Kleine Listen zu den Wahlen

Malthus for President

d'Lëtzebuerger Land du 23.10.2003

Vergangene Woche hielten die Wahlkampfmanager der Parteien eine aufwändige Farbbroschüre Zur Wachstumspolitik in Luxemburg. Eine kritisch-konstruktive Analyse in Händen, in der sie gleich im Vorwort „die Diskrepanz zwischen den Versprechen der politischen Parteien und der Wirklichkeit, die der Bürger täglich am eigenen Leibe zu spüren bekommt“, vorgehalten bekamen. Um dann gedroht zu bekommen für den Fall, dass sie sich „nicht doch noch zu einer späteren Erkenntnis durchringen, dürfte eine weitere Zersplitterung unserer Parteienlandschaft mit all ihren Folgen wohl unausweichlich sein“.
Seit dem Zersplitterungsrekord bei den Parlamentswahlen 1989 von 16 verschiedenen Kandidatenlisten ist die Zahl der Listen wieder auf neun bei den letzten Wahlen gesunken. Um das Aufkommen kleiner Listen zu vereiteln, verschärfte das Parlament mit der Reform des Wahlgesetzes vom letzten  18. Februar die Zulassungsbedingungen. Wenn eine Kandidatenliste nicht von Abgeordneten oder Gemeinderäten unterstützt wird, muss sie neuerdings die Unterschriften von 100 Wahlberechtigten pro Bezirk tragen, statt von 25 wie bisher.
Trotzdem sorgte die Drohung, mangelnden Gehorsam mit eigenen Listen zu bestrafen, für Gespräch. Denn sie war von Henri Hosch unterzeichnet, dem medienwirksamen Verteidiger der verbeamteten und selbstständigen Eigenheimbesitzer in den Schlafgemeinden rund um die Hauptstadt. Der Zahnarzt im Ruhestand rechnet sich ohne falsche Bescheidenheit zugute, eigenhändig die Industriemülldeponie von Haebicht vereitelt zu haben. Dabei leckte er dann Politikerblut und ließ sich in Mamer zum ersten Bürgermeister einer Einpunktinitiative in einer Proporzgemeinde wählen. Nach diesem Abenteuer ist er nun Präsident der Initiativ „Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg?“ gegen eine angebliche Bevölkerungsexplosion.
Gegründet wurde die Initiative gewollt oder ungewollt von CSV-Premier Jean-Claude Juncker, als er am 20. Juli 2001 verkündete, der eben abgeschlossene Rententisch habe endgültig den Marsch in den „700 000-Einwohnerstaat“ besiegelt.  Als sich ein Jahr später nicht einmal die Regierungsparteien über einen Zukunftstisch einigen konnten, wurde die Gründung am 12. Oktober 2002 in Bartringen zu einer Vereinigung ohne Gewinnzwecke formalisiert.
Damit war die Initiativ „Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg?“ irgendwie nach dem ADR auch die zweite von Christlichsozialen initiierte Rentenpartei. War das mit Hilfe der Luxemburger Wort-Journalisten gegründete 5/6-Aktionskomitee, später ADR, eine Bewegung von Angestellten, Arbeitern und Selbstständigen gegen die höheren Renten der Beamten, so ist die Initiativ „Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg?“ die Gegenbewegung von Beamten und Selbstständigen gegen die am Rententisch beschlossenen Rentenerhöhungen für die Angestellten und Arbeiter. Von den 19 Gründungsmitgliedern, die finden, dass die Rentenerhöhungen in der Privatwirtschaft ein „unverantwortliches, umweltzerstörerisches“ Wirtschaftswachstum bedingten, sind zwei Drittel Beamte oder Selbstständige.
Und wie der rechte Pastor Thomas Robert Malthus 1798 in An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and Other Writers eine Bevölkerungsexplosion an die Wand malte, um vom Standpunkt der Großgrundbesitzer die Sozialgesetzgebung (poor laws) zu bekämpfen, so malt die rechte Initiative eine Bevölkerungsexplosion an die Wand, um vom Standpunkt der Baugrundstücksbesitzer die Sozialgesetzgebung (Rententisch) zu bekämpfen.
Die Titelseite ihrer neuen Broschüre ist Programm. Sie zeigt eine menschenleere Weide mit Waldrand und ein Durchfahrtverbot für 700 000. Es ist der zum Menschenrecht erhobene Blick aus den Hinterfenstern der Beamtenhäuschen und Zahnarztvillen in den Schlafgemeinden rund um die Hauptstadt auf eine menschenleere Natur, der weder durch eine Industriemülldeponie, noch durch Mietskasernen oder lothringische Berufspendler gestört werden darf.
Der Vereinszweck der Initiative liest sich streckenweise wie ein grünes Wahlprogramm. Und tatsächlich hatte eine Delegation letztes Jahr am Kongress der grünen Partei als Beobachterin teilgenommen. Doch nicht nur die Grünen liefen Gefahr, Stimmen zu verlieren, wenn die Malthusianer am 13. Juni mitmischten. Die Aktivisten der Initiative gehören zu jenen Mittelschichten, die bevorzugt CSV und DP oder im Zentrum rechte Députés-maires der LSAP wählen. Und selbst das ADR müsste um Stimmen verbitterter Protestwähler fürchten.
