Wie sich der Sonntag schleichend zu einem normalen Werktag entwickelt

Woche ohne Ende

Ein Mann blickt in eine Ladenvitrine in der Grand-Rue
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 06.12.2019

Zeitgeist Als Cactus-Chef Paul Leesch in einem Interview mit dem Land im Jahre 1979 nach einer Liberalisierung der Öffnungszeiten an Wochenenden befragt wird, war seine Antwort klar: „Verkaufsoffene Sonntage lehne ich für Cactus strikt ab.“ Das mag den Leser in der Gegenwart überraschen, lässt sich jedoch mit Blick auf den historischen Kontext einordnen. Ende der 1970-er-Jahre war Luxemburg ein erzkatholisches Land mit einer faktischen Staatsreligion. Daran änderte auch die linksliberale DP-LSAP-Koalition von Premierminister Gaston Thorn nichts, die zwischen 1974 und 1979 im Amt war. Die Woche war in sieben Tage eingeteilt. Und laut christlichem Weltbild ruhte Gott am siebten Tag von seiner Arbeit aus. Der Sonntag galt frei nach der Bibel als „ein heiliger Tag. Ein Ruhetag“, an dem es lediglich dem Pfarrer gestattet war, zu arbeiten. Alles andere war Blasphemie.

Doch es war nicht nur das katholische Weltbild, das die Sonntagsarbeit damals mit einem Tabu belegte, sondern auch der Druck der Arbeiterbewegung. Am Ende der Trente glorieuses konnte die organsierte Arbeiterbewegung in Westeuropa und damit auch in Luxemburg große Erfolge aufweisen, manche Historiker, wie etwa der bereits verstorbene Hans-Ulrich Wehler, sahen in den 1970-er-Jahren gar die Klimax der Sozialbewegung. 1970/71 war flächendeckend für alle Arbeitnehmer in Luxemburg die 40-Stunden-Woche festgelegt worden. 1975 wurde qua Gesetz die fünfte Urlaubswoche eingeführt, eine maßgebliche Arbeitszeitverkürzung. Der Trend ging also in Richtung weniger Arbeits- und mehr Freizeit. Mit anderen Worten: Der verkaufsoffene Sonntag lag nicht im Zeitgeist.

Vierzig Jahre später ist von diesem Zeitgeist nicht mehr viel geblieben. In den Wochen vor Weihnachten sind verkaufsoffene Sonntage bei Cactus und vergleichbaren Supermärkten wie Auchan, Cora, Delhaize, Match, Monoprix oder Pall Center die Regel. Aber auch kleinere Einzelhändler profitieren von den flexiblen Ladenöffnungszeiten und fahren an den Wochenenden vor Weihnachten einen Großteil ihres Umsatzes ein. Der Sonntag ist für alle ein guter Geschäftstag – Bibel hin oder her.

Dabei ist es laut Code de travail eigentlich nicht erlaubt, an Sonntagen zu arbeiten. Doch die Betonung liegt auf dem Wort eigentlich. Denn es gibt etliche Ausnahmeregelungen, um das Verbot zu umgehen. Und für manche Bereiche wie etwa den Handel stehen diese Ausnahmen bereits explizit im Gesetz. Seit 1995 können Supermärkte an Sonn- und Feiertagen ihre Türen bis 13 Uhr öffnen – Bäcker, Metzger und Kioske gar bis 18 Uhr. Tankstellen genießen noch flexiblere Öffnungszeiten. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, weitere Ausnahmeregelungen zu beantragen und die Ladenöffnungszeiten auszudehnen, um den Sonntag in einen normalen Werktag umzuwandeln. Allein 31 Gemeinden haben im vergangenen Jahr Anträge für verkaufsoffene Sonntage gestellt, wie Mittelstandsminister Lex Delles (DP) dem Land mitteilt. Denn es sind nicht die einzelnen Betriebe, die Ausnahmen beantragen, sondern Berufsverbände oder Gemeinden. Das heißt: Will ein Supermarkt in Bartringen ganztägig an einem Sonntag öffnen, muss er den Bürgermeister davon überzeugen, eine entsprechende Genehmigung für den gesamten kommunalen Handel beim Mittelstandsministerium zu beantragen. Und sofern der Antrag fristgemäß einen Monat vor Öffnung eingereicht wurde, sieht der Mittelstandsminister keine Grund, ihn nicht zu bewilligen.

Damit ist die Ausnahme zur Regel geworden, sagen sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitnehmerverbände. Doch die Sozialpartner sagen ebenfalls, dass der Status quo für sie nicht hinnehmbar ist – beide sich ein neues Gesetz wünschen. Die mitgliederstarkste Gewerkschaft des Landes, OGBL, fordert eine restriktive Handhabung der Öffnungszeiten; sie will den Geist der Sonntagsarbeit am liebsten wieder in die Flasche drücken. Die Handelsvereinigung CLC fordert hingegen eine komplette Liberalisierung: „Betriebe sollen selbst darüber entscheiden können, wann sie öffnen. Am liebsten ohne lästigen Papieraufwand“, sagt CLC-Direktor Nicolas Henckes. Und die Regierung?

