Koalition

Nach den Wahlen ist vor den Wahlen

d'Lëtzebuerger Land du 06.11.2003

"Wir sind noch nicht im Wahlkampf", beteuerte CSV-Präsident François Biltgen am 18. Oktober in der Parteibeilage des Luxemburger Wort. Nur wenige Tage später berichtete Biltgen einem parlamentarischen Ausschuss über den europäischen Beschluss zur Arbeitslosenversicherung von Grenzpendlern im Beschäftigungsland. Und er beschwor die Anwesenden, das Thema nicht mit ausländerfeindlichem Unterton im Wahlkampf zu benutzen. 

Kaum hatte Biltgen sein Herzensanliegen vorgebracht, hielt er ein Kommuniqué in Händen, das die Frage stellte, ob "Arbeitsminister Biltgen bald auch Arbeitsminister Frankreichs" sei. Nach einem Rundumschlag gegen die angebliche Vergeudung von Steuermitteln durch CSV und DP, "größenwahnsinnige Prestigeprojekte" und die "flagrante Inkompetenz" der CSV-Bautenministerin, stellten die Autoren fest, dass Biltgens angeblicher Verhandlungssieg zur Entschädigung arbeitsloser Grenzpendler auf einer "grundfalschen Philosophie" beruhe, Millionen koste, und auf keinen Fall unterschrieben, sondern "in den Papierkorb" gehöre. Unterzeichnet war das Papier nicht etwa vom ADR, das im Parlamentsplenum ähnliche Töne anschlug, sondern vom Exekutivbüro der Jeunesse démocrate et libérale, dem Nachwuchs des Koalitonspartners DP.

Doch vielleicht war das auch nur eine Revanche in einem Stellvertreterkrieg, wie er zu den Hauptfunktionen von Parteijugendorgansiationen gehört. Denn es kommt nicht gerade häufig vor, dass eine Regierungspartei ihrem Koalitionspartner im Laufe einer Legislaturperiode einen Abgeordneten abwirbt. Die CSV beteuerte natürlich, dass es ihr vor zwei Monaten lediglich darum ging, zu verhindern, dass Théo Stendebach zur LSAP überlief und die Regierungsmehrheit dadurch von 34 auf 33 Parlamentssitze schrumpfte. Aber der Vorgang bleibt eine Demütigung der DP durch ihren Seniorpartner, und zu allem Überfluss konnte sie ihn auch noch mit nichts als öffentlicher Sprachlosigkeit quittieren.

Nach einer Talkshow am 29. Oktober über die Krankenversicherung im Fernsehen wurde vor allem ersichtlich wurde, dass die Regierungspartei DP im Wahlkampf ein größeres Problem haben wird, die bevorstehenden Podiumsdebatten mit fachkundigem Personal zu beschicken. Doch ein ehemaliger Fraktionssekretär der CSV nutzte gleich die Gelegenheit, um im Luxemburger Wort aus der Ratlosigkeit des Abgeordneten Niki Bettendorf eine Meldung mit der explosiven Überschrift "DP schließt Karenzztag nicht aus" zu konstruieren. Die LSAP hakte dankend nach, die DP musste schwerfällig erklären, wie Bettendorf das gemeint haben wollte. 

Die CSV verpasste auch nicht die Gelegenheit, um am Beispiel von Sozialminister Carlo Wagner und Fraktionsvorsitzendem Jean-Paul Rippinger, die nichts von der Senkung der staatlichen Beteiligung an der Pflegeversicherung wussten und das auch nicht für weiter schlimm hielten, diskret die liberale Inkompetenz vorzuführen. Doch auch bei der CSV lieferten Premier Jean-Claude Juncker, Fraktionsvorsitzender Lucien Weiler und Sozialexperte Marcel Glesener widersprüchliche Erklärungen zum Vorgang.

Kulturministerin Erna Hennciot Schoepges schüttete am 30. Oktober dem Luxemburger Wort ihr Herz zur Reform der Kulturinstitute aus: "Die Institute können darüber hinaus verschiedenen Aufgaben gar nicht nachkommen, weil ihnen das nötige Personal fehlt. Es ist schon bedauerlich, dass etwa die Öffnungszeiten von Museen nicht ausgeweitet werden können, weil das Statut des Personals dies nicht erlaubt." Aber das sei nicht ihre Schuld: "Ich bin beim Ministerium für den Öffentlichen Dienst abgeblitzt, das meine Reform derart verwässert hat, dass man nicht von einer positiven Haltung gegenüber der Kultur reden kann." Die Banausen heißen Lydie Polfer und Jos Schaack, Vizepremierministerin beziehungsweise Staatssekretär der DP.

Die DP erzählt seit Jahren stolz, der Bürgermeister der Hauptstadt sei von seinem politischen Gewicht her immer etwas wie der 13. Minister. Doch am 31. Oktober warf Innenminister Michel Wolter via Luxemburger Wort DP-Bürgermeister Paul Helminger vor, es bei seiner Ablehnung des Flächennutzungsplans für den Ausbau des Findels an "nationaler Weitsicht" mangeln zu lassen, der Regierung den "schwarzen Peter zuspielen" zu wollen und "Meinungsmache" zu betreiben, "die ihm selbst auf dem Gebiet der Stadt Luxemburg Vorteile" verschaffen solle.

