Ungleichheiten im Presse- und Bibliothekswesen Luxemburgs

Demokratisches Schutzbedürfnis

d'Lëtzebuerger Land du 06.04.2018

„This is not America“, so ein berühmter David-Bowie-Songtitel. Und doch wächst in Europa auf manchen Gebieten der US-amerikanische Einfluss. So gibt es zum Beispiel in unserem südlichen Nachbarland erste Anzeichen dafür, dass „besorgte“ Eltern, Großeltern oder bestimmte Gruppen öffentliche Medien auf Träger von Gemeindebibliotheken hetzen – weil dort für Kinder „ungeeignete“ Bücher angeboten würde. In den USA traf es sogar einmal das von den Vereinten Nationen unterstützte Buch For every child, a better world / by Kermit the Frog (1993). Die Begründung: Zu viele Informationen über Kinderarmut würden dem Kindeswohl schaden.

US-amerikanische Bibliothekare antworten auf solche Provokationen mit „banned books weeks“. Dort wird solchen Anstoß erregenden „bösen“ Büchern regelmäßig ein besonderes Schaufenster geboten, Medienaufmerksamkeit ebenfalls. Die Wirkung der jährlichen Skandalbücherschaustellungen auf die Ausleihstatistik ist positiv. Bibliotheken in den USA, darunter vor allem die zahlreichen public libraries, verstehen sich als Garanten eines Informationspluralismus und damit als Horte einer wohl funktionierenden Demokratie. Die dortigen Bibliothekare stellen sich gerne als Informationen zusammentragende Vettern der Journalisten vor.

Verwandtschaftsverhältnisse

Eine gewisse Verwandtschaft kann nicht geleugnet werden: Journalisten sind nebenbei oft Sachbuch- oder Romanautoren. Zwangsläufig begegnen sich Produktion (Verfasser) und Verbreitung (Buchhandel und Bibliothekswesen) im breiten Buchwesensbereich nicht nur häufig, sondern sind auch aufeinander angewiesen.

Journalisten und ihre (zu) stillen Komplizen, die Bibliothekare, treten gerne als Wachhunde der Demokratie auf. Beide mögen autoritäre politische Systeme nicht besonders. Denn diese mischen sich nur zu gerne in ihre tägliche aufklärerische Arbeit ein. Der große Unterschied: Medien können Regierungen stürzen, Bibliotheken nicht. Staatliche schon gar nicht.

Meinungsbildung gehört bei beiden Berufsgruppen zum Kerngeschäft, wobei die Lautstärke der einen größer und extrovertierter erscheint. Aktuelle und verlässliche Information aber bieten beide. Wie Medienschaffende verbreiten auch Bibliothekare sorgfältig recherchierte Informationen, die sie allerdings vor allem langfristig hüten.

Eine Neutralität gibt es nicht. Politische Aspekte spielen sowohl bei Journalisten als auch bei Bibliothekaren eine Rolle. Obschon Bibliothekare in einem „espace public ouvert, neutre“ agieren, können sie nie vollständig politisch neutral sein. Sie gehören zur jeweiligen Gesellschaft – und diese bestimmt den kulturellen und politischen Kontext (Merklen, 2013).

Juristisch gelten für beide Berufszweige identische Rechte und Pflichten. Die Europäische Menschenrechtskonvention (1950), garantiert in ihrem Artikel 10 die Meinungsfreiheit auch im Bibliotheksbereich – und zeigt gleichzeitig die Grenzen auf. Wie beispielsweise beim Urheberrecht, Daten- sowie Kinder- und Jugendschutz (d’Land, 17/2017).

Schutzbedürfnis

Wovon Bibliothekare im Gegensatz zu Journalisten träumen, ist ein gesetzlicher Schutz zur Ausübung ihres Berufes. Während Medien sich gegen jeden Einfluss von Parteien wehren (oder es versuchen), kämpfen vor allem die vor 1940 als „Volksbüchereien“ bezeichneten öffentlichen Bibliotheken heute gegen jede mögliche Regierungsbeeinflussung. In Luxemburg wirkten etwa hundert Jahre lang „Kampfbibliotheken“ (Martha, Nic., Bulletin communal, Luxembourg, 31.07.1886), um ihre jeweilige Ideologie durch entsprechende Bücher unters Volk zu bringen. Das geschah stets ohne Gewinnzweck. Denn der Vorteil von Bibliotheken besteht darin, dass ihre Dienstleistungen und ihre Bestände einen gewissen Pluralismus ohne Gewinnzweck gewährleisten können. Jedoch käme kein heutiges Luxemburger Medienimperium mehr auf die Idee, Geld in Bibliotheken zu investieren.

