Sei kein Ken!

d'Lëtzebuerger Land du 07.08.