Heute loben wir das neue ungarische Mediengesetz. Es pocht auf Ausgewogenheit, eine Qualität also, zu der wir uns bislang gar nicht hingezogen fühlten. Ganz im Gegenteil: alles, was in dieser Rubrik zu Papier gebracht wird, ist nicht nur haarsträubend unausgewogen, sondern geradezu erschütternd einseitig. Hier schreibt ein wüster Sektierer, ein Spalter und Nüancenzertrümmerer, der den Missbrauch der Meinungsfreiheit Woche für Woche auf die Spitze treibt. Ist das kein schönes Geständnis? Ja, wir befinden uns sichtbar auf dem Weg der Besserung. Ab jetzt wird der Ausgewogenheit, jenem wundervollen Gleichgewicht zwischen allen Widersprüchen, mit Lust und Reue gehuldigt. Los geht’s!
Unter dem Titel Grüße aus Tunesien schrieb die Télécran-Journalistin Maryse Lanners vor kurzem folgendes: „In Zeiten von Massentourismus und Pauschalreisen bis in die entlegensten Winkel der Erde wird die Menschenrechtslage längst nicht mehr als Hinderungsgrund empfunden. Erschreckend ist jedoch, wenn diese Geisteshaltung auch noch von einem Regierungsvertreter bestärkt wird. Mit seinem Kommentar zu den Unruhen in Tunesien, deretwegen er seinen Besuch dorthin absagte, erreichte Wirtschaftsminister Jeannot Krecké jedenfalls den Gipfel des Zynismus. Weil in Tunis mit scharfer Munition auf Demonstranten geschossen wurde, sei das Klima für bilaterale Verhandlungen ungünstig gewesen, erklärte er.“ Moment! Da war doch noch ein anderes luxemburgisches Regierungsmitglied vor Ort. Und zwar genau zum gleichen Zeitpunkt. Wie sogar die Télécran-Redaktion ein paar Seiten zuvor mitteilt, weilte Minister Biltgen im tunesischen Djerba zum Genesungsurlaub.
Da wir ausgewogen sein möchten, stellen wir uns mal ganz dumm und fragen: Was wiegt denn schwerer? Ein Minister, der seinen Besuch in Tunesien absagt, oder ein Minister, der wider besseres Wissen seinen Urlaub in Tunesien antritt? Warum wird Herr Biltgen in diesem Zusammenhang überhaupt nicht erwähnt? Weil der katholische Télécran lieber auf die unkatholische Partei des Wirtschaftsministers zielt? Und wie kann Herr Biltgen sich entspannen, wenn „mit scharfer Munition auf Demonstranten geschossen wird“? Halt! Da leisten wir uns ja schon wieder einen krassen Rückfall in die Unausgewogenheit. Verzeihung!
Richtig muss es so heißen: Herrn Biltgen wurde in den vergangenen Wochen arg am Zeug geflickt wegen seiner Gesetzesvorlage zum Schwangerschaftsabbruch. Sowohl der Staatsrat als die Kommission für Menschenrechte zerfetzten seinen Text sozusagen in der Luft. Da scheint es doch logisch, dass der Herr Minister lieber in einem Land genesen möchte, wo von Menschenrechten überhaupt nicht die Rede geht. Und wo von Frauen erwartet wird, dass sie ganz einfach den Mund halten. Wer kann sich denn vorstellen, dass die schöne Diktatur einfach von heute auf morgen den Bach runtergeht? Und zwar ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, wo der Herr Minister die wunderbar kalorienreiche Luft von Djerba genießt? Stop! Schon wieder ein fataler Ausrutscher! Warum nur ist Ausgewogenheit so verdammt schwer?
Also noch einmal: Ist es nicht höchst auffallend, dass die tunesische Revolution genau in dem Moment ausgebrochen ist, als Minister Biltgen sich konspirativ in Djerba aufhielt? Der innere Zusammenhang springt doch ins Auge. Was Herr Biltgen mit taktischer Vorsicht als Genesungsurlaub ausgab, war in Wirklichkeit eine humanitäre Mission mit dem Ziel, in Tunesien die Demokratie zu rehabilitieren. Herr Biltgen ist demnach der Auslöser, der begnadete Zünder der Demokratiebewegung. Das entspricht übrigens genau seinem christlichen Profil. Er kam als eine Art verdeckter Messias zum tunesischen Volk. Nie würde ein Mann seiner Güte als tumber Tourist in einem Land aufkreuzen, wo mit demokratischen Rechten und Freiheiten Schlitten gefahren wird. Sein katholisches Gewissen würde er nie und nimmer bewusst und gezielt einer solch unmenschlichen Belastung aussetzen. Jetzt verstehen wir auch, warum er den Tarnnamen „Genesungsurlaub“ wählte. Nicht er sollte genesen, sondern das tunesische Volk. Gratulátok! Herzlichen Glückwunsch! Falls die ungarische Sprache an dieser Stelle nicht unbedingt erwünscht ist.
Wir sehen: Ausgewogenheit in der Berichterstattung ist ein unverzichtbares Instrument der objektiven Menschlichkeit. Vor allem gegenüber Regierungsmitgliedern wollen wir ab jetzt stets extrem ausgewogen sein. Kein hitziger Kommentar mehr! Keine zynischen Mätzchen à la Krecké! Wir sind uns auch nicht zu schade, nochmals um Vergebung zu bitten. Und zwar bei der hervorragend ausgewogenen Wochenschrift Télécran. Wie konnten wir nur mit sträflichem Leichtsinn annehmen, hier würde der Unausgewogenheit Tür und Tor sperrangelweit geöffnet? Wer etwas verschweigt, ist der Ausgewogenste von allen. Besonders, wenn er edle Motive hat. Und was kann es Edleres geben, als den eigentlichen Revolu-tionsführer in Tunesien diskret zu decken und nicht zu erwähnen? Uff! Geschafft! Es ist ein Kreuz mit der Ausgewogenheit. Aber wir lernen.