Sowohl das Bistum Luxemburg als auch der Letzeburger Arbechterverband (LAV) begannen, sich Ende der 1960-er Jahre aus der Meinungsverbreitungssparte „Bibliothek“ zurückzuziehen. In den 1970-er Jahren sprang der Staat ein. Im in Sachen Bibliothekswesen bis zum heutigen Tag unerfahrenen Großherzogtum übernahm somit die Regierung konkurrenzlos und unbemerkt die politische (Medien-)Kontrolle. Einer der wenigen Denkfehler, der einem Kulturminister Robert Krieps vorgeworfen werden kann, ist die Einführung eines staatlichen (!) Bicherbus. Hätte sich Krieps 1978 an seiner üblichen Inspirationsquelle, nämlich Frankreich, statt an Belgien orientiert, gäbe es heute in Luxemburg wohl eine demokratischere Bibliothekslandschaft. 2010 wurde die Dominanz der Regierung in nichtstaatlichen Bibliotheken noch einmal drastisch verstärkt. Stadt- und Dorfbibliotheken wurden durch das Gesetz vom 24. Juni 2010 „relative aux bibliothèques publiques“ zu Quasi-Staatsbibliotheken und somit zu Regierungssprachrohren, falls sie nicht von einer staatlichen Finanzhilfe ausgeschlossen werden wollen (d’Land, 13/2013).

Anti-Missbrauchs-Notwendigkeit

Das heimische Volksbibliothekswesen benötigt dringend ein Anti-(Staats-)Machtmissbrauchsgesetz. Ähnlich dem Gesetz „sur la liberté d’expression dans les médias“. Warum? Weil Teile des Personals der öffentlichen Bibliotheken bis heute von bestimmten staatlichen (!) Inspek­tionen traumatisiert sind. Es handelt sich allerdings nicht um die von 1943, durchgeführt von „Fräulein Knab“ von der Staatlichen (!) Volksbüchereistelle Trier (Pletschette, De Biergmann, 24.04.1954), sondern peinlicherweise um die einer anscheinend oft zu eigenmächtig handelnden Beamtin des Kulturministeriums in den Jahren 2010 bis 2011. Im 21. Jahrhundert, wohlverstanden! Es ist in diesem Zusammenhang eher beunruhigend, zu wissen, dass ein am 22. April 2010 vom Parlament einstimmig beschlossenes Bibliotheksgesetz dem Staat (!) dies in der Tat erlaubt. Könnte hier etwa dringender Reformbedarf bestehen?

Zusätzlich zur Mediengesetzgebung wünschen sich Bibliotheken, insbesondere die der kommunalen Art, einen wirklich ernst gemeinten Respekt der Gemeindeautonomie. Denn im Nur-zwei-Ebenen-Ländchen (Staat und Kommunen) fehlt ein Zwischenniveau, wie es in Flächenstaaten Bundesländer, Départements oder Provinzen sind. Erwähnen wir, dass es seit 1839 nur eine historische Periode gab, in der die Gemeinde­autonomie in unserer Heemecht nicht existierte: im totalitären NS-Staat, 1940-1944 („staatliche Volksbibliotheken“, d’Land 5/2015). Könnte es vielleicht sein, dass die autonomie communale als wichtiger Gradmesser einer gesunden Demokratie gilt?

Theoretisch könnte der Staat eine möglichst neutrale, unabhängige Verantwortung in Fragen, die das öffentliche Bibliothekswesen betreffen, an eine Organisation in der Rechtsform einer Stiftung abgeben. Mit dem Zentrum fir politesch Bildung wurde diese Organisationsform hierzulande erstmals ausprobiert. Im dezentralen „Kleinstaat“ Schweiz verfährt man seit 1921 (Beispiel: Bibliomedia) etwas weiter.

