Kino

Je voudrais parler à mon père

d'Lëtzebuerger Land du 18.06.2021

Der Tod eines engen Familienmitgliedes ist eine schmerzliche Zäsur. Vor allem für die Zurückgebliebenen. In Maïwenns neuem, fünften Spielfilm ADN gibt es deren eine Menge. Drei Generationen von Kindern, Enkeln und Urenkeln finden sich um den beliebten, alternden und von Alzheimer geplagten Familienpatriarchen, der seinen Lebensabend im Altersheim verbringt. Die von Maïwenn selbst gespielte Enkelin Neige macht ihm und der ganzen Familie ein Geschenk: Mit Hilfe einer Autorenfreundin hat sie die Familiengeschichte zu Papier bringen lassen. Die Augen des senilen Greises leuchten noch einmal in einem Moment der geistigen Nicht-Umnachtung beim Anblick auf der Fotos. Er, Großvater Emir, emigrierte mitsamt Frau und Kindern in den 1950ern, wie so viele Familien damals, aus Algerien nach Frankreich. Wenige Tage nach diesem Familientreffen stirbt er. Wie wichtig Großvater Emir für die Familie war, sozusagen ein friedenstiftender Fels in der Brandung, lässt sich binnen weniger Momente feststellen. Dies wird verstärkt, sobald Fanny Ardants Figur Caroline, Tochter von Emir und Mutter von Neige, inmitten der Familie steht. Wegen allem, aber wirklich allem, wird sich bei Neige, Véronique und Co. angefaucht, gestritten und angeschrien. Wie heißt es so schön: Das französische Kino ist wie Familie. Beides sucht man sich nicht aus.

Kurz vor den Filmfestspielen von Cannes im nächsten Monat ‒ und auch, weil die belgischen und französischen Märkte endlich wieder offen sind ‒ kommen nun Filme in die Kinos, die aus der Not heraus schon letztes Jahr von Thierry Frémaux das Sélection-Cannes-Label aufgedrückt bekamen. Ein französischer Film, von einer réalisatrice inszeniert, die dem Festival nicht unbekannt ist ‒ retrospektiv kann man davon ausgehen, dass Maïwenns Film einen Slot im Wettbewerb ergattert hätte.

ADN macht auf den ersten Blick den Anschein, eine chaotische Freske über eine chaotische Familie zu zeichnen. Eine auf dem Papier französische Familie, die ihren Usprung ganz woanders hat; für Frankreich von nicht zu ignorierender Wichtigkeit. Der Film wartet mit Zutaten auf, die man aus dem französischen Kino so gut kennt wie die eigene Westentasche. Bei Maïwenn sind das Chaos und das Geschrei aber ein Stück größer, je nach Auffassung der Betrachter sogar hysterischer. Das funktionierte schon bei Maïwenns Durchbruch als Regisseurin. In Polisse ‒ auch mit ihr selbst in einer Hauptrolle ‒ wusste sie Dialogszenen ins Unermessliche hochzuschrauben. Nun agieren in ADN keine flics auf der Leinwand, aber diese Art und Weise, zu arbeiten, funktioniert auch hier. Sei es die Ardand, Marine Vacth, Caroline Chaniolleau, der junge Dylan Robert oder Maïwenn selbst: Sie alle spielen jede Szene auf Anschlag, als ob es keinen theatralen Morgen gäbe. Ob der Kissenbezug im Sarg oder die Option, Emir für die Zeremonie in traditioneller religiöser Tracht einzukleiden ‒ alles in DNA reicht, um den menschelnden Topf zum Überlaufen zu bringen. Sogar während der Begräbniszeremonie kracht es ordentlich, zum Beispiel dank Neiges Vater, gespielt vom französischen Theaterregisseur Alain Françon, der mit einer überraschend zurückhaltenden Gehässigkeit die Nerven blank werden lässt. Wer hätte bei so viel Konfliktpotenzial gedacht, dass Céline Dions Parler à mon père und Louis Garrel kurzweilig deeskalierende Faktoren sein könnten?

Reflexartig denkt man bei ADN an das schauspielerisch existenzielle Gewusel der Filme von John Cassavetes oder an Patrice Chéreaus Ceux qui m’aiment prendront le train. Maïwenn mag ihre Schauspielerkolleg/innen. Irgendwann gilt die Devise: Freies Spiel für alle! Manchmal erhält das familiäre Schlachtfeld schon fast einen pornografische Komponente im Stil von esou verschass ass MENG Famill nu elo awer net, uff! Es ist sogar ‒ vielleicht ungewollt ‒ streckenweise sehr komisch. Aber es funktioniert, wie sich Naturalismus und Überhöhung während dem Maïwennschen Melodrama versöhnen.

Schade nur, dass ADN in seiner zweiten Hälfte zum algerischen Pendant eines Donna-Leon-Romans mutiert. Erst dann wird klar, wieso keine Figuren einen dramaturgischen Bogen erhalten. Sie werden einfach fallen gelassen oder dienen nur noch der Figur von Maïwenn, die sich in den Kopf setzt, ihren algerischen Wurzeln Rechnung zu tragen ‒ bedenklicher DNA-Test und Anfrage der Staatsangehörigkeit inklusive. Die Regisseurin behauptet, ADN sei ihr introspektivster Film. Ihr dabei zuzusehen, wie sie Bücher und Youtube-Videos zum Thema Algerienkrieg verschlingt und irgendwann nach Algier pilgert, verhilft dem Zuschauer jedoch zu keinem kathartischen Moment. Auch während dem générique de fin gibt sie sich selbst den letzten Credit nach allen anderen mit et Maïwenn. Was als scheinbarer Ensemblefilm beginnt, zerfällt zu einer egomanen, selbsttherapeutischen Nabelschau.

Tom Dockal
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