Rund ein Jahr nach dem Amtsantritt der CSV-DP-Regierung haben fast sämtliche anfänglich geäußerten Befürchtungen sich bestätigt. Eine kritische Analyse

„Ich wollte eigentlich für Friedrich Merz testen“

Luc Frieden vor zwei Wochen im Parlament
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 08.11.2024

Am 15. Oktober, rund ein Jahr nach seinem „Wahlgewinn“ und elf Monate nach seiner Vereidigung zum Premierminister, wurde Luc Frieden (CSV) von der christdemokratischen Mittelstands- und Wirtschaftsunion im Allianz Forum in Berlin mit dem Deutschen Mittelstandspreis in der Kategorie Politik ausgezeichnet. Die Jury würdigte insbesondere sein „entschlossenes Eintreten für die Soziale Marktwirtschaft sowie seinen Einsatz als Brückenbauer in Europa“. „Die Wettbewerbsfähigkeit in Europa, die Arbeitsplätze, das ist das, was wir jetzt auch von der neuen Kommission erwarten müssen und da haben wir in Luc Frieden einen engen Verbündeten“, sagte der frühere (erfolglose) Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, in seiner Laudatio. Er habe es persönlich gut gefunden, dass Frieden das Gespräch mit Viktor Orbán gesucht habe, denn in der EU werde jeder gebraucht – auch Orbán, Meloni und die „schwierige niederländische Regierung“.

Über Laschets Vergleich mit dem amtierenden CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, der wie Frieden dem wirtschaftsliberalen Flügel seiner Partei angehört und sich 2009 ebenfalls vorübergehend aus der aktiven Politik zurückgezogen hatte, um eine Karriere in der Finanzindustrie zu verfolgen, freute sich der Premierminister: „Ich wollte eigentlich dieses für Friedrich Merz testen, deshalb habe ich mir gedacht, nach der Privatwirtschaft probierst du, ob es möglich ist an die Spitze der Regierung zu kommen. Das hat geklappt“, erzählte Frieden stolz und sprach über seine Erfahrungen als Geschäftsanwalt, Berater der Deutschen Bank, Präsident der BIL und der Handelskammer: „Ich denke, dass die Wirtschaft etwas effizienter ist als der Demokratiebetrieb, etwas schneller, das Konzept der Wettbewerbsfähigkeit sieht man viel mehr in der Wirtschaft als in der Politik, und ich wollte diese Dinge eigentlich mitnehmen, wieder in die Politik.“ In seiner Zeit in der Wirtschaft habe er gesehen, „dass wir eigentlich in der Politik überregulieren“, die „Ausführungsbestimmungen einiger Gesetze“ so komplex geworden seien, dass das für die Unternehmen sehr teuer sei, und überprüft werden müsse, ob all diese Gesetze, auch europäisch, wirklich ihre Ziele erreichen. Er wolle den Wettbewerb wieder nach vorne bringen, vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen, den europäischen Binnenmarkt vertiefen, die Steuerpolitik und das Arbeitsrecht an die Zeit anpassen, verkündete Luc Frieden in Berlin.

Schon bevor das Koalitionsabkommen veröffentlicht und die Regierung am 17. November 2023 vereidigt wurde, hatte der damalige Noch-Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP) CSV und DP vorgeworfen, „Austeritéit“ und einen „Spuercours“ umsetzen zu wollen. Nach Luc Friedens Regierungserklärung sprach die Linke von „Voodoo Economics“ und Neoliberalismus, der OGBL bemängelte das „liberale bis ultraliberale“ Regierungsprogramm. Frieden wies diese Vorwürfe zurück, das Programm sei wirtschaftsfreundlich, doch zugleich sozial gerecht, eine Spar- oder Austeritätspolitik sei nicht das Ziel der CSV-DP-Regierung.