Funkstille Bereits 2013 stand im Koalitionsabkommen, dass die Öffnungszeiten im Einzelhandel mit den Sozialpartnern überdacht werden sollten. Fünf Jahre später im Koalitionsabkommen von 2018 heißt es konkreter: „Die Gesetzgebung über die Öffnungszeiten wird angepasst werden, um dem Einzelhandel eine größere Flexibilität zu gewähren.“ Der Grund für diese Bejahung einer Reform ist ein Urteil, das Regierung und Parlament unter Zugzwang setzt. Die Bäckerei Berto aus Differdingen hatte 2015 erfolgreich vorm Verwaltungsgericht dagegen geklagt, dass die Bäckerei erst um 6 Uhr öffnen darf, während die benachbarte Tankstelle bereits um 5 Uhr Brötchen verkaufen konnte. Seither erhält Berto eine Ausnahmeregelung, um ebenfalls um 5 Uhr Kunden zu bedienen. Auch das Verfassungsgericht urteilte, dass das Gesetz zu den Ladenöffnungszeiten gegen das verfassungsrechtlich verankerte Gleichheitsprinzip verstößt. Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) sah das Urteil zunächst als Anlass, um eine Liberalisierung der Öffnungszeiten anzukündigen, machte alsdann jedoch einen Rückzieher und ließ das Feld unbestellt.

Nun liegt die Verantwortung bei Mittelstandsmister Lex Delles. Doch Delles hält sich bedeckt. In einem Gespräch mit dem Tageblatt im Dezember vor einem Jahr kündigte er ein neues Gesetz an – ein Jahr später bleibt es weiterhin bei der Ankündigung, einen konkreten Zeitplan geschweige denn eine inhaltliche Richtung will er nicht vorlegen. Immerhin: 2020 soll etwas passieren. Dabei hat der Minister bereits im Frühling bei den Sozialpartnern vorgefühlt und ist in Gespräche getreten. Seither herrscht jedoch Funkstile. Warum die Reform so schnell ins Stocken geriet, ist auch für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände unklar. Sowohl OGBL als auch UCL wundern sich und können nur spekulieren.

Studie Ein Grund, weshalb Delles wohl auf die Bremse drückt, sind die Ergebnisse einer Studie des Liser (Luxembourg Institute of Socio-Economic Research). Nach dem rechtsbindenden Urteil hatte Francine Closener (LSAP), damalige Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, eine Studie zu den Öffnungszeiten im Einzelhandel in Auftrag gegeben. Die Studie ist mittlerweile auf der Webseite der Regierung zugänglich, wurde bisher lediglich in einem Tageblatt-Artikel besprochen, allerdings nie vom Ministerium in der Öffentlichkeit präsentiert. Auch im Gespräch mit dem Land lässt Delles die Studie unerwähnt.

Das Ergebnis kommt dabei ungelegen für die Flexibilisierungspläne: Weder Angestellte noch Arbeitgeber haben ein Bedürfnis nach einer Liberalisierung der Arbeitszeiten. Im Gegenteil: Die große Mehrheit der Befragten ist mit der aktuellen Regelung zufrieden oder spricht sich tendenziell eher für eine restriktivere Handhabung aus. Es sind lediglich die Supermarktketten, die derzeit profitieren oder auf eine Ausweitung der Öffnungszeiten pochen, kleinere Einzelhändler hingegen fühlen sich davon eher unter Druck gesetzt. Lediglich 45 Prozent der rund 700 Unternehmen haben angegeben, ihr Geschäft an Sonn- und Feiertagen zu öffnen.

Schneeballeffekt Für die Handelsvereinigung CLC ändert die Studie jedoch nichts an ihrer Forderung. Nicolas Henckes schwebt ein skandinavisches Modell vor, wonach es keine festen Öffnungszeiten gibt, die Einzelhändler selbst darüber entscheiden können. Er bezeichnet es als nötige Anpassung an globale Tendenzen, um im Kampf gegen die Übermacht der Internetplattformen konkurrenzfähig zu bleiben. „Wir müssen dem Einzelhandel mehr Freiraum geben“, so Henckes. In sogenannten „Schlafgemeinden“ sei es doch viel sinnvoller, wenn die Händler ihre Geschäfte regelmäßig erst nach 17 Uhr öffnen könnten. Er verneint hingegeben kategorisch, dass eine Liberalisierung der Öffnungszeiten auf Kosten des Arbeitsrechts gehen wird. Sonntagszuschläge oder auch die maximalen 48 Arbeitsstunden pro Woche sollen nicht angetastet werden.

David Angel, Sekretär des OGBL-Handelssyndikats, bezweifelt das. Er spricht von einem „Schneeballeffekt“. Sprich: Sind die Öffnungszeiten einmal liberalisiert, fallen als nächstes die Errungenschaft im Arbeitsrecht. Gehälterzuschläge oder zusätzliche Urlaubstage würden in Frage gestellt. Und schließlich würden auch andere Bereiche wie etwa die Logistik nachziehen, so dass sich am Ende die gesamte Sonntagsarbeit normalisiert. „Die Arbeitgeber wollen aus dem Sonntag einen normalen Werktag machen“, so Angel.

Tatsächlich wird die Liberalisierung wohl auch gesellschaftliche Konsequenzen bewirken. Die Wochenenden gelten weiterhin als kollektive Familien- oder Freizeittage, an denen Bürger ihre sozialen Kontakte pflegen, ihrem Hobby oder kulturellen Interessen nachkommen. Auch das ehrenamtliche Vereinsleben – ob im Fußballverein, bei den Pfadfindern oder in der örtlichen Blaskapelle – ist auf die gemeinsamen Freitage am Wochenende ausgerichtet. Eine Liberalisierung droht diesen gesellschaftlichen Humus wegzufegen. Denn auch heute genießt der Sonntag noch einen außerordentlichen gesellschaftlichen Stellenwert. Es ist „ein heiliger Tag. Ein Ruhetag“ – Bibel hin oder her.

Pol Schock
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