Der Vorwurf stürzte die Kulturanthropologie in eine Krise. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde der jungen Disziplin vorgeworfen, dem erkenntnistheoretischen Relativismus der postmodernen Philosophie als Steigbügelhalter zu dienen. Dabei war der Beginn des Kulturrelativismus revolutionär: In einer Gesellschaft, in der Schwarze und Weiße im Bus getrennt saßen, in der die Encyclopedia Britannica Schwarzen und Weißen andere Vorfahren zuschrieb, in der Eugenik an der Universität gelehrt wurde, in der Schädel vermessen wurden, um Kulturen und Körper zu hierarchisieren, zogen Ethnologen der Columbia University durch die Welt, um das Selbstverständnis des wissenschaftlichen Rassismus zu hinterfragen.
Als Begründer des Kulturrelativismus gilt Franz Boas (1858-1942), ein in Deutschland geborener US-Amerikaner jüdischen Hintergrunds. Nach einer Promotion in Meeresphysik stand für ihn eine Kehrtwende an: Er entschied sich für die Erforschung von Kulturen. Mitte der 1880er fanden erste Polarexpeditionen statt, bei denen Boas nicht nur Jagdtechniken der Inuit dokumentierte, sondern auch seine Wahrnehmungsmuster sezierte. Er ging also einer der Kardinalfragen der Kulturanthropologie nach: jener des Verhältnisses zwischen Subjektivität und Objektivität. Und er bildete daraufhin klare Vorstellungen über die Erkenntnisgrenzen der Ethnologie aus; in Science argumentierte der ehemalige Naturwissenschaftler, Ethnologen sollten nicht die Naturwissenschaft nachäffen – das sei unmöglich: Mythen, Symbole, ökonomische Systeme seien nur innerhalb ihres partikularen Kontextes erklärbar – und dies schließe den Universalismusanspruch der Naturwissenschaften aus. Außerdem sollten Ethnologen induktiv vorgehen; Theorien sollten sich am Ende einer Datenauswertung herauskristallisieren. Will heißen: Beobachtungen sollten nicht vor Forschungsbeginn ausgewählte und ideologiegetränkte Theorien bestärken – wie damals in den Sozialwissenschaften noch üblich.
Seine Schülerinnen Margaret Mead (1901-1978) und Ruth Benedict (1887-1948) sind heute ebenso über die Fachkreise hinaus bekannt wie Boas. Disziplingeschichtlich in Vergessenheit geriet hingegen Zora Neale Hurston (1891-1960), die ebenfalls zum inneren Umfeld der Pioniere gehört. In Schule der Rebellen zeichnet der Historiker Charles King in einer Mischung aus biografischen Details und Fachgeschichte das Wirken dieser frühen Ethnologen nach.
Vor allem über die Ausleuchtung der Afroamerikanerin Zora Neale Hurston lernt auch der Fachkenner Neues: Sie legte eine der ersten religionsethnologischen Forschungen zu Zombies vor und forschte in Florida in der afroamerikanischen Community, also quasi vor der Haustür, lange bevor der Wissenschaftsphilosoph Bruno Latour den Ethnologen die „Rückkehr aus den Tropen“ vorschlug.
Die Wahrheit über Zombies könne sie uns nicht mitteilen, schreibt Hurston nach ihrem Aufenthalt auf Haiti. Aber sie könne von der Begegnung mit einem Zombie berichten. In einem Krankenhaus traf sie Felicia Felix-Mentor, für die eigentlich 29 Jahre zuvor ein Totenschein ausgestellt und ein Begräbnis abgehalten wurde. Im Herbst vor der Begegnung mit der Ethnologin war Felix-Mentor nackt zu ihrem Heimatdorf gelaufen und hatte mit dem Finger auf ihren ehemaligen Wohnort zeigend behauptet, der sei ihr Eigentum gewesen. Ihr Bruder und auch ihr Ex-Mann bezeugen, dass es sich um Felicia handelt. Doch es gibt kein Zurück: Die Verhältnisse haben sich in ihrer Abwesenheit verändert – ihr Mann hat erneut geheiratet, ihr Sohn ist zu einem Erwachsenen herangereift. Auch Felicia hat sich verändert: Sie ist eine farblose Kopie ihres ehemaligen Selbst, das zudem beträchtliche Hirnschäden aufweist – und wird in eine Klinik verfrachtet.
Für die Ärzte dort steht fest, dass sie wahrscheinlich Opfer eines Vergiftungszaubers war, der einen Scheintod induzierte. Womöglich ist die lebende Tote nach ihrem Erwachen jahrelang über Land gezogen – man weiß es nicht. Hurston will ihre Geschichte rekonstruieren und das geheime Gift identifizieren, allerdings wird sie währenddessen krank. Sie fragt sich: Bin ich selbst Opfer eines faulen Zaubers geworden? Sie bricht ihre Forschungen ab und kommt zu ihrem Fazit: Die Existenz von Zombies hängt nicht von Voodoo-Gift ab, sondern davon, ob eine Gesellschaft an Zombies glaubt. Wer an Zombies glaubt, sieht Zombies und ruft Zombie-Schicksale hervor.
Magisches Denken betrachtet sie, wie auch Ruth Benedict, als universales Phänomen. Sogar das amerikanische Verständnis von Privateigentum könnte man mit diesem Konzept analysieren: den Glauben daran, dass man sein Selbst ausdehnen könne, indem man Objekte anhäuft. Und sie ist der Ansicht, die Missachtung Felicias durch die Mehrheitsgesellschaft sei der von Schwarzen in Arbeitslagern der US-Südstaaten ähnlich, wo Hurston ebenfalls Forschungen durchführte. Nur: In Haiti hatte man ein griffigeres Wort für diese sichtbare Nichtachtung er- oder gefunden.