Rund ein Jahr später haben sich viele Befürchtungen bestätigt. Einen Sparkurs im strengeren Sinn hat es zwar bislang (noch) nicht gegeben, doch bei der Austerität geht es genau genommen weniger darum, ob der Staat Geld ausgibt, sondern vielmehr, wie und für wen er es ausgibt. In dieser Hinsicht kann die politische Ausrichtung der Regierung durchaus als ordo- beziehungsweise neoliberal bezeichnet werden: Die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und die Intensivierung der Konkurrenz, deren Modus Operandi vom Staat durch Regeln und Sanktionen festgelegt wird. Aus neoliberaler Sicht besteht die Aufgabe des Staates vor allem darin, Märkte zu stärken, ohne (zu) regulierend auf sie einzuwirken. Das ließ sich in den vergangenen zwölf Monaten bei den Steuervergünstigungen und staatlichen Finanzhilfen zur Rettung des Baugewerbes und des Immobilienmarkts beobachten, die nicht darauf abzielen, Wohnen erschwinglicher zu machen, sondern die Wachstumsdynamik wiederherzustellen, die bis in die Corona-Jahre Immobilien zu einer lukrativen und sicheren Anlage für Investoren machte. Durch die geplante Ermöglichung von öffentlich-privaten Partnerschaften im erschwinglichen Wohnungsbau sollen Anleger bald auch in diesem Segment mitspielen dürfen. Laut Koalitionsvertrag will die Regierung Privatinvestoren künftig mit der Beteiligung an öffentlichen Infrastrukturprojekten einen weiteren Markt eröffnen. Die von der Regierung angekündigte administrative Vereinfachung und die Lockerung von Umweltschutzbestimmungen kommen insbesondere der Wirtschaft zugute.

Auch die Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Finanzindustrie, die laut Frieden trotz gemeinsamem Binnenmarkt in Konkurrenz zu anderen europäischen Finanzzentren steht, hat die Regierung gestärkt: Sie hat die Körperschaftssteuer gesenkt; um börsengehandelte Indexfonds (ETF) anzuziehen, setzt sie die taxe d’abonnement herab; um „Talente“ für den Finanzplatz zu rekrutieren, gestaltet sie die steuerbefreite Beteiligungsprämie am Unternehmensgewinn und die teilweise Steuerbefreiung für hochqualifizierte Beschäftigte noch attraktiver. Die angekündigte rigorose Haushaltsplanung und die Vermeidung von neuen Staatsschulden, um das AAA nicht zu gefährden, dienen ebenfalls vor allem dazu, das Vertrauen der internationalen Märkte in den Finanzplatz und in die Wirtschaft zu erhalten.

Um der Versicherungsbranche neue Märkte zu erschließen, will die Regierung das öffentliche Rentensystem schwächen, die Bürger/innen dazu bewegen, vermehrt private Altersversicherungen abzuschließen; den Unternehmen Anreize für betriebliche Zusatzrenten bieten. Die Wettbewerbsfähigkeit will sie mit der gesetzlichen Erweiterung der Sonntagsarbeit im Einzelhandel und der Flexibilisierung der Arbeitszeitorganisation insgesamt erhöhen. Selbst der Ausgleich der kalten Progression durch die Inflationsbereinigung der Steuertabelle verfolgte das vorrangige Ziel, die Kaufkraft der „Mittelschicht“ und damit die Unternehmensumsätze zu steigern.

Die Erhöhung der wirtschaftlichen Kompetitivität geht einher mit einer Aufweichung des Arbeitsrechts. Die Gewerkschaften sollen Kollektivverträge künftig nicht mehr exklusiv mit den Arbeitgebern verhandeln dürfen – auch sogenannte „neutrale“ Delegierte sollen das Recht erhalten, Tarifverträge abzuschließen, deren inhaltliche Bestimmungen zudem geschwächt werden sollen.

