Juno lebt auf dem Planeten Melancholia. Ihr Orbit kreist um den großen Jupiter. Der hat eine neurodegenerative Erkrankung, ist auf den Rollstuhl angewiesen und kann sich kaum mehr aus dem Haus bewegen. Auch er schreibt Romane. Romane, die Preise verliehen bekommen. Leicht ist es hier, in die Falle zu tappen und Martina Hefter ein autobiografisches Schreiben zu unterstellen, liegen die Parallelen doch auf der Hand: Sie lebt mit dem Schriftsteller Jan Kuhlbrodt (Krüppelpassion) zusammen. Auch er hat, wie Hefters Kunstfigur Jupiter, Multiple Sklerose.
Juno und Jupiter belügen die Sozialarbeiterin, die zur Einstufung ihres Pflegegrads vorbeischaut, ein bisschen – gerade so viel, wie sich als Paar untereinander: „Jupi und Juno sagten die Wahrheit, aber logen trotzdem.“
Dass Hefterss Roman den Buchpreis gewonnen hat, ist wohl dem ungewöhnlichen Genre (überwiegend Chat-Form) geschuldet, denn mit Lichtungen von Iris Wolff und Vom Norden rollt ein Donner von Markus Thielemann waren Romane für die diesjährige Shortlist nominiert, die literarisch vielleicht noch ausgefeilter sind.
An politischer Relevanz fehlte es in diesem Jahr in der Shortlist nicht. Thielemanns Roman spielt in der Lüneburger Heide und zeichnet das Leben eines Schafshirten und seiner Familie und dessen sukzessiven Realitätsverlust anlässlich des Auftauchens des Wolfes nach und schlägt einen Bogen zum (Wieder-)Erstarken völkischer Bewegungen. Iris Wolff beschreibt sprachlich brillant rückwärts die Liebesgeschichte von Kato und Lev im Rumänien von Ceausescu. Und Ronya Othmanns Roman Vierundsiebzig ist eine beeindruckende Reise zu den Ursprüngen des Massenmordes an den Jesiden durch den „Islamischen Staat“ (IS).
„Auf faszinierende Weise verbindet der Roman zermürbenden Alltag mit mythologischen Figuren und kosmischen Dimensionen, er navigiert zwischen Melancholie und Euphorie, reflektiert über Vertrauen und Täuschung“, urteilte die Jury über Hefters Roman. Der ist nicht zuletzt auch eine Selbstbefragung über das Schreiben: „Woran lässt sich messen, welche Geschichte weniger nichtig ist?“, lässt Hefter ihre Hauptfigur Juno „an einem stinknormalen Tag, an dem Junos Gefährdungslage und allgemein die in Deutschland bei null lag“, fragen.
In Hey, Guten Morgen, wie geht es Dir? geht es um Junos Fluchten aus dem Alltag. Die Künstlerin, Juno Isabella Flock, schreibt immer morgens zwischen sieben und acht im Bett, danach geht’s zum Tanzen (professionell, obwohl sie keine Diagonalen tanzen kann), ein Hoffnungsschimmer, denn sobald sie den Ballettsaal betritt, ist die Erde schön und hell.
Da sind ihre Tanz-Performances, bei denen sie sich die Frage stellt, wie lange eine Tänzerin auf der Bühne stehen kann, ohne als „alt“ wahrgenommen zu werden und lächerlich zu wirken. Da sind ihre Tätowierungen, die sie sich – fasziniert von den Farben, Mustern und Sprüchen, etwa „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ (Ingeborg Bachmann) über den Brüsten, oder „Dolce Vita“ – ständig neu stechen lässt. Und da ist die Social-Media-Welt, die sich vom Spiel aus Langeweile irgendwann in eine Sucht verwandelt. Dabei weiß sie genau, dass sich am Ende der Fake-Profile, die sie charmant anchatten, meist mittellose Männer in Entwicklungsländern befinden, Heiratsschwindler, die vermeintlich betuchte Frauen mittleren Alters in den Industrienationen anbaggern, um an Geld zu kommen.
Doch werden die Gespräche mit diesen Männern für Juno zu einer Form von Freiheit. Denn in ihnen kann sie – im Gegensatz zu ihrem Alltag – sein, wer sie will, vor allem mit Benu, ohne Konsequenzen: „Eigentlich schauspielerte sie nur dann, wenn sie nicht auf einer Bühne stand. An den normalen Tagen. Da spielte sie, ein normaler Mensch zu sein. Eine normale Juno.“ Durch die Flucht ins Internet wird sie zur Lügnerin, ein bewusster Selbstbetrug, aber wer belügt hier eigentlich wen?
„Sie redete sich ein, künstlerisch neugierig zu sein. Wer weiß, wofür es gut sein konnte, mit Benu zu sprechen. Vielleicht für das Theaterstück, das sie endlich zu schreiben anfangen wollte.“
Wer beutet hier wen aus?
Die Ich-Erzählerin Juno weiß, dass Benu ein Satellit ist, den sie irgendwann verlieren wird. „Dennoch, alles an den Chats und Calls war eigentlich falsch. Eine Verbindung, die nur auf Lügen basierte, oder besser: auf der Unwahrheit. Und aus der Unwahrheit ergab sich wieder nur Ausbeutung. […] Eine Ausbeutung rechtfertigte nicht eine andere.“
Ein netter Zeitvertreib, bei dem die Regeln des Flirtens nicht unbedingt auf der Hand liegen: „Sie wollte zuerst ein Emoji mitsenden. Das Sturzbächeweinen-Emoji. Das blaue Emoji, das zu Eis gefriert. Rotes-Monster-Emoji. Toten-Kopf-Emoji. Alien-Emoji.“
Auf die Frage des Love-Scammers Benu, ob sie noch mehr verreisen wolle, antwortet sie straight: „Mir reicht das Theater, auf der Bühne kann in an jedem Ort sein, den ich mir nur denken kann, ich kann jedes Wesen sein, eine Reisende, ein Geist, ein alter Mann, ein Alien.“
Ihre und Benus Geradlinigkeit treiben das Spiel an. Und so lassen beide es laufen ... Juno liest Bücher über Kolonialismus und über die Tricks von Love-Scammern und weiß, dass es eine der häufigsten Tricks enttarnter Scammer ist, mit den Frauen den Kontakt zu halten und Besserung zu geloben.
Hey guten Morgen, wie geht’s Dir? ist nicht nur vom Sujet her originell, er gibt – im Vergleich zu anderen nominierten Romanen – Einblicke in das prekäre Leben von Künstler/innen, die finanziell herumkrebsen und sich durchschlagen: „Sie hatte die üblichen Förderanträge gestellt […] mit ausführlicher Konzeption und Kosten- und Finanzierungsplan. Die normale Selbstausbeutung in der Darstellenden Kunst, wenn man noch nicht ganz bekannt war, und die man überwinden und zu einem etablierten Theaterkollektiv wachsen wollte, das irgendwann die mehrjährige Konzeptförderung bekam.“
Der Leipziger Schriftstellerin und Performance-Künstlerin Martina Hefter, die von je her viele ihrer Texte auch szenisch umsetzt, ist ein fesselnder Roman gelungen, der nicht zuletzt den Alltag einer Tänzerin authentisch einfängt. Ihr Zugang ist auch von der Form her originell und fällt aus dem Rahmen, ihr Schreiben unterhaltsam, witzig und reflektiert – ohne je zu ermüden.
Den Buchpreis widmete Hefter ihrem Publikum und „jenen Leuten, die nach dem Willen einer Partei“, deren Namen sie an der Stelle gar nicht nennen wollte, „aufgrund ihrer Orientierung, ihrer Hautfarbe oder einer Behinderung gar nicht in der Mitte unserer Gesellschaft stehen sollten. Dass wir wachsam sind und auch laut sein und einschreiten müssen“, so formulierte die Preisträgerin den Seitenhieb auf die AfD in ihrer Dankesrede.
Hefters Roman ist damit irgendwie das Buch der Stunde, verhandelt sie darin doch keine Luxusprobleme der Mittelschicht, sondern die eines prekären Künstlerpaares, das sich mit dem Existenzminimum, den Preis-Geldern für Bücher und Pizzazungen (oder Spinat-Schiffchen aus dem SB-Snack) durchschlägt. Von allen möglichen Anwärter/innen gebührt ihr damit die größtmögliche Sympathie.