Mit dem Ende des Herbstes verlieren die Blätter ihre prächtigen Farben und sich bald selbst im Wind. Wer als Spaziergänger Wege durch den Wald und über Friedhöfe sucht, findet ruhige Momente: Knirschende Pfade, dunkle Nadelbäume, dazwischen Steinplatten, Kreuze. Blumen, und außer Vögeln niemand. Für Trauernde ein Gedenkort, erzählt jeder Name auf jedem Grab ein ganzes Leben – gefasst in einem Bindestrich zwischen zwei Zahlen; einer für den ersten und einer für den letzten Atemzug. Auch die Gräber selbst tragen Gesichter: Spuren von Religionen, von Herkunft und Zugehörigkeit der Begrabenen. Ihre Verzierungen zeigen Leben und Tod. Das Material, das ihre Struktur vorgibt, trägt den Charakter ihrer Umgebung. Sie sind gezeichnet von Verwitterung oder generationen-alter Pflege.
Von den Totenkulten im luxemburgischen Raum erzählt der umfassende mehrsprachige Sammelband Ewige Ruhe? in einem Panorama, das den historischen Wandel und die kulturelle Vielfalt des Landes gebührend wiederspiegelt. Zu weitgefassteren Oberthemen, wie der Grabkunst, der Darstellung des Todes im Bild oder in der Literatur, rechtlichen Fragen (z. B. aufgrund konfessioneller Unterschiede), finden sich hier wissenschaftliche Beiträge mit wertvollen historischen Dokumenten.
Die Formate und Betrachtungsweisen des Themas sind vielfältig. Portugiesische Bestattungsunternehmer werden befragt, der mündliche Bericht des Leichenbestatters Laurent Lamesch einbezogen, Friedhofsregister konsultiert. Fast alle verfügbaren Materialien und Medien werden gelesen und unter die Lupe genommen: der Stein von Grabsteinen vom 17. bis 21. Jahrhundert, architektonische Entwürfe, die Struktur von Soldatenfriedhöfen, Melderegister, die ersten offiziellen Filmaufnahmen einer Bestattung sowie historische Totenfotografien. Dabei treten auch Aspekte hinter der Bestattung als kulturellem Akt hervor, die dem Friedhofsgänger nach der Lektüre deutlicher ins Auge fallen werden. Friedhöfe verändern sich. Gräber überwachsen, neue kommen dazu. Namen werden unlesbar, andere eingemeißelt. Menschen gehen vorbei, in sich gekehrt wie Schneckenhäuser.
Insbesondere identitätspolitische Fragen sind im vorliegenden Sammelband dominant: konfessionelle und kulturelle Eigentümlichkeiten auf den Friedhöfen; die Geschichte, die man an ihnen ablesen kann. Der fundierte Blick auf Emigrations- und Immigrationskulturen untersucht Grabsteine und Formen der Trauer um Verstorbene, die Anzeichen kulturellen Wandels oder von Integration. So widmet sich der Beitrag von Jean Ensch der Gestaltung der Grabsteine von (Nachfahren) luxemburgischer Emigranten in Nordamerika. Auch in Luxemburg zeichnen sich „Trends“ auf den Friedhöfen ab: Man findet die ersten Grabsteine portugiesisch-kapverdianischer Bewohner Luxemburgs, 16 Prozent der gegenwärtigen Bevölkerung des Landes. Anhand einer kürzlich durchgeführten umfassenden Vergleichsstudie zur Bindung von Migranten an ihren Lebensraum und zu ihrer sozialen Einbettung im Alter analysiert der spannende Beitrag von Elisabeth Boesen Flowers and Stones diese Begräbniskulturen. Grabsteine sagen, dass man geblieben ist. Italienische und russische Traditionen und Friedhöfe in Luxemburg, jüdische und muslimische Kulturen werden historisch und gegenwartspolitisch betrachtet; ihre Symbole, Schriften und Formen beschrieben.
Das weitreichende Spektrum ist aber auch eine Herausforderung für den großformatigen Sammelband. Wandel, Trends und Stile wollen detailgenau betrachtet werden, einige Beiträge hingegen sind zu kurz, um mehr als nur einen Einblick in ihren Gegenstand zu bieten. Neugierig machen sie alle. Die Analyse gegenwärtiger Bestattungstraditionen, von Feiertagen und Zeremonien ist eher spärlich, die Beiträge zur literarischen Darstellung des Todes dünn gesät. Die zahlreichen Fotografien sind eine Bereicherung. Die Beiträge scheinen sich zudem gegenseitig befruchtet zu haben und verknüpfen verschiedene Disziplinen gewinnbringend. Norbert Quintus‘ Totenschädel und Lorbeerkränze. Grabkreuze in Luxemburg zwischen 1580 und 1900 setzt kunstvoll externe Faktoren, Geografie und Geologie in Beziehung zu den luxemburgischen Grabkreuzen, ihren Formen, den Erdschichten und tradierten Praxen. Besondere Erwähnung verdient zudem der Beitrag von Michel Margue zur Geschichte der Umbettung der Gebeine Johann des Blinden als identitätsstärkenden Akt.
Der Sammelband selbst beginnt mit einem Nachruf: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Grabkulturen ist zugleich auch eine sehr persönliche, private, denn sie berührt das eigene Leben und Sterben. Es ist das Faszinosum dessen, was von uns bleiben wird. Fassbar gewordene Grabstätten. Gedenksteine und Namen, auf denen sich im Frühling das erste Grün zeigen wird.