Ob die Initiative nächstes Jahr tatsächlich die Parteienlandschaft, wie angedroht, mit eigenen Kandidatenlisten aufsplittern will, ist aber alles andere als sicher. Auch wenn sie, wie auf einer Pressekonferenz am 9. Oktober, die Frage am liebsten bis 60 Tage vor den Wahlen offen lässt, um möglichst lange im Gespräch zu bleiben. Einige ihrer sich wöchentlich zum Stammtisch in einem hauptstädtischen Restaurant treffenden Aktivisten möchten ohnehin gleichzeitig Politiker und Antipolitiker, Macher und Opposition sein, wie derzeit all die Schwarzenegger der Zivilgesellschaft zwischen Norditalien und Südkalifornien.
Ungelegener kommt schon, dass die Zukunftsinitiative laut Satzung den Zweck hat, auf die „vernichtenden Auswirkungen eines maßlosen wirtschaftlichen Wachstums auf die Umwelt und die Lebensqualität der Bürger Luxemburgs“ aufmerksam zu machen und „die natürliche Umgebung zu verteidigen“. Denn die Ironie der Geschichte will es, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Gründung nicht weniger als die von ihr heftig geschulmeisterte Regierung verschlafen hatte, dass schon im Vorjahr das „maßlose“ Wirtschaftswachstum im Land von neun auf ein Prozent abgestürzt war. Bei einem Prozent Wirtschaftswachstum fürchtet aber nicht einmal der ängstlichste Wähler mehr die Panikzahl 700 000.
Außerdem fehlt es der Initiative an einer als Stimmenreservoir dienenden sozialen Basis, die sich beispielsweise das ADR bei der Gewerkschaft NGL und dem Bauernverband FLB beschafft hatte. Ein bereits letztes Jahr erfolgte Versuch der Initiative, sämtliche Bürgerinitiativen des Landes hinter sich zu föderieren (d’Land, 24.05.02), ist am allgemeinen Desinteresse und Misstrauen gescheitert. Die Initiative würde so zum Wahlverein für ihren Präsidenten von der Cap, der allerdings im Südbezirk kandidieren müsste, wo er in den Industriestädten jämmerlich zu scheitern droht und sich damit landesweit lächerlich machen würde.
Dass die Menschen eine Bedrohung für die Natur darstellen, glaubt auch eine Handvoll Tierschützer, die sich bereits im Mai in Angelsberg trafen, um über die Gründung einer Tierschutzpartei zu beraten und Leitlinien eines Programms aufzustellen. In Angelsberg wohnt einer der Initiatoren, ein Invalidenrenter, dessen Hund vor Jahren erschossen wurde. Für die Idee hatten sich aber auch ein enttäuschtes LSAP-Mitglied und ein leidenschaftlicher Veganer begeistert, ein Anhänger eines radikalisierten und mystisch überhöhten Vegetariertums.
Die seit mehreren Jahren in Tierschutzkreisen zirkulierende Idee einer Parteigründung stammt, wie so oft in der Umweltszene, aus Deutschland, wo 1993 die nach eigenen Angaben erste Tierschutzpartei der Welt, Mensch, Umwelt, Tierschutz (Mut), gegründet wurde. Mit einem Programm, das für ein Tierschutzministerium und gegen die „Diskriminierung“ der Kampfhunde, aber auch für die Senkung des Mindestlohns und der Lohnnebenkosten eintritt, erhielt sie bei den Bundestagswahlen letztes Jahr 159 505 oder 0,3 Prozent der Zweitstimmen, gegenüber 133 832 oder 0,27 Prozent bei den Wahlen 1998. In Hessen wurden sogar zweimal Lokalpolitiker der Tierschutzpartei gewählt, ein Kreistagsabgeordneter in Darmstadt-Dieburg und  ein Ortsbeirat in Unter-Schönmattenweg. Am Parteitag der deutschen Tierschutzpartei, die Beziehungen zur luxemburgischen Alpa und Fisa pflegt, nahmen letzten Monat auch drei Tierschützerinnen aus Luxemburg teil.
Hierzulande will es aber nicht gelingen, die zersplitterte Szene für ein  politisches Ziel zu einen. Denn inzwischen reichen die Tierschützer von friedlichen Hundeliebhabern bis zu Zeitgenossen, die das Verzehren eines Rindersteaks in die Nähe von Auschwitz rücken. Schließlich gibt es nicht nur die Tierschutzliga, die Absplitterung Alpa und diverse lokale Ableger, sondern auch mindestens zwei verschiedene Initiativen, die gegen den Jagdsport mobilisieren, einen Bund jugendlicher Veganer, die auch zu militanten Aktionen greifen, Tierfreunde und Jagdgegner beim Mouvement écologique sowie den üblichen Kometenschweif freischwebender Leserbriefschreiberinnen.
Kein Wunder, dass sich inzwischen alle Parteien für Tierschutz interessieren und ihre Kandidaten die Jahresversammlungen der Tierschutzvereine absitzen, parlamentarische Anfragen zum Thema stellen und im zuständigen parlamentarischen Ausschuss darüber beraten, ob Tiere eigene Rechte haben und ob diese Verfassungsrang genießen sollen, wie inzwischen Anträge von Grünen und ADR vorschlagen. Das ADR versucht sogar, mit einer „überparteiischen Arbeitsgruppe“ Tierschützer zu locken. Sollte das Projekt Tierschutzpartei endgültig scheitern, könnte der eine oder andere Initiator auf einer ADR-Liste landen, insbesondere, nachdem die Grünen sich lieber vorsichtig zurück halten.

Romain Hilgert
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