Seit Jahren fordern Frauen die Individualisierung von Rentenansprüchen. D‘Land sprach mit Ginette Jones, Delegierte des Conseil national des femmes imComité du travail féminin

„Die Zeit ist reif“

d'Lëtzebuerger Land du 03.02.2012

D’Lëtzebuerger Land: Mit „Konsternation“ hat das Comité du travail féminin die Nachricht aufgenommen, dass die Individualisierung von Rentenansprüchen in der geplanten Rentenreform kein großes Thema ist. Warum dringen Sie mit Ihrem Anliegen nicht durch?

Ginette Jones: Es kommt vor, dass die Politik die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Wir meinen, dass der Moment gekommen ist, um in punkto Individualisierung einen großen Schritt voranzukommen. Wir werden jedenfalls demnächst eigene Vorschläge vorbringen.

So neu dürften die nicht sein. Frauenorganisationen werben seit über zehn Jahren dafür, dass Frauen eigene Versicherungsansprüche aufbauen.

Der Conseil national des femmes hatte vor zehn Jahren eine Studie durchgeführt, um die Folgen individualisierter Versicherungsansprüche zu berechnen. Seit 1988, seitdem auch Männer die Hinterbliebenenrente beziehen können, hat sich die Zahl der erwerbstätigen Frauen um das 2,5-Fache erhöht. Mit der Folge, dass die Zahl der Frauen, die sich persönliche Altersrenten aufbauen, und derer, die Hinterbliebenenrenten bekommen, angleichen. Das zeigt: Der Trend zur Eigenvorsorge ist zu unterstützen.

Jahrzehntelang galt der Mann als Familienernährer. Frauen haben vor allem als Ehefrauen oder als Hinterbliebene von der Rente ihrer Männer profitiert – etwas das mit individualisierten Versorgungsansprüchen in Frage stünde.

Vor 30 Jahren wäre es kriminell gewesen, auf individualisierte Rentenansprüche zu setzen, denn damals hatten die wenigsten Frauen ein ausreichendes eigenes Einkommen. Wäre da die Hinterbliebenenrente entfallen, hätten viele überhaupt kein Alterseinkommen gehabt. Heute ist das seltener der Fall. Immer mehr Frauen sind erwerbstätig, zahlen Sozialversicherungsbeiträge. Das spricht für die Individualisierung. Übergangsbestimmungen sollen das Zusammenspiel von Altersrente und Hinterbliebenenrente regeln. Für Härtefälle müssen selbstverständlich Lösungen her.

Jede fünfte Frau arbeitet für den Mindestlohn. Nur auf eigene Rentenansprüche zu bauen, würde für viele eine niedrige Alterssicherung bedeuten.

Das ist es, was ich mit Härtefällen meine, die die Politik im Blick haben muss. Es muss auch in Zukunft die Möglichkeit geben, innerhalb einer Partnerschaft derlei Ungleichheiten auszugleichen. Von den Frauen, die nur den Mindestlohn verdienen, arbeiten drei Viertel ganztags. Für sie sind Übergangsbestimmungen und zudem Antikumulbestimmungen vorzusehen, die es zum Teil auch schon gibt.

Um geschiedene Frauen vor der Altersarmut zu bewahren, wird ein weiteres Modell diskutiert: das Rentensplitting, bei dem die Rentenansprüche beider Partner im Falle einer Scheidung geteilt würden. Sie standen dem Vorschlag stets skeptisch gegenüber. Warum?

Beide Konzepte – Splitting und Individualisierung – bauen auf völlig unterschiedlichen Prämissen auf. Splitting bedeutet, nach hinten zu schauen: Es gilt für jene verheiratete Frauen, die keine Gelegenheit hatten, zu arbeiten und sich eigene Rentenansprüche aufzubauen, weil sie beispielsweise die gemeinsamen Kinder erzogen haben. Individualisierung dagegen schaut nach vorne: Jeder und jede ist angehalten, eigene Rentenansprüche aufzubauen und so sein eigenes Leben abzusichern. Wir vom CNFL sind für die Individualisierung. Das Splitting kann Sinn für die zuvor genannten Frauen machen, dann aber bitte fest in die Sozialversicherung integriert, damit es nicht zum Verhandlungsgegenstand vor Gericht oder streitbaren Anwälten wird.

Individualisierte Rentenansprüche bedeuten eine hohe Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt. Der bringt für Frauen aber strukturelle Nachteile, wie niedrigere Löhne, Teilzeitarbeit et cetera.

