Leistungsabbau nach dem Krankenkassendefizit

Nicht nur Kreislaufmittel

d'Lëtzebuerger Land du 16.11.2000

Der Mann hatte einen Schlaganfall. Seither verschreibt ihm sein Arzt regelmäßig kreislauffördernde Medikamente. Doch seit dem 1. Januar erstatten die Krankenkassen keinen Franken mehr auf diesen Medikamenten zurück. Als die Kassen vor einem Jahr mit Sparmaßnahmen ihr Haushaltsloch füllen mussten, hatten sie angeblich nach französischem Vorbild herausgefunden, dass Kreislaufmittel im Grunde keine heilende Wirkung hätten, also nicht zurückerstattet gehören.

 

Während einer Gewerkschaftsversammlung war LCGB-Präsident Robert Weber dem Kreislaufpatienten begegnet, der klagte, nun monatlich mehrere 1 000 Franken aus eigener Tasche für Medikamente ausgeben zu müssen, die ihm sein Arzt doch wohl nicht grundlos verschreibe.

 

Deshalb verlangten OGB-L und LCGB, aber auch FNCTTFEL und Syprolux am Mittwoch während der Jahresversammlung der Krankenkassenvereinigung auf dem Kirchberg die "Rücknahme der Verschlechterungen". Denn insbesondere Kranke mit niedrigen Einkommen dürften nicht gleich dreimal zur Kasse gebeten werden: als Beitragszahler, über die Eigenbeteiligung und als Steuerzahler.

 

Für die mit Plakaten, Anzeigen, Postwurfsendungen und einer Protestkundgebung mobilisierenden Gewerkschaften hätte die Abschaffung der Eigenbeteiligungen von 1999 kein Problem dargestellt: deren Mehreinnahmen waren auf 322 Millionen Franken geschätzt worden, während die Kassen dieses Jahr einen Überschuss von 647 Millionen erwarten.

Das letzte Argument hatte aber am Freitag die Regierung den Gewerkschaften geliefert, als sie den Gesetzentwurf "auf Eis legte", der den freischaffenden Krankenhausärzten einen Sanierungsbeitrag abverlangen sollte. Damit war die Regierung nach dem Ärztestreik "in die Knie gegangen", wie die LSAP am Montag triumphierte. Aber sie hatte sich vor allem in neue Widersprüche verstrickt.

 

Sozial- und Gesundheitsminister Carlo Wagner versuchte am Dienstag vor dem Parlament die Forderung nach einer Rücknahme der neusten Eigenbeteiligungen mit der Feststellung abzuwehren, es habe sich vor einem Jahr um einen Teil eines Maßnahmepakets gehandelt, deshalb könne "nur alles oder nichts zurückgezogen werden". Interpellant Mars di Bartolomeo (LSAP) verlangte natürlich prompt, so wie für die streikenden Ärzte "auch die Verschlechterungen der Versicherten auf Eis zu legen und mit ihnen den Dialog zu führen".

"Ein Streik, kann man das einen Streik nennen?" hatte der Minister unter dem Gelächter der Kammer den Ärzteprotest herunterzuspielen versucht. Und der Präsident der Ärztevereinigung machte wieder eine Zigarettenpause im Treppenhaus.

 

Für Wagners Partei geht es nicht bloß um Kreislaufmittel. Auch wenn der belgische Lieferant nach Angaben des Ministers den Verkaufspreis inzwischen gesenkt habe, um den Markt nicht zu verlieren.

 

Die DP gab schon im Frühjahr bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Ärzten zu verstehen, dass sie voller Verständnis für ihre Lage sei und keineswegs darauf bestehe, auch ihnen Sanierungsopfer abzuverlangen. Vielmehr sei es der Koalitionspartner CSV, der die DP zwinge, sich bei den oft liberal wählenden Heilkünstlern unbeliebt zu machen. Wobei offen bleibe, ob es den Christlichsozialen um hehre Prinzipien, wie soziale Ausgewogenheit bei den Sanierungsopfern, gehe oder um niedrige Beweggründe, wie Neid und Rachsucht gegenüber der DP, der sie immer noch nicht den Wahlsieg und den Erfolg im öffentlichen Dienst verziehen hätten.

 

CSV-Premier Jean-Claude Juncker hatte offiziell nie einen Grund gesehen, um sich in den Konflikt zwischen DP-Minister und Ärzten einzumischen, und halb ironisch immer wieder sein Vertrauen in das Verhandlungsgeschick des Gesundheitsministers beteuert. Die Ärztevereinigung strengte sich dagegen auffällig an, den Gesundheitsminister zu schonen und die Verantwortung auf den Premier- und Haushaltsminister und die Gesamtregierung abzuwälzen. Noch am Freitag spottete Juncker über die Nachsicht des Generalsekretärs der Ärztevereinigung - selbst Sohn eines ehemaligen DP-Ministers - gegenüber "dem Gesundheitsminister aus seiner Partei".

 

Und auch die CGFP und FGCF kamen dem liberalen Minister zur Hilfe. Sie scherten bei der Abstimmung in der Krankenkassenunion am Mittwoch aus der Gewerkschaftsfront aus und schlugen sich auf die Seite der Regierung und des Patronats. Für OGB-L-Präsident John Castegnaro war das keine logische Folge der Abmachungen vom letzten Jahr, wie die Beamtengewerkschaften behaupteten, da sich ihnen ja auch die Ärzte widersetzten, sondern ein Dankeschön an die DP für das Gehälterabkommen im öffentlichen Dienst.

