ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Staatsgewalt

d'Lëtzebuerger Land du 08.11.2024

Vor 40 Jahren begann die brutale Umverteilung von unten nach oben, die Endschlacht im Kalten Krieg. Dazu bedurfte es resoluter Staatsgewalt. In Italien, Deutschland, Frankreich, Belgien fanden Terrorkampagnen statt. Sie schüchterten Gesellschaften ein, die seit ’68 permissiver waren. Manchmal wurden staatliche Sicherheitsapparate als Strippenzieher enttarnt.

Hierzulande wurden 1984 bis 1986 zwanzig Bombenanschläge verübt. Im Tripartite-Land war der Klassenkampf gedämpfter: Die Bombenanschläge waren weniger blutig. Sie waren gegen Immobilien gerichtet, gegen den Staat. Sie durften nicht Terrorismus genannt werden. Die Aufklärung wurde 20 Jahre lang sabotiert. Von Gendarmerie, Polizei, Geheimdienst, Justiz, Justizministern.

Die Justiz ist nicht gewählt. Sie ist auf Vertrauen angewiesen. Damit ihre Urteile akzeptiert werden. Sie geriet in Konflikt mit der Staatsräson. Sie fürchtete um ihre Glaubwürdigkeit. „Fänkt fir d’éischt emol de Bommeleeër!“ Pöbelten Autofahrer bei Polizeikontrollen.

Nach 30 Jahren begann doch noch ein Prozess. Die Justiz klagte zwei Gendarmen der Brigade mobile an. Sie wollte mit kleinen Fischen größere ködern. Sie fischte 175 Sitzungen lang. Dann drehte der Prozess im Kreis, wurde abgebrochen. Um weiter zu ermitteln. Um auf das Ableben der Verdächtigen zu warten.

Der 24. Juli 2019 war ein Mittwoch. Er war der Tag, an dem die Justiz der Wahrheit so nahekam, wie nie zuvor. Wie vielleicht nie mehr. Die Staatsanwaltschaft stützte sich auf 103 neue Ermittlungsberichte. Sie kündigte an: „Cinq anciens dirigeants de la Gendarmerie grand-ducale ont été mis en cause comme co-auteur/complice des attentats.“ Die Terrorkampagne „n’a été rendue possible que grâce à leur protection, leur conseil et leur direction“. Die Staatsanwaltschaft erklärte unverblümt: Der staatliche Sicherheitsapparat steckte hinter der Terrorwelle der Achtzigerjahre.

Doch die Strafprozessordnung verlangt individuelle Schuldzuweisung. Seit 40 Jahren halten alle dicht. Die Staatsanwaltschaft wollte den Ex-Kommandanten der Brigade mobile anklagen. Der Untersuchungsrichter war von Anfang an dagegen. Niemand fängt Arsène Lupin.

Nun rückt die Wahrheit wieder in weite Ferne. Erste Instanz: Die Ratskammer des Bezirksgerichts lehnt die Beschuldigung der ehemaligen Gendarmeriespitze als „co-auteur/complice“ ab (21.2.2024). Sie wirft ihr nur noch Justizbehinderung und Falschaussage vor.

Zweite Instanz: Vergangene Woche strich die Ratskammer des Berufungsgerichts auch den Vorwurf der Justizbehinderung (28.10.2024). The rest is memory lapse.

Die Justiz zeigte ihre Unabhängigkeit. Die Staatsräson setzt sich wieder durch. Vielleicht beginnt der Prozess einmal mit neuen Richterinnen, neuen Anwälten von vorn. Vielleicht ist es nicht mehr wichtig.

Die brutale Umverteilung geht weiter. Der Kalte Krieg ist wieder aufgeflammt. 9/11, Klimaveränderung, Covid schüchterten die europäischen Gesellschaften ein. Die Staatsgewalt braucht keinen verdeckte Sukkurs mehr. Die dümmsten Kälber wählen ihrer Metzger selber: Sie wählen zu zehn, zu 20 Prozent autoritär bis faschistisch. Nationalismus und Rassismus ersetzen Booby Traps und Luxite.

In den Nachbarländern, im Europaparlament entstehen neue Allianzen: Konservative verbünden sich mit Rechtsradikalen. Um unbeschadet des Ukrainekriegs, der Handelskriege, der Erderwärmung die Wettbewerbsfähigkeit der Renditen zu sichern. Gegen die Gewerkschaften, die Eingewanderten, die Besitzlosen.

Nicht überall sind Rechtsradikale an der Macht. Dann regieren sie mit aus der zweiten Reihe. Die ADR braucht keinen Polizeiminister. Die CSV stellt ihr einen zur Verfügung. Deshalb braucht der Polizeiminister keinen Bombenleger.

Romain Hilgert
© 2024 d’Lëtzebuerger Land