Ja, es ist immer wieder schön, wenn begnadete Menschen völlig unbekümmert an allen Desastern und Katastrophen vorbeileben, frei nach der Devise: Die Erde brennt, wir bleiben cool. Hat ihr Verhalten nicht etwas ausgesprochen Faszinierendes? Wir sollten diese Lebenskünstler daher nicht voreilig mit Kritik und Missfallen in die Schranken weisen. Ist es nicht unser aller Traum, unbeschadet von allen Widrigkeiten die kurze Zeitspanne auf Erden zu genießen? Wer von uns möchte nicht in der Lage sein, die tragische Wirklichkeit zu ignorieren und nur den eigenen Befindlichkeiten zu huldigen? Sind existenzielle Draufgänger und Realitätsleugner, die sich von nichts aus der Ruhe bringen lassen, nicht bewundernswert? Wer von uns war nicht schon versucht, pauschal zu urteilen: Was anderen Zeitgenossen anderswo passiert, ist uns völlig schnuppe. Hauptsache, uns geht es gut. Keiner kann uns zumuten, uns für das Elend fremder Leute verantwortlich zu fühlen. Sind wir schuld daran, in der Wohlstandsoase Luxemburg aufgewachsen zu sein? Kann man uns vorwerfen, Verwöhnte und Privilegierte zu sein? Jeder muss sein Schicksal schultern. Luxemburg ist keine Intensivstation für Benachteiligte aller Art. Warum sollten wir mitten im Luxus auf einmal Samariter spielen? Wir leben, wie wir wollen. Der ganze Rest ist nur eine Fußnote der Geschichte. Lasst uns bitte in Frieden.
Sollten wir diesen munteren Hasardeuren, Vabanquespielern und Paradiesvögeln nicht dankbar sein, dass sie uns an ihren harmlosen Kapriolen teilhaben lassen? Betrachten wir ein rezentes Beispiel: Vor ein paar Wochen trafen sich eines Abends 900 Menschen zu einem sogenannten Dîner en blanc auf dem Platz vor dem Limpertsberger Lyzeum. Nur Naive und Schlechtinformierte werden fragen: Was soll dieser Massenauflauf? Warum schleppen 900 Erwachsene ihre Klapptische und Stühle ins Freie, nur um an der frischen Luft ihre Teller zu leeren und einen Champagner nach dem andern zu kippen? Könnten sie das nicht bei sich zu Hause erledigen? Warum müssen sie sich unter freiem Himmel zusammenrotten? Wer so unbedarft fragt, zielt am Kern der eindrucksvollen Zusammenkunft vorbei. Hier geht es nämlich um das Unnütze und Sinnfreie. Fragen wir also nicht: Was bringt das? Es soll gar nichts bringen. Es hat kein soziales Ziel und braucht keine Legitimation. Ist das nicht herzerfrischend?
Ein ahnungsloser Passant hätte sich wohl gefragt: Was ist das? Ein Zombietreffen? Ein Gespensteraufmarsch? Ein Sektenmeeting? Ein Kongress der Unschuldslämmer? Eine Theateraufführung? Eine Geheimbundsitzung? Wer kommt auf so eine Schnapsidee? Steckte vielleicht unser nationaler Modezuchtmeister Pierre Dillenburg hinter dem weißen Zauber? Nein, was sich hier ereignete, war eher eine organisierte Versammlung von zusammengewürfelten Egozentrikern, ein wunderschönes Selbstoptimierungsspektakel unter Gleichgesinnten. Es ist zwecklos, nach einem tieferen Sinn oder einer Botschaft zu forschen. Das Einzige, was all diese Solitäre miteinander verband, war ihre weiße Kleidung. Aber was bedeutete dieses signum distinctivum? Weiß steht traditionell für Klarheit und Ordnung, Frieden und Ergebung. „Obendrein soll Weiß gegen emotionale Verstimmungen helfen und dafür sorgen, dass man sich in schwierigen Situationen gut fühlt“, belehrt uns Google. Perfekt, alles verstanden. Doch mit der Auffälligkeit der Farbe Weiß war es nicht weit her. Denn obwohl das kollektive Happening in aller Öffentlichkeit ablief, fiel auf: Die Öffentlichkeit war nicht zugegen. Die Weißgewandeten blieben unter sich. Kein Publikumsauflauf, keine neugierigen Gaffer und Schaulustigen. Hätte RTL das Dîner en blanc nicht mit einer Fotostrecke dokumentiert, wäre die ganze Show womöglich verborgen geblieben.
