Ärztestreik

Risiken und Nebenwirkungen

d'Lëtzebuerger Land du 30.11.2001

Gut Gemeintes kommt nicht immer gut an, sagt ein Sprichwort. Gesundheits- und Sozialminister Carlo Wagner (DP) hatte es eigentlich gut gemeint - mit den an den Krankenhäusern tätigen Belegärzten, Freiberuflern eigentlich, die an einer Klinik praktizieren. Sie sollen künftig eine Abgabe leisten, die Erhalt und Ausbau der Krankenhausinfrastruktur zugute kommen soll. So sieht ein Gesetzentwurf Carlo Wagners es vor, dem der Regierungsrat am 20. Oktober zugestimmt hat.

Insgesamt vier Varianten für eine solche Kostenbeteiligung waren im Gespräch gewesen. Die einschneidenste davon hatte sämtliche Leistungen der Belegärzte belasten wollen, auch einfache Konsultationen. Doch weil Carlo Wagner es gut gemeint hatte, entschied er sich für die mildeste Lösung: Nur die rein technischen Diagnoseakte sollen abgabepflichtig werden, das Abgabemaximum darf fünf Prozent der Bruttohonorarsumme nicht übersteigen. Leicht begründbar schien diese Maßnahme schon deshalb, da die freischaffenden Belegärzte die Apparateinfrastruktur der Kliniken bislang kostenlos nutzen und ihnen auch die Zuarbeit des medizinisch-technischen Personals gratis zur Verfügung steht. Ganz abgesehen davon, hatte die Krankenkassen-Quadripartite vor einem Jahr angesichts des 2,2-Milliarden-Defizits der Krankenkassen beschlossen, dass für dessen Ausgleich nicht nur Staat, Arbeitgeber und Versicherte aufkommen müssten, sondern auch Apotheken, private Labors und die freie Ärzteschaft. Von den drei Letztgenannten aber entrichten bislang nur die Apotheken eine Abgabe auf ihrem Bruttoumsatz. Weil Privatlabors und Ärzte sich bisher weigerten zu zahlen, will die Regierung deren Obolus nun per Gesetzesmacht eintreiben.

Doch die Association des médecins et médecins-dentistes (AMMD), Interessenvertreterin der freien Ärzteschaft, weigert sich auch weiterhin. Seit dem Allerheiligen-Mittwoch und noch bis Sonntag werden alle privaten Arzt- und Zahnarztpraxen bestreikt, und in sämtlichen Kliniken, die überwiegend mit Belegärzten arbeiten - landesweit alle außer dem hauptstädtischen Centre hospitalier und dem neuropsychiatrischen Krankenhaus in Ettelbrück - funktioniert allein der Bereitschaftsdienst. Noch trägt die zwischen Allerheiligen/Allerseelen und das darauf folgende Wochenende angelegte Aktion vor allem symbolischen Charakter und wirkt sich vor allem am heutigen Freitag aus. In den Kliniken fallen zwar Operationen aus, doch es gab genügend Zeit zum umdisponieren. Offenbar, sagt ein Beamter der Direction de la Santé im Gesundheitsministerium, habe die AMMD sich ganz bewusst die Allerheiligen-Woche für den Streik ausgesucht, um dessen Auswirkungen nicht zu groß werden zu lassen.

Dass es sich "ja nur um einen Warnstreik handelt", betont auch AMMD-Generalsekretär Daniel Mart gegenüber dem Land. Viel liegt ihm daran, dass die Ärzteschaft nicht dasteht wie eine Schar rechtloser Gesellen, die sich der sozialen Solidarität verschließen. Im Unrecht sei vielmehr die Regierung, wenn sie die Ärzte zur Kasse bitten will: Mart pocht auf Artikel 80 des Krankenkassengesetzes, der eine staatliche Intervention nur vorsieht, falls die Finanzierbarkeit der Krankenversicherung gefährdet ist, ansonsten jedoch die Tarifautonomie zwischen den Ärzten und der Krankenkassenunion (UCM) festschreibt. Da im Unterschied zum Herbst 1999 die UCM für dieses Jahr mit keinem Milliardendefizit mehr rechnet, sondern mit einem Überschuss von mehr als 600 Millionen Franken, der sich 2001 sogar auf 1,3 Milliarden erhöhen dürfte, sei der Staat keineswegs gefordert. Und ihren Beitrag zur Sanierung des Kassendefizits würden die Ärzte auch ohne den jetzt von der Regierung erhobenen Kostenbeitrag längst erbringen: als Steuerzahler, als Krankenversicherte, die ihre Freiberuflichkeit doppelt teuer zu stehen kommt, und als Arbeitgeber.

