, dass er das Munitionslager Waldhof nicht schließen ließ, obwohl dessen Zustand so schlecht war. Das hätte er als Verteidigungsminister anordnen können. Beginnend mit dem Brief Etienne Schneiders vom 25. Juli 2018 über Protokolle von Sitzungen mit Beamten der Bautenverwaltung bis hin zu Briefings durch den Generalstab behauptet die Anklageschrift, Bausch habe als Bautenminister der ersten blau-rot-grünen Regierung von Prob-
lemen erfahren, aus denen er als Verteidigungsminister der zweiten DP-LSAP-Grüne-Regierung hätte folgern müssen, das Lager zuzumachen.

Hätte er? Nahe liegt, dass eine solche Empfehlung von der Armee hätte kommen müssen. Auf die Frage, ob es eine gab, antwortet Bauschs Anwalt André Lutgen mit Nein. Die Staatsanwaltschaft behauptet ebenfalls nicht, dass jemand Bausch dazu geraten habe. Etienne Schneiders Brief über die dringend notwendige Renovierung beantwortete er laut Anklageschrift mit der Bitte, ihm auf dem Dienstweg mitzuteilen, welches „Programm“ zur Renovierung der damalige Verteidigungsminister sich vorstellte. Wenn die Anklageschrift Sitzungen und Treffen erwähnt, vor allem auf Beamtenebene, ist von dringenden Arbeiten die Rede. Auf die Entscheidung zur Schließung hätte Bausch demnach von selber kommen sollen.

Man kann durchaus annehmen, dass er auf Schneiders Brief hin tätig wurde. Den Gesetzentwurf zur Finanzierung der Renovierung des Munitionsdepots mit 81,5 Millionen Euro reichte er als Bautenminister am 18. April 2023 im Parlament ein. Der Motivenbericht zum Text erwähnt, die Planungen für ein neues Lager hätten 2018 begonnen. Sie seien Teil einer größeren Modernisierungsaktion der militärischen Infrastrukturen, „dont une grande partie se trouve dans un état vétuste“. Aufgezählt werden neben der Renovierung in Waldhof das „vaste programme de réhabilitation et d’extension de la caserne Grand-Duc Jean au Herrenberg“ sowie die Renovierung des Schießstands Bleesdall. Die Kaserne in Diekirch war offenbar prioritär. Das Finanzierungsgesetz dazu wurde im Sommer 2018 verabschiedet, die Bauarbeiten begannen 2022. Dem Finanzierungsgesetz für Waldhof stimmte die Kammer am 15. Mai 2024 unter der neuen Mehrheit zu. François Bauschs Nachfolgerin Yuriko Backes (DP) erwähnte in der Kammersitzung, Waldhof stehe auch im Koalitionsvertrag von CSV und DP. Planung, Gesetzgebung und Budgetierung brauchen ihre Zeit.

Vielleicht aber ist all das nicht relevant, wenn es um die Ahndung eines kleinstmöglichen Fehlers geht, der einen Körperschaden zur Folge gehabt haben soll. Dieses Prinzip ist im Strafrecht nicht neu. Betriebschefs haften, wenn sie Unachtsamkeiten ihrer Arbeiter nicht vorhergesehen und Maßnahmen zur Prävention ergriffen haben. Oder man denke an die Hepatitis-Affär 1998 in der damaligen Clinique Sainte-Élisabeth, die elf Jahre später vor dem Bezirksgericht Luxemburg zur Verhandlung kam. Ein Krankenpfleger hatte drei Patienten durch eine Spritzennadel vorsätzlich mit dem Hepatitis-Virus infiziert. Verurteilt wurden 2009 auch die Verwaltungsräte des Krankenhauses. Sie hätten, so das Gericht, kontrollieren müssen, ob die Klinikdirektion die nötigen Schritte ergriffen hatte, um so einen Vorfall zu verhindern.

Bauschs Anwalt André Lutgen bestreitet einen Kausalzusammenhang zwischen den Gebäuden in Waldhof und der Explosion im Februar 2019. „Es gibt keinen. Null.“ Falls man nicht nur behaupten wolle, das Unglück hätte sich nicht ereignet, wenn das Munitionslager geschlossen worden wäre, müsse man auf den Hergang des Unglücks schauen. Tödlich verletzt wurden dabei die beiden Unteroffiziere des Service de déminage de l’armée luxembourgeoise (Sedal), die mit der Granate hantierten. Schwer verletzt wurden zwei Armeeangehörige, die sich zufällig in dem Hangar aufhielten. Lutgen fragt: „Gab es einen Sicherheitsperimeter?“ Welcher verhindert hätte, dass jemand, der dort nichts zu suchen hatte, den Raum betreten konnte?

Darum scheint es in der Anklage nicht zu gehen. Oder nur insofern, als der Hangar, in dem die beiden bei der Explosion getöteten Sedal-Unteroffiziere mit der rund 80 Jahre alten US-Artilleriegranate umgingen, nicht der richtige Platz dafür gewesen sei. Was wieder zu dem überhaupt mangelhaften Depot Waldhof hinführt, das Bausch nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hätte schließen müssen. Dass nicht alles ordnungsgemäß zugegangen sein kann beim Umgang mit der Granate, legt die Historie der Anklage nahe: Zunächst – da betraf sie Bausch noch nicht – hatte sie auch auf fahrlässige Tötung gelautet. Dieser Punkt wurde später fallengelassen. Die beiden Sedal-Unteroffiziere hätten ihren Tod demnach selber verschuldet. Von einer Anklage zweier im Depot diensthabender Sedal-Militärs wurde abgesehen. Zivilparteien gibt es keine in dieser Affäre, wie die Pressestelle der Justiz mitteilt.

Sodass die Anklage, was Ex-Minister Bausch betrifft, sich auf die sehr hypothetische Annahme stützt, in den elf Wochen zwischen dem 5. Dezember 2018, als er Verteidigungsminister wurde, und dem 14. Februar 2019, als die Explosion geschah, hätte von ihm erwartet werden können, das Munitionsdepot zu schließen. Weil er als Bautenminister schon in der Legislaturperiode zuvor von dessen Mängeln erfahren hatte.

Wird er verurteilt, könnte daraus folgen, dass das für die öffentlichen Bauten zuständige Regierungsmitglied über den Zustand aller rund 3 500 öffentlichen Gebäude und Objekte immer genau Bescheid wissen muss. Einschätzen kann, welche Gefährdungen für Leib und Leben sich womöglich stellen könnten, und schließen lässt, was nicht umgehend renoviert oder repariert werden kann, damit die Gefährdungen ausgeschlossen sind. Praktische Probleme dürften dabei keine Rolle spielen. Wie im Fall des Depots Waldhof etwa jenes, dass vor der Schließung die Frage hätte beantwortet werden müssen, wo die Munition nicht nur der Armee, sondern auch von Polizei, Zoll, Strafvollzug sowie der Nato Support and Procurement Agency (NSPA) sonst unterzubringen wäre. Kurzfristig, konform zu allen Sicherheitsnormen und als militärisches Objekt bestmöglich vor Angriffen geschützt. Was wahrscheinlich eine richtig große Aufgabe gewesen wäre.

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Peter Feist
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