Der gesetzliche Rahmen aus Regeln und Sanktionen, mit denen die Regierung die Wirtschaft stärkt und die Zivilgesellschaft schwächt, wird begleitet von einer autoritären Sicherheitspolitik, die sich außenpolitisch in höheren Militärausgaben (im Rahmen der Nato-Verpflichtungen) niederschlägt und sich innenpolitisch in erster Linie gegen Arme und Besitzlose richtet. Von Letzterem zeugt nicht nur die wochenlange Diskussion um das Bettelverbot in der Stadt Luxemburg, die schließlich in Innenminister Léon Glodens (CSV) erweitertem Platzverweis und Justizministerin Elisabeth Margues (CSV) Bekundung zur Verankerung der aggressiven Bettelei im Strafgesetz mündete. Sondern auch die Verschärfung der Einwanderungsgesetze und die Erhöhung des Polizeiaufgebots, die sich bislang auf die Stadt Luxemburg und Esch/Alzette beschränkt, aber noch ausgeweitet werden soll. Das im Koalitionsabkommen angekündigte Demonstrationsgesetz wird zu weiteren repressiven Einschränkungen führen. Nicht zuletzt ist im Zuge der Caritas-Affäre und wegen Außenminister Xavier Bettels (DP) Restrukturierungsplänen des NGDO-Sektors im assoziativen Bereich eine Form der Privatisierung zu beobachten, deren Auswirkungen erst in einigen Jahren ersichtlich werden dürften.

Bei größeren Strukturreformen, die im Koalitionsabkommen lediglich vage angedeutet wurden, besteht das politische Vorgehen der CSV-DP-Regierung darin, erst einmal mit unerwarteten Ankündigungen Aufsehen zu erregen. Werden die Vorschläge von der Öffentlichkeit als Tabubruch wahrgenommen und regt sich Widerstand, rudern die jeweiligen Minister/innen wieder zurück, relativieren ihre Aussagen und bekunden, die Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung ihrer Pläne miteinzubinden. Doch die Diskussionsgrundlagen für die öffentliche Debatte haben sie mit ihren Vorstößen bereits gelegt. Diese Taktik war in den vergangenen Monaten sowohl beim Bettelverbot als auch in der Rentendebatte, in der Diskussion um die Kollektivverträge sowie etwas weniger offenkundig in anderen Politikbereichen zu beobachten.

Sozial an der marktwirtschaftlichen Politik der Regierung ist bislang lediglich das Bekenntnis zur Bekämpfung von Kinderarmut, für die DP-Familienminister Max Hahn aber noch Antworten schuldig bleibt. Zwar will CSV-Finanzminister Gilles Roth zaghafte Maßnahmen wie die Erhöhung des Steuerkredits für Alleinerziehende, die Anpassung der Berechnungsformel des Steuerklasse-Tarifs 1A und die Steuerbefreiung des Mindestlohns im Rahmen des Haushaltsgesetzes umsetzen. Eine Erhöhung des Mindestlohns, wie sie in der entsprechenden EU-Richtlinie gefordert wird, die das Parlament diesen Monat verabschieden müsste, lehnen CSV und DP aber aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit ab.

Das neoliberale Projekt der CSV-DP-Regierung will deren selbsterklärter CEO Luc Frieden auch auf EU-Ebene im europäischen Rat durchsetzen, wie er der Mittelstands- und Wirtschaftsunion vor drei Wochen in Berlin erzählte. Um der Konkurrenz aus China und den USA entgegenzutreten und Europa wirtschaftlich wieder „wenigstens so stark wie die Amerikaner“ zu machen. Darüber habe er sich lange mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von der EVP unterhalten, die Unterstützung der deutschen CDU, die ihrem Vorhaben, wieder zurück an die Macht zu gelangen, am Mittwochabend ein gutes Stück näher kam, dürfte ihm sicher sein. Vieles deutet darauf hin, dass die Lösung zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit Europas vor allem darin liegt, das autoritäre kapitalistische Modell, das sich in China in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat und sich durch die Wahl Donald Trumps auch in den USA zu etablieren droht, zu kopieren. In dieser Hinsicht willige Partner gibt es in Europa inzwischen zur Genüge, Alliierte für sein Projekt zu finden, dürfte Frieden demnach leicht fallen. Statt den Autoritären und Rechtsextremen ein soziales und ökologisches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell entgegenzusetzen, gehen die konservativen europäischen Kräfte auf sie zu, übernehmen ihr Programm. Die Entwicklung Luxemburgs zu einem neoliberalen, autoritären Staat ist eine schleichende. Sie ist in einen makroökonomischen und geopolitischen Kontext eingebettet und hat nicht erst vor einem Jahr begonnen. Doch seit dem 17. November 2023 hat sie sich deutlich beschleunigt.

Luc Laboulle
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