Notizen zu Respekt und Verachtung

Die Kunst der Beleidigung

d'Lëtzebuerger Land du 12.09.2025

Ja, es ist immer wieder schön, wenn Kontrahenten sich energisch streiten und nicht vornehm auf ihre Wortwahl achten. Was wäre der Meinungsstreit ohne den Pfeffer kraftvoller Injurien? Wer sich bekämpft, trägt nicht unbedingt Samthandschuhe. Das wäre bestenfalls ein Zeichen voraus-
eilender Schwäche. Es soll ja krachen im Gebälk, die Fetzen sollen fliegen und die Emotionen hochkochen. Der verbale Ausrutscher ist dabei nur der äußere Ausdruck heftigen Widerspruchs.

Betrachten wir ein historisches Beispiel. Während der Sitzung des deutschen Bundestags vom 18. Oktober 1984 wandte sich der grüne Abgeordnete Joschka Fischer folgendermaßen an den Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen (CSU): „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“ Er wurde daraufhin von der Sitzung ausgeschlossen. Mit seiner drakonischen Reaktion unterstellte Herr Stücklen implizit, in seiner Partei gebe es keine Arschlöcher. An diesem Befund sind zumindest Zweifel erlaubt. Wenn man die Entwicklung der CSU von 1984 bis heute unter die Lupe nimmt, stößt man auf eine lange Reihe von Politikern, die sich mit ihren unsinnigen Eskapaden der Arschloch-Metapher aussetzten. Der aktuelle bayerische Ministerpräsident Markus Söder sticht als unschlagbarer Hallodri vom Dienst all seine Vorgänger aus. Das ist auch dem grünen Ex-Wirtschaftsminister Robert Habeck aufgefallen. Bei seinem Abschied aus dem Bundestag nannte er in einem finalen Rundumschlag Herrn Söder einen „fetischhaften Wurstfresser“. Diese Bezeichnung ist für den eher zurückhaltenden Robert Habeck schon fast eine wundersame Gefühlsexplosion. Und sie ist inhaltlich weit schlimmer als „Arschloch“. Das hat Herr Söder sofort geschnallt und mit folgender Retourkutsche gekontert: „Geh mit Gott – Hauptsache, weit weg!“ Man sieht, Zärtlichkeit ist im politischen Geschäft keine Kategorie.

Joschka Fischer seinerseits hat nach seinem Ausschluss sicher auf den einsamen Fluren des Bundestags Reue und Leid erweckt und sich gefragt: Was habe ich falsch gemacht? Wie hätte ich mich ausdrücken müssen, um den Umgangsformen im Hohen Haus gerecht zu werden? Herr Präsident, Sie sind ein verlängerter Rücken? Sie sind ein Gesäß? Sie sind ein Sitzfleisch? Sie sind ein Ausscheidungsorgan? Elegant auf Lateinisch: Sie sind ein Anus? Oder französisch inspiriert: Sie sind ein Trudükü? Historisch belegt ist nur: Joschka Fischer hat gar nichts falsch gemacht. 1998 wurde er Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Seien wir mal nicht so zimperlich. Die Internet-Plattform Synonyme Woxikon verzeichnet 865 (!) Varianten für „Arsch“: eine wahre Fundgrube blumigster Begriffe. Dieses massenhafte, fast schon epidemische Aufkommen des A-Worts beweist klar und deutlich, wie relevant die systematische Verarschung in zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Auch die luxemburgische Sprache ist äußerst reich an A-Wort-Substantiven. Unsere Wörterbücher wimmeln von hinterteillastigen Ausdrücken: Deckel, Digel, Duckes, Ducksall, Dueder, Hënner, Kadaster, Kastout, Këscht, Pupes, Tutes und so weiter. Geradezu lustvoll wird das A-Wort in allen möglichen Ausprägungen kultiviert. Aber sind wir damit schon konkurrenzfähige Beleidiger? Welchen Rang bekleidet Luxemburg auf der internationalen Beleidigungsskala?

Nach deutschem Vorbild hat es das A-Wort anstandslos ins Hohe Haus am Krautmarkt geschafft. Im November 2013 begrüßte der Parlamentarier Michel Wolter (CSV) den Neuankömmling Justin Turpel (déi Lénk) wie folgt: „Bass du och hei, du Aasch?“ Nur Überempfindliche erkennen in dieser überaus freundschaftlichen Akkolade etwas Abstoßendes und Verwerfliches. Könnte Wolters munterer Spruch nicht etwa als allgemeine Standard-Grußformel in der Abgeordnetenkammer eingeführt werden? Denn das A-Wort nimmt Bezug auf ein menschliches Zentralorgan, auf das kein vernünftiger Bürger verzichten möchte. Der A**** – huch, jetzt hat sich die KI-generierte Trigger-Warnung eingeschaltet! – ist ja sozusagen unser persönliches Tor zur Welt, die unverzichtbare Schaltstelle zwischen Eingeweiden und Außenbereich, wie geschaffen für den gesunden und vorteilhaften Austausch. Ist es nicht grotesk, hier etwas Anrüchiges zu wittern? Wir sehen: Hierzulande steckt die Beleidigungskultur noch in den Kinderschuhen.