Medienauswahlunabhängigkeit

Ein Mindestschutzgesetz könnte zum Beispiel das Verhältnis des Bibliotheksleiters gegenüber seinem Träger regeln. Ebenso könnte eine seit circa 150 Jahren existierende Bibliothekar-Qualifikation geschützt und aufgewertet werden. Doch das sind Nebenschauplätze angesichts des heiligen libre choix des Bibliothekars. Das rheinland-pfälzische Landesgesetz vom 03. Dezember 2014 zum Erlass eines Bibliotheksgesetzes und zur Änderung und Aufhebung weiterer bibliotheksbezogener Vorschriften nennt dies in Paragraph 2 die „Unabhängigkeit bei der Medienauswahl“: „Die für die Benutzung durch die Allgemeinheit bestimmten Bibliotheken sind bei der inhaltlichen Auswahl ihrer Medien unabhängig“ (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Rheinland-Pfalz, Nr. 18, 12.12.2014). Klingt dies nicht einem Mediengesetz gleichartig?

Nebst einer loi anti-abus, um den Grad der Abhängigkeit von der Regierung auf ein demokratisches Minimum zu beschränken, wäre, wie bei Journalisten, ein Ethikkodex von Nutzen. Internationale mehrsprachige Vorgaben (IFLA) zum Kopieren existieren bereits. Ein code de déontologie könnte Bibliothekaren helfen, sich zum Beispiel gegen einen Scientology-Hausierer zu wehren. Im März 2010 versuchte dieser Sektenvertreter insbesondere öffentlichen Bibliotheken mittels eines gerade neu erschienenen luxemburgischen Bibliotheksführers systematisch Ron-Hubbard-Publikationen unterzujubeln.

Entwicklungsland

Die hiesige Medienlandschaft gehört mehrheitlich zur Privatwirtschaft. Bei öffentlichen Bibliotheken sieht dies, im europäischen Vergleich ungewöhnlich, ähnlich aus: Die Mehrzahl der „Volksbibliotheken“ unterliegt dem Privatrecht, Träger sind nämlich eingetragene Vereine (ASBL). Das Bibliothekspersonal besteht dadurch vorwiegend aus Privatangestellten. Bei Presse, Radio, Fernsehen und Internet ist ein service public marginal (Media Pluralism Monitor 2016), ebenso im einheimischen Volksbibliothekswesen.

„Wat d’Zuel vun den öffentleche Bibliothéiken ugeet, esou si mir haut zu Lëtzebuerg am internationale Verglach en Entwécklungsland“, erklärte der 2011 verstorbene CSV-Abgeordnete Mill Majerus in der Parlamentssitzung am 22. April 2010. Von 105 Kommunen besitzen aktuell nur 14 eine öffentliche Bibliothek. Seit dem Bibliotheksgesetz von 2010 herrscht Stillstand; diese Zahl hat sich keineswegs erhöht. Monolinguale Sprachförderungsbibliotheken, wie zum Beispiel die Biblioteca Italiana, sind dabei nicht mit eingerechnet. Denn diese werden, der Pressehilfe vergleichbar (zum Beispiel die Wochenzeitung Contacto), von jeder Förderung bibliotheksgesetzlich ausgeschlossen.

Nach internationalen Richtlinien sollten öffentliche Bibliotheken in Kommunen ab einer Größe von 3 000 Einwohnern existieren. In Luxemburg müsste es demnach 48 öffentliche Bibliotheken geben. Fast das Dreifache des Ist-Zustandes: 17! Entwicklungsland Luxemburg, quod erat demonstrandum.

Fazit

„Déi Pressehëllef ass e wichtege Garant vu Qualitéit a vu Pluralismus. Et ass eis wichteg, dass déi Jonk zu Lëtzebuerg opwuesse mat engem Choix u verschiddene Vuen. Et soll eis bewosst sinn, dass dat keng einfach Subside fir Paien, mee Investitiounen an d’Demokratie sinn“, sagte Premier Xavier Bettel in seiner Erklärung zur Lage der Nation am 26. April 2017. Qualität, Pluralismus, Demokratie – das passt. Na dann die gleiche Förderung für Bibliotheken bitte! Und um jede zukünftige politische Einmischung in die Meinungsvielfalt in Bibliotheksbeständen möglichst zu vermeiden, wäre eine der für die Medienlandschaft ähnliche nationale Gesetzgebung, bestehend aus zwei Gesetzen und einem Ethikkodex im Bereich der Volksbibliotheken überaus hilfreich. Da die Parlamentswahlen nahen, hier ein Hinweis: Dies passt in jedes Wahlprogramm einer sich demokratisch gebenden Partei! Nichts zu danken.

Jean-Marie Reding ist Bibliothekar.

Jean-Marie Reding
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