Zora Hurstons wissenschaftliches Wirken geriet nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit. Ihr literarisches Werk hingegen wurde ab den 1970ern dank dem Bemühen von Alice Walkers gewürdigt, die Hurston als „eine der bedeutendsten ungelesenen Autorinnen Amerikas“ bezeichnete. Ihr Roman Their Eyes Were Watching God (1937) gilt heute als Klassiker der Harlem Renaissance.
Kings biografisches Strickmuster läuft dennoch nicht auf eine Reinwaschung der Anthropologie hinaus. Der Autor verneint nicht, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Mehrheit der Anthropologen davon überzeugt war, Schädelumfänge würden etwas über das Wesen von Menschengruppen aussagen – und darüber, dass die weiße „Rasse“, die vernünftigste und schönste sei und das höchste Maß an individueller Diversität erreicht habe.
Da Charles King mit seinem Buch einen biografischen Anspruch verfolgt, spart er einige knusprige Details über seine Protagonisten nicht aus: Allen voran Margaret Mead lebte ein polygames Liebesleben und heiratete dreimal, ihr letzter Ehemann war Gregory Bateson. Wichtiger Bezugspunkt blieb Zeit ihres Lebens die 14 Jahre ältere Ruth Benedict, mit der sie ebenfalls eine intime Beziehung auslebte. Mead ist bekannt für ihre Werke über Jugendliche, Gender und sexuelle Konventionen in der samoanischen Gesellschaft.
Ruth Benedict zentrales Werk ist Patterns of Culture (1934), in dem sie der Interdependenz von Werten, Ästhetiken und Sprache nachgeht. Sie ist eine der ersten Akademikerinnen, die ein umfangreiches Werk in ihrer Disziplin hinterließ. Charles King macht kein Geheimnis daraus, dass der Weg hin zur Professur für Benedict steinig war. Boas behauptete zwar bereits nach einigen Lehrjahren: „all my best students are women“ (S. 119). King jedoch geht in seinem Buch auch auf die zahlreichen gewollt missgünstigen Reviews von Veröffentlichungen von Kulturwissenschftlerinnen durch männliche Kollegen ein, die eher der Fall waren.
Erwähnt wird auch, dass die frühen Ethnologen sich mit Essays in die öffentlich-demokratische Medienlandschaft einbrachten. Boas kritisierte dabei die Nazi-Ideologie seines Geburtslandes und die Rassentheorien der USA. Im 21. Jahrhundert, in dem Veröffentlichungsmarathons in teuren Fachzeitschriften stattfinden und Forscher ihre Studien in Marketing-Neusprech erläutern, wirkt dieses Engagement der Boas-Schule wie ein Fingerzeig.
Neben Kings Buch ist vor zwei Jahren ein systematischer Rundumschlag über das Anliegen der Ethnologie erschienen. Der Religionsanthropologe Matthew Engelke publizierte Think Like an Anthropologist und räumt darin gleich an erster Stelle mit dem Vorwurf der kulturrelativistischen Beliebigkeit auf: Kulturrelativismus heiße nicht, Handlungen anderer Kulturkreise zu rechtfertigen, die man in seinem Herkunftsland verurteilen würde. Er bedeute auch nicht, dass man keine Werte verteidige oder nichts über anthropologische Konstanten aussagen könne. Kulturrelativismus heiße zunächst nicht, eigene Begriffe wie „Religion“, „Gerechtigkeit“, „Vaterschaft“ als selbst-evident zu betrachten, sondern als kontextuell koloriert. Wie ein Kulturanthropologe zu denken, bedeute überdies, Konzepte in Relation zu bringen – sie sind demnach relativ. Übrigens hat schon Boas behauptet, dass Kulturwissenschaft dort beginnt, wo menschliche Gesellschaften als Teil einer Menschheit („undivided humanity“) verstanden werden.
Boas und seine Schüler verneinen nicht, dass biologische Unterschiede zwischen Menschen existieren, doch die Varianz innerhalb einer festgelegten Gruppe ist ebenso hoch wie beispielsweise die zwischen Bewohnern Europas und der Südseeinseln – womit sie biologistische Rassentheorien als arbiträr entlarvten. Und um diverse Lebensformen rund um den Globus zu analysieren, sollte man sich primär auf die Kultur statt auf biologische Besonderheiten konzentrieren, so ihr Postulat.
Heute haben sich kulturelle und biologische Betrachtungsweisen einander angenähert. Die Kulturwissenschaften interessieren sich beispielsweise für die Ergebnisse der Kognitionswissenschaften. Umgekehrt geht man offener mit der Frage um: Wieviel Kultur steckt eigentlich in den Naturwissenschaften?
Diese Frage hatte Boas selbst bereits in seiner Physik-Dissertation gestellt. Darin wollte er bestimmen, wie stark die Lichtintensität zunehmen muss, damit Menschen eine Farbveränderung des Wassers wahrnehmen. Boas kam zu einer originellen Schlussfolgerung: Es sei hoffnungslos, ein allgemeines Gesetz der Sinnesschwellen festzulegen. Denn Wahrnehmung hänge nicht nur von physikalischen Gesetzen ab. Wann ein Beobachter eine Farbveränderung wahrnehme, sei abhängig von seinem Wahrnehmungsmuster, und dieses sei nicht gänzlich angeboren, sondern auch kulturell erlernt.