Unser System beweist, dass sich über Erwerbsarbeit ein leistungsfähiges Sozialsystem aufbauen lässt, das die gesamte Gesellschaft einbezieht, weil Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Staat miteinander verhandeln müssen. Richtig ist, dass die Wirkungen positiv sind, solange ein Mensch Arbeit hat. Har er oder sie keine oder ist sie schlecht bezahlt, kann es zu Problemen kommen. Aber Arbeit bleibt ein wichtiger Faktor in unserem Leben, nicht nur finanziell, sondern auch aus Gründen der Identität. Deshalb plädiere ich dafür, das System grundsätzlich zu behalten und da, wo nötig, Sicherheiten einzubauen, um Prekarisierungstendenzen aufzufangen.

Welche zum Beispiel?

Gescheit finde ich die Regelung, dass Menschen, die Angehörige oder andere Menschen pflegen, während dieser Zeit rentenversichert sind, anstatt ihnen bloß einen Scheck in die Hand zu drücken. Dasselbe gilt für die Betreuung etwa bei Tageseltern.

Mit dem Argument verteidigt Premier Jean-Claude Juncker die Mammerent, die Erziehungspauschale.

Bei der Mammerent darf man die Entstehungsgeschichte nicht vergessen. Um sie zu finanzieren, wurden Beiträge der Babyjahre genommen, es ist eine versicherungsfremde Leistung. Früher wurde das Rentenklau genannt. Die Mammerent war ein politisch motiviertes Geschenk, das keiner Forderung der Sozialpartner entsprach. Immerhin: Mit der Reform werden Frauen ermutigt, eigene Rentenansprüche aufzubauen, dann erübrigt sich irgendwann der Forfait d’éducation. Das geht aber nur, wenn die Weiterversicherung auch während Erwerbspausen verpflichtend wird.

Pflege und Betreuung sind Tätigkeiten, die vorrangig Frauen leisten. Sie werden oft als „Frauenzeiten“ bezeichnet, die es anzurechnen gilt. Damit werden Geschlechterrollen festgezurrt. Müsste die Politik nicht stärker an die Männer appellieren und Teilzeitarbeit auch für sie attraktiv machen?

Das ist eine Möglichkeit. Die nordischen Länder haben vorgemacht, dass Kinder zu haben oder Alte zu pflegen, nicht automatisch mit einer Reduzierung der Erwerbsarbeit einhergehen muss, sondern Kinderbetreuung und Vollerwerbsarbeit miteinander vereinbart werden können. Die andere Sichtweise ist eher kontinentaleuropäisch und auch in Luxemburg verbreitet. Man darf aber nicht vergessen, dass durch professionelle Betreuung neue Arbeitsplätze entstehen.

Trotzdem: Müssten nicht etwa Gewerkschaften das Thema Teilzeitarbeit viel stärker betonen?

Absolut. Ich verstehe, dass Gewerkschaften dies eine ganz Zeit lang ignoriert und die 40-Stunden-Woche verteidigt haben. Aber Teilzeitarbeit und ihre Folgen sind ein Thema, ebenso wie die Schwarzarbeit. Ich bin überzeugt, dass viele Teilzeit arbeitende Frauen noch nebenher Geld verdienen – was im Hinblick auf ihre Altersversorgung Unsinn ist. 73 Prozent der Frauen und 93,8 Männer arbeiten über 120 Stunden monatlich. 6,3 Prozent der Frauen arbeiten weniger als 64 Stunden. Sie bezahlen wohl Beiträge in die Rentenkasse ein, haben aber nichts davon, weil die Arbeitszeit nicht als Versicherungszeit anerkannt wird. Diese Frauen muss man unbedingt aufklären. Das ist absurd. Sie gehen arbeiten, ohne aber Rentenansprüche aufzubauen und müssen dann im Alter den Forfait anfragen.

Die Pensionsreform sieht als Kernstück die Verlängerung der Beitragszeiten vor. Bedeutet das für Frauen, dass sie noch später in Rente gehen werden?

Die meisten Frauen müssen heute schon 40 Jahre arbeiten, um eine Rente zu erhalten, weil sie entweder nicht in den Branchen arbeiten, in denen der Vorruhestand überhaupt möglich ist. Oder weil sie mit 57 Jahren noch keine 40 Versicherungsjahre haben. Männer gehen heute durchschnittlich mit 60,7 Jahren in Rente, während bei Frauen das Eintrittsalter bei 62 Jahren liegt. Das heißt, sie müssen heute schon länger arbeiten, um eine gute Rente zu bekommen.

Das ist nicht die einzige Änderung. Auch der Pauschalsteigerungssatz, Majoration forfaitaire, soll geändert werden.

Das ist eine alte Forderung des Frauendokumentations- und -informationszentrums Cid-femmes. Solange Frauen nicht mehr verdienen, soll dieser Nachteil dadurch ausgeglichen werden, dass der Sockelbetrag erhöht würde. Das ist nun geplant und eine gute Sache. Das wäre für Frauen, die den Mindestlohn verdienen, ein Minigeschenk. Die andere Frage ist, was grundsätzlich davon zu halten ist, dass Menschen für ihren Ruhestand länger arbeiten müssen. Der CNFL hat dazu noch keine Position, wird sich allerdings in nächster Zeit dazu äußern.

Böse Zungen sagen, niedrigere Frauenrenten würden ausgeglichen durch die höhere Lebenserwartung von Frauen.

Das müsste man einmal durchrechnen, ist mathematisch aber eher unwahrscheinlich angesichts der bestehenden Lohndifferenzen. Abgesehen davon, baut unser Sozialversicherungssystem auf dem Prinzip der sozialen Kohäsion und der Solidarität auf. Ich bin dagegen, den einen gegen den anderen auszuspielen – Alt gegen Jung oder Frauen gegen Männer. Das ist ein gefährliches Spiel.

Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass Arbeitnehmer länger arbeiten sollen, um die gleiche Rente zu bekommen?

Wenn Menschen älter werden und länger eine Rente bekommen, muss man auch die Frage der Finanzierung stellen. Im Prinzip kann im neuen System jeder selbst wählen, wann er oder sie in Rente gehen will. Wichtig ist, dass Frauen Rentenansprüche aufbauen können, die es ihnen auch erlauben, diese Wahl zu treffen.

Eine andere Frage ist die der Generationengerechtigkeit: Unsere Gesellschaft wird immer älter, die Last für die Jungen, die arbeiten gehen, damit größer. Ist unser Modell auch in Zukunft tragfähig, zumal die Renten bislang nur eine Richtung kannten: nach oben?

Auch das ist zu diskutieren. Müssen Renten stets nach oben angepasst werden. Warum den Betrag nicht nehmen und investieren? Der Soziologe Gösta Esping-Andersen warnte schon vor Jahren davor, alles über Geldtransfers abzuwickeln, und hat gefordert, stattdessen mehr in Infrastrukturen und Dienste zu investieren. Das schafft Arbeitsplätze, die wiederum Steuern und Geld für die Sozialversicherung bringen.

Die Regierung betont, die längeren Beitragszeiten sollen an einen Senioren-Beschäftigungspakt gebunden werden. Kritiker wenden ein, schon jetzt seien viele ältere Arbeitnehmer arbeitslos.

Ich denke, es gibt Arbeit, und meine sogar, dass Arbeit im Alter, unter angepassten Bedingungen, bereichernd sein kann.

Im aktuellen System ist die Altersarmut eher ein Randphänomen. Allerdings wächst die Zahl der Alleinerziehenden, und die Kinderarmut steigt ebenfalls. Kommt da eine neue Altersarmut auf die Frauen zu?

Die meisten Eltern, die allein erziehen und Geld vom Fonds national de la solidarité bekommen, weil sie nicht arbeiten gehen, sind Frauen. Ihre Absicherung ist nicht zuletzt eine familienpolitische Frage. Unser Familienrecht basiert auf dem Code napoléon und ist nicht mehr zeitgemäß, auch wenn hier und da ein wenig gebastelt wird. Ich bin für einen Paradigmenwechsel: Statt beispielsweise im Scheidungsfall die Situation der Frau ins Auge zu nehmen, warum nicht die Rechte des Kindes in den Fokus stellen, wie es die UN-Kinderrechtskonvention verlangt? Dann würde die Verantwortung beiden Partnern je zur Hälfte obliegen. Im Streitfall wäre das Recht des Kindes durchzusetzen.

Wie realistisch ist das? Die Politik kommt ja nicht einmal bei der Scheidungsreform vom Fleck.

Vor kurzem hat sich Paul-Henri Meyers (Abgeordneter der CSV, die Redaktion) in einem Artikel in Ihrer Zeitung ähnlich geäußert. Parteiübergreifend gibt es Leute, die für eine Trennung von Familienpolitik und Sozialver[-]sicherung sind. Auch die Jugend ist eher bereit und empfindet es als normal, dass man vorsorgt und die Rente nicht gratis vom Staat bekommt. Ich bin überzeugt, dass die Zeit reif ist für die Individualisierung.

Es gibt Modelle der Individualisierung, die sehen diese ergänzt durch private Zusatzversicherungen.

Die öffentliche Rentenversicherung hat ihre Leistungsfähigkeit bewiesen – was die privaten noch müssen, vor allem wenn man bedenkt, was in den vergangenen Krisenjahren geschehen ist. Eine private Altersvorsorge ist noch immer eine riskante Versicherung.

Ines Kurschat
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