 

Doch seit der LCGB mit ganzseitigen Anzeigen bluttriefender Geldbörsen im Luxemburger Wort gegen die Gesundheitspolitik mobilisiert, fühlt sich die DP regelrecht vom Koalitionspartner in eine Falle gelockt. Denn für sie ist der LCGB eine nicht an die Regierungssolidarität gehaltene Tarnorganisation, die von der CSV vorgeschickt wird, um den Koalitionspartner zu demontieren.

 

Dabei scheint die CSV gar keine Tarnorganisation nötig zu haben. Denn als mandatierter Sprecher der CSV-Fraktion während der Interpellation am Dienstag meinte Marcel Glesener verständnisvoll vor dem Parlament: "Die Frage, ob die beschlossenen Sparmaßnahmen bestehen bleiben sollten und ob weitere Sparmaßnahmen nötig sind, ist berechtigt." Deshalb sollten die Krankenkassenvereinigung während ihrer Versammlung diese Woche "überlegen, ob nicht einzelne Anstrengungen, welche die Versicherten 1999 leisten mussten, revidiert werden könnten". 

 

Damit hatte die CSV den DP-Minister desavouiert und sich auf die Seite der Gewerkschaften und der Opposition geschlagen, auch wenn sie die Entschließungsanträge der LSAP dann wieder ablehnte. Nachdem er auch noch den von Wagners Spitalplan vorgesehenen Abbau von Akutbetten als voreilig und gefährlich kritisiert hatte, riet Glesener dem Minister, er solle "sich zu Herzen nehmen, was seine Partei während des Wahlkampfs nicht müde wurde zu predigen. Ich meine damit den Dialog, und das mit allen Betroffenen".

 

Doch auch dieser Verrat und die Unfähigkeit seiner sichtlich überforderten Fraktion, ihm zu Hilfe zu eilen, konnte die Leutseligkeit des Gesundheitsministers nicht erschüttern. Wagner bestand weiterhin auf der Beibehaltung aller Eigenbeteiligungen. Ihre Abschaffung würde nach Berechnungen der Krankenkassenunion nämlich bis 2003 zu einem kumulierten Krankenkassenloch von 2,2 Milliarden Franken führen. Dennoch warf der Minister Ballast ab und versprach, angesichts des "empfindlichen Gleichgewichts" in den Krankenkassenfinanzen abzuwarten, "was sich nächstes Jahr ergibt, und dann gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen". Dabei weiß der Minister, dass den Krankenkassen 2002 schon wieder rote Zahlen drohen.

 

So war von vornherein klar, wie die Jahresversammlung am Mittwoch ausgehen würde. Denn das Gesetz von 1992 gibt Gewerkschaften und Patronat je 210 Stimmen, so dass sie sich gegenseitig neutralisieren und die einzige Stimme des von der Regierung beauftragten Vorsitzenden der Krankenkassenunion ausschlaggebend ist. Dass dies eine Scheindemokratrie sei und die Selbstverwaltung der Krankenkassen eine Illusion, wurde auch in der Vergangenheit bemängelt. Doch bisher zählte die Regierung jedesmal darauf, dass sich der Sturm der Entrüstung nach der Jahresversammlung wieder bis zum November des folgenden Jahres legte.

 

Diesmal wollen die Gewerkschaften, die am Mittwoch vor dem Versammlungssaal auf Kirchberg demonstrierten, den Konflikt nach außen tragen und weitermachen. Der OGB-L lancierte bereits das Stichwort "Generalstreik", der LCGB drohte, den Vorstand der Krankenkassenvereinigung mit "unorthodoxen Methoden" funktionsunfähig zu machen. So wollen sie Druck auf die Regierung und vor allem auf den Gesundheits- und Sozialminister ausüben, der nun in Verhandlungen mit den Ärzten diese doch noch zu freiwilligen Sanierungsopfern bewegen muss.

 

Währenddessen wird die Forderung nach einer Reform des 92-er Krankenkassengesetzes immer lauter. Auch wenn die Erwartungen manchmal entgegengesetzt sind. Die Gewerkschaften verlangen eine solche Reform, um die Entscheidungsprozeduren effizienter zu machen und die Krankenkassenfusion abzuschließen. Tatsächlich verspricht das Koalitonsabkommen zumindest eine Reform der Abstimmungsprozedur. Auf Patronatsseite wird dagegen immer wieder der Ruf nach einer höheren Eigenbeteiligung der Patienten laut, so dass die Entwicklung der Lohnnebenkosten gebremst werden könnte. Die Ärztevereinigung stellt dagegen das System der Konventionierung in Frage und verlangt mehr Marktwirtschaft. Das Gesetz soll schließlich auch das Decker-Kohll-Urteil über den freien Verkehr medizinischer Dienstleistungen berücksichtigen. Carlo Schroell (DP) meinte am Dienstag während der Parlamentsdebatte, dass die Gesundheit ein Wirtschaftssektor sei, den es auszubauen und zu fördern gelte, und fand, dass die gesetzlichen Krankenkassen nur noch die mittleren und großen Risiken übernehmen sollten.

 

Die CSV schlug am Dienstag vor, als Vorbereitung zur Gesetzesreform nächstes Jahr eine parlamentarische Orientierungsdebatte über die Krankenversicherung und das Gesundheitswesen zu führen. Doch allzu groß dürfte zu Beginn einer neuen Rentendiskussion die Begeisterung des Sozialministers und der Regierung für diese Reform nicht sein. Denn bei der Verabschiedung des Gesetzes 1992 hatten die Ärzte tagelang gestreikt und die Gewerkschaften im letzten Augenblick einen Generalstreik abgesagt.

 

 

Romain Hilgert
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