Tatsächlich ist es ein merkwürdiger Zufall, dass unter sechs Gemeinden die beiden, die Ende letzten Monats den Flächennutzungspan ablehnten, Luxemburg und Schüttringen, ausgerechnet jene mit DP-Bürgermeistern sind. Vor 14 Tagen warf dann auch Premier Jean-Claude der Stadt Luxemburg theatralisch vor, den Plan nur aus elektoralem Kalkül und im Bewusstsein, dass das Gutachten ohnehin nur beratenden Charakter habe, abgelehnt zu haben, um die politische heikle Schlussentscheidung und mögliche Schadensersatzforderungen auf die Regierung abzuwälzen. Doch Juncker vergaß ebenso wie Wolter darauf hinzuweisen, dass in jenen Gemeinden nicht nur die DP-Bürgermeister, sondern auch die CSV-Räte dem CSV-Innenminister eine Abfuhr erteilten.

Doch wenn lokale und nationale Interessen in Widerspruch geraten, fahren, wie im Streit um Haebicht, sowieso die Parteigrenzen auseinander: auch die LSAP-Räte stimmten mit Nein, obwohl ihre Partei für einen Flughafenausbau ist, während die grüne Spitzenkandidatin Ost nicht einmal Zeit fand, am Votum über das grünste aller Themen teilzunehmen.

Juncker hatte vor 14 Tagen angekündigt, künftig weniger oft Pressebriefings nach den Kabinettsitzungen einzuberufen. Und demonstrierte gleich anschließend, dass seine selteneren Presseauftritt künftig vor allem den Zweck verfolgen dürften, weniger Aufschluss über die Entscheidungen der Regierung zu geben, als mit markigen Sprüchen seinen eigenen Haufen zur Ordnung zu rufen und den Anschein von Geschlossenheit zu vermitteln.

So blieb dem Premier auch nichts Anderes übrig, als die Widersprüche zwischen CSV-Innenminister Michel Wolter, CSV-Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges und DP-Umweltstaatssekretär Eugène Berger im Streit um das Immobilienprojekt von Meysemburg mit Gepolter und moralischer Entrüstung zu überspielen. Berger hat den Promotoren den Eindruck vermittelt, das Projekt zu unterstützen und auch nicht, Hennicot hält das Areal klassierungswürdig, ohne es klassieren zu wollen, worauf Wolter sich im Kabinett mit Hennicot anlegte, was ihm prompt als Lobbyarbeit für seine Jagdkumpanen Promotoren ausgelegt wurde.

Zur Mantra des Premiers gehört, dass Wahlen keine krisenhafte Erscheinung in einer Demokratie seien. Aber Wahlkampf ist eine Stressperiode, die alle Beteiligten belastet. Wobei derzeit die angespannte wirtschaftliche Lage noch hinzu kommt, die eher zu unpopulären Sparmaßnahmen zwingt, als kleine Wahlbonbons für nahestehende Wählergruppen zu erlauben. Und die Liberalen dürften nach den für sie erschreckenden Wahlprognosen von Tageblatt und ILReS sowie dem Verlust eines Parlamentssitzes bereits vor dem Wahltag ganz besonders unter Stress leiden.

Vielleicht ist das zunehmende Gezänk zwischen den und innerhalb der Regierungsparteien sogar Ausdruck einer durch die Stresssituation ausgelösten Regression, wie das unter Menschen so vorkommen kann: CSV und DP drohen nicht unbedingt in Kindheitsmuster, aber zumindest in Verhältnisse zurückzufallen, die sie nach den Wahlen 1999 durchlebten. Damals herrschte monatelang Eiszeit zwischen den beiden von den Wählern frisch zusammengewürfelten Koalitionsparteien, die sich beim besten Willen einfach nicht leiden konnten. Im Laufe der Zeit gelang es ihnen zwar, bei allen Kleinkriegen die politischen und persönlichen Animositäten unter Kontrolle zu bekommen. Doch nun scheint das sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner beschränkende Reservoir an Gemeinsamkeiten aufgebraucht.

In einer Koalition, die von keinem politischen Projekt und nur von einem Minimum an gemeinsamen Werten zusammengehalten wird, gewinnt nicht nur der Konkurrenzkampf um Wählerstimmen zwischen den Parteien, sondern auch zwischen den A geoirdneten und Regierungsmitgliedern derselben Partei die Oberhand. Im Wettkampf um ein Manmdat am 13. Juni ist eben jeder auf sich selbst gestellt und jeder Kollege ein Konkurrent. Vielleicht wirft man sich bis dahin noch zur Erheiterung des Publikums das Porzellan an den Kopf.

 

 

 

Romain Hilgert
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