Es geht also ums Geld. Allerdings nicht um die fragliche Abgabe auf technische Diagnoseakte der Belegärzte in den Kliniken, die nach Prognosen der UCM pro Jahr rund 40 Millionen Franken einbringen dürfte. "Wir sind nicht so dumm, nur deshalb zu streiken", sagt Daniel Mart. Natürlich müsse das Gestzesprojekt zurückgezogen werden. Vor allem aber gehe es ums Prinzip, um das fundamentale Verständnis von Gesundheits- und Sozialpolitik.

Was die AMMD damit meint, hat sie schon vor Tagen der Patientenschaft mitzuteilen versucht und dazu in allen zu bestreikenden Arztpraxen Handzettel auslegen lassen. "Santé libre" steht darauf in großen Lettern, zur Verteidigung dieser Freiheit, so heißt es weiter, diene die Aktion. Der Staat schicke sich an, das Einkommen der freiberuflichen Mediziner zu verwalten. Zur Begründung sanierungsbedürftige Krankenkassen anzuführen, sei nicht nur unlauter, weil derzeit kein Defizit mehr besteht, sondern vor allem deshalb, da Krankenkassendefizite nicht zuletzt auf politische Entscheidungen zurückzuführen seien. Letztere Feststellung ist nicht falsch. Durch Gesetzesänderungen wird das neuropsychiatrische Krankenhaus in Ettelbrück von den Krankenkassen und nicht mehr vom Staat finanziert. Auch die Invalidenrenten laufen jetzt länger über einen Krankenschein. Die Verwaltung der Pflegeversicherung und die Krankenpflege in Pflegeheimen belasten ebenfalls die Krankenkassen, hinzu kommen höhere Beteiligungen an den Investitionen in die Krankenhausinfrastruktur. Auch OGB-L und LCGB hatten im Sommer letzten Jahres, als sich das Milliardenloch abzeichnete, von einem "politischen Defizit" bei der Krankenkassenunion gesprochen. Da derzeit um die Verteilung der nunmehr entstandenen Überschüsse im Krankenkassenbudget gestritten wird, möchte die AMMD nicht zu kurz kommen: OGB-L und LCGB fordern die Rücknahme der Anfang des Jahres in Kraft getretenen Leistungskürzungen und Beitragserhöhungen, was sicherlich auch dem Arbeitgeberlager gefallen dürfte. Obendrein finden derzeit Gehälterverhandlungen für die Angestellten im Gesundheitswesen statt, zur Debatte stehen Lohnzuwächse um 5,95 Prozent, die sich mit 620 Millionen Franken auf das Krankenkassenbudget auswirken werden. Nicht zu vergessen: der Plan hospitalier. Nach Ansicht eines UCM-Direktoriumsmitglieds werden nicht zuletzt die Belegärzte in den Kliniken von der Sorge umgetrieben, die geplante Reduzierung der Akutbetten werde einen Einnahmeverlust nach sich ziehen.

Durch welche grundlegende Reform im Gesundheits- und Sozialwesen ein dauerhaftes Plus im aller Krankenkassen gesichert werden könnte, fragt sich allerdings. Präzise Vorschläge dazu gibt die Ärzteschaft derzeit nicht bekannt, will nur die Regierung zur Diskussion über das Krankenkassengesetz von 1992 zwingen - bis 20. November, andernfalls wurden weitere Aktionen angedroht, bis hin zur einseitigen Kündigung der Konvention mit der UCM. Dass es so weit kommt, ist zwar unwahrscheinlich: diese Konvention regelt die kommerziellen Beziehungen zwischen der freien Ärzteschaft und der Krankenkassenunion, die Entwicklung der Arzthonorare wird zwar begrenzt durch eine Nomenklatur, die die Vergütung nur solcher Diagnose- und Therapieleistungen gestattet, die "nützlich und notwendig" sind, aber eine laufende Verhandlung darüber zwischen den Kassen und der Ärztevertretung vorsieht. Im Falle einer einseitigen Kündigung bliebe die Konvention für weitere zwölf Monate in Kraft, während ihre Neuverhandlung läuft. Haben die Vertragspartner nach neun Monaten keine Lösung gefunden, tritt ein unabhängiger Vermittler auf den Plan. Führt auch das nicht zur Einigung, entscheidet der Conseil supérieur de la sécurité sociale ohne jede Diskussion mit den Kontrahenten - und das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu Ungunsten aller Krankenversicherten, die ohne Konvention jede ärztliche Leistung aus eigener Tasche bezahlen müssten.