Loben wir an dieser Stelle kurz die Fotostreckenpolitik von RTL. Die Bilderreihen werden immer länger. 200 Schnappschüsse über den Bierabend der Kegelbrüder aus dem hohen Norden, gleich viele oder mehr über die Waldwanderung der Nachbarschaftsinitiative Mir ënnert eis aus dem Süden. Da wird jede Pflanze am Waldpfad abgelichtet, jeder Strauch, jede Baumschale und jeder mitgeführte Regenschirm. Und selbstverständlich alle Teilnehmer, zweifach, dreifach, zehnfach, einzeln oder in der Gruppe, in Dreier-, Fünfer- oder Neunerformation. Diese Akribie beim Schildern von Nichtigkeiten macht RTL mittlerweile zum soziologischen Dokumentaristen Nummer Eins. Den herumschwirrenden Hausfotografen, denen selbst die unscheinbarsten Banalitäten nicht entgehen, gelingt es nämlich, Stück für Stück ein lückenlos detailreiches Porträt der luxemburgischen Partikularitäten aufzubauen. Der wissenschaftliche Wert dieser unaufhörlichen Fotoflut kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. RTL holt selbst die belanglosesten Trivialitäten aus der Versenkung. Bei diesem menschenfreundlichen Sender hat jeder von uns die Chance, plötzlich und unerwartet ins Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit gerückt zu werden. So erging es auch den Dîner en blanc-Mitwirkenden. Sie alle durften sich stolz auf das Label „Von RTL geadelt“ berufen.
Uns wunderte nur, dass die Fotos im Grunde eine amorphe Menge zeigen, eine Ansammlung von gelangweilten Nachtschwärmern. Sprechen die Gesichter der meisten Weiß/innen nicht Bände? Sieht man da nicht einen deutlichen Anflug von Überheblichkeit, um nicht zu sagen einen Ausdruck schwerster Blasiertheit? Eigentlich sind die Dinierenden sich untereinander herzlich egal, weil jeder und jede sich für den Nabel der Welt hält. Ich bin weißer als weiß. Ich bin die Weißeste in der Runde. Ich bin der bestgekleidete Weiße weit über den Limpertsberg hinaus. Zum Teufel, wo bleibt der Champagner?
Vielleicht täuscht der Eindruck. Wäre es möglich, dass es sich gar nicht um Arroganz handelt, sondern nur um die gestelzte Selbstzufriedenheit von Menschen, die entschieden haben, sich nicht mehr um die laufenden Verwerfungen und Wirrnisse zu scheren? Jedenfalls wirken die Dinierenden wie jenseits von Gut und Böse. Irgendwie weltentrückt und verkrochen im eigenen Ich. Da kann man richtig neidisch werden. Diese gepflegte Aussteigerattitüde hat etwas Verführerisches. Einfach in weiße Klamotten schlüpfen und Gottes Wasser über Gottes Land laufen lassen. Und die Abkehr vom sozialen Verhalten auch noch kulinarisch zelebrieren. Entschuldigen Sie bitte das Eingeständnis, aber wir haben uns heimlich in den Kleiderläden umgeschaut. Es gibt tatsächlich unheimlich viel weiße Konfektion. Verfluchte Versuchung!
Schade nur, dass das weiße Dinner vor leeren Rängen ablief. Keine lautstarke Kritik, kein Protest, keine Demo von aufgeregten Blödsinnsgegnern. Die 900 Weißlinge tafelten quasi völlig einsam in den lauen Sommerabend hinein. Sie taten einem fast leid. Wurden sie vielleicht boykottiert? Dabei hätten wir lernen können: In einer Gesellschaft, die vor rasender Polemik und wüsten Streitigkeiten aller Art aus den Fugen gerät, ist ein weißer Fleck in der Topografie geradezu eine Wohltat. Sind diese lazy people nicht der perfekte Gegenentwurf zu den unaufhörlich eifernden und geifernden Bürgern, die sich tagaus, tagein die Köpfe einschlagen? Natürlich könnte man strenggenommen anmerken: Diese Glückspilze machen einen Kult aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Sie wenden sich ab, sie genügen sich selbst, sie bleiben unter sich. Wer möchte ihnen daraus einen Strick drehen?
Am frühen Morgen nach dem Dîner en blanc brachen die USA das Völkerrecht und bombardierten die iranischen Atomanlagen. Ob all die weißen Gäste diese gewaltige kriegerische Eskalation überhaupt mitbekommen haben? Oder waren sie Stunden nach dem Dîner en blanc noch immer mit ihrer bodenlosen Einmaligkeit beschäftigt? Dürfen wir uns vorstellen: Sie standen vor ihren Spiegeln und sagten glückselig ihre egomanische Litanei auf? Ich bin so weiß. Ich bin so toll. Ich bin top. Mir kann keiner. Und jetzt? Uns bleibt nur, mit Bertolt Brecht zu klagen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.