Aber nun wird es leider ernst: Die wahre Kunst der Beleidigung besteht darin, nicht nur verbal aufzurüsten, sondern die Beleidigten kurzerhand zu vernichten, wenn sie sich nicht länger beleidigen lassen möchten. Der aktuelle Beleidigungsweltmeister Donald Trump weist den Weg: Über das harmlose A-Wort ist er längst hinaus, er tituliert alle, die nicht mit ihm einverstanden sind, systematisch mit dem S-Wort und dem G-Wort („Schädlinge“ und „Geisteskranke“). Er belässt es nicht beim rhetorischen Exzess, sondern untermauert seine Beleidigungen mit brandgefährlichen Drohungen und Erpressungen. Wie konnte es so weit kommen? Wenn die Mehrheit der Amerikaner diesen notorischen Dauerbeleidiger zu ihrem obersten Repräsentanten wählt, kann das ja nur bedeuten: Sie möchten so sein wie er, sie erkennen sich in ihm wieder, er verkörpert ihre kühnsten Beleidigungsfantasien.

Zu Trumps irrem Machtmissbrauch wäre anzumerken: Es ist höchste Zeit, wieder Bertolt Brechts Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (geschrieben 1941) zu lesen. Diese bittere Parabel über Hitlers Machtergreifung kommt zu dem Schluss, die Zerschlagung aller demokratischen Strukturen durch die Nationalsozialisten wäre „aufhaltsam“ gewesen, wenn alle freiheitlichen Kräfte sich beizeiten mit aller Macht gegen den Usurpator verbündet hätten. Die Geschichte lehrt uns, dass es dazu nicht kam. Jetzt wiederholt sich das Lehrbeispiel mit Trump. Auch diesmal war der point of no return schnell überschritten, weil Trump ungehemmter, rücksichtloser und machtbesessener vorprescht, als es sich die Verteidiger der Demokratie überhaupt vorstellen können. Aus dem Schock wird eine Dauerlähmung. Organisierter Widerstand ist bisher kaum zu erkennen. Stattdessen entstehen ganze Kartelle von Kriechern, Schleimern und untertänigsten Opportunisten. Trump beleidigt mittlerweile fast die ganze Welt, und fast alle maßlos Beleidigten kuschen und verkrümeln sich oder beleidigen sich untereinander. Die Politik der expansiven Beleidigung feiert Triumphe.

Mit den sozialen Netzwerken verfügen wir zudem über ein Instrument, das weltweit eine neue Beleidigungsdynamik entfacht hat. Jeder kann nun ungehemmt und frei von der Leber seine Beleidigungsgelüste befriedigen, obwohl er damit noch lange nicht die Trumpsche Effizienz erreicht. Immerhin ist ein großes Ziel in greifbare Nähe gerückt: Die Demokratisierung und Sozialisierung der Beleidigung. Nach der Richtlinie: Nicht mehr zuhören, nicht mehr offen sein, sofort gnadenlos beleidigen. Diese urmenschliche Regung kann sich nun in aller Offenheit Bahn brechen. Wir müssen unsere prägende Beleidigungseigenschaft nicht länger verstecken oder tarnen mit dem schillernden Begriff „Respekt“. Respekt heißt, sich mit Beleidigungen zurückzuhalten. In dieser Logik hat der Zwang zum Respektieren etwas zutiefst Widernatürliches. Die jahrtausendealte Institution der Beleidigung scheint sozusagen das Ferment aller menschlichen Handlungen zu sein. Aus Beleidigung erwächst Überlebenswille: Ich will nicht tot sein, solange ich nicht alle anderen wirksam beleidigt habe.

Wer dann auch noch wie Trump über einen gewaltigen Machtapparat verfügt, der kann seiner Beleidigungsstrategie widerstandslos zu tödlichem Nachdruck verhelfen. Und die wahlberechtigten Beleidigten fahren unbeirrt fort, ihrem gewählten Oberbeleidiger zu applaudieren. Unter dem Strich bleibt die Menschheit nach wie vor ein Sammelsurium von starken Beleidigern und schwachen Beleidigten. Wer nicht mitspielt und glaubt, er müsse feinfühlig, manierlich und respektvoll auftreten, steht sofort auf der Verliererseite. Und jetzt? Uns bleibt nur, mit Bertolt Brecht zu klagen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.

Guy Rewenig
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