Aber dass sie viel stärker als Geschäftsleute angesehen werden - das möchte die AMMD für die freien Ärzte schon erreichen. Zwar spricht sie in ihren Handzetteln an die Patienten nicht davon, dass sie für eine Aufgabe des hundertprozentigen Solidarprinzips der Krankenversicherung in Luxemburg plädiert, wie sie es im Frühjahr den Koalitionsparteien und dem Gesundheitsminister vorgeschlagen hat. Immerhin ist Luxemburg das einzige EU-Mitgliedsland, in dem dieses Prinzip noch gilt; vor dem Hintergrund der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs, der zumindest ambulante ärztliche Leistungen als freie Ware auf dem EU-Binnenmarkt erklärt hat, sieht die AMMD scharenweise die Luxemburger ins Ausland zum Doktor ziehen. Dagegen verhindere das hier zu Lande geltende Prinzip, dass jeder Arzt sich niederlassen und bei den Krankenkassen seine Leistungen abrechnen dürfe, nicht nur eine vernünftige Bedarfsplanung, sondern auch Qualität durch Wettbewerb.

Dass die Solidargemeinschaft aufgekündigt und das Prinzip privater Vorsorge und mehr Privatmedizin eingeführt werden soll, verlangt die AMMD zwar mit ihrer Streikaktion nicht ausdrücklich, aber reden will sie mit der Regierung darüber. Und meint, dafür streiken zu müssen, weil die Diskussion vom Gesundheitsminister bisher mit dem Hinweis abgeblockt wurde, eine solche Reform sei nicht Bestandteil des Koalitionsprogramms. Der Widerstand der großen Gewerkschaften wäre einem solchen Vorhaben sicher.

Bei allem kommerziellen Interesse der Ärzteschaft - abgeändert sehen möchte die AMMD das großherzogliche Reglement von 1993, das die Anschaffung bestimmter Apparate für Privatpraxen untersagt und allein für Kliniken gestattet - weist sie dennoch auf bestehende politische Defizite hin. Durch die klientelistische Infrastrukturpolitik wurde zu viel Zeit verschwendet, die Diskussion um die Qualitätssicherung im Luxemburger Gesundheitswesen auch innerhalb des bestehenden Systems von Solidargemeinschaft und Konventionierung steht erst am Anfang. Auch die ärztliche Demografie hat sich in eine ungünstige Richtung entwickelt und zu einem Überangebot bestimmter Spezialisten geführt und zu einem Manko an Allgemeinmedizinern. Ein bislang ebenso ungelöstes Problem wie die Frage, ob die Belegärzte an den Kliniken stärker an ihre Häuser gebunden werden können, ob es gut ist, wenn sie nebenher noch eine Praxis betreiben und ob ihre Leistungen an den Kliniken nicht noch stärker kontrolliert werden sollten: bislang sind diese Mediziner allein der Klinikdirektion rechenschaftspflichtig, doch nicht alle Direktionen kontrollieren Diagnose- und Therapieleistungen. Für die Krankenkassenunion ist diese Frage "eine besonders harte Nuss, die noch geknackt werden muss".

Dass die Krankenversorgung nicht billiger werden dürfte, ist absehbar. Für die Gewerkschaften ist das Solidarprinzip unantastbar, die AMMD, wenngleich sie den Staat als Kontrolleur nicht mag, möchte ihn für die Zahlung stärker in die Pflicht nehmen: das Gesundheitswesen müsse Wirtschaftsförderung erhalten, notfalls müsse die Krankenversorgung eben stärker fiskalisiert werden.

Dass die Regierung am Status quo rütteln wollte, ist allerdings zu erkennen. Fürs erste soll sich mit diesen fundamentalen Fragen allein der Gesundheitsminister befassen - und das soziale Stehvermögen der DP vorführen. Carlo Wagner werde sich "nach den Allerheiligenferien mit den Ärztevertretern treffen, um das Problem zu lösen", bemerkte Premier Jean-Claude Juncker während des Pressebriefings am vergangenen Freitag lapidar zum Thema Ärztestreik. Ähnlich wie vor einem Jahr, als der liberale Kabinettskollege auf Geheiß seines Chefs sich "in Dialog und Konsens" um einen Abbau des Krankenkassendefizits bemühen sollte. Und auch in den Oppositionsreihen scheint man den Ärztestreik als interessantes Spiel anzusehen, bei dem liberale Ärzte gegen einen liberalen Minister antreten: Lucien Lux, sozialpolitischer Sprecher der LSAP, legte Carlo Wagner in einem tageblatt-Interview ans Herz, das umstrittene Gesetz doch einfach zurückzuziehen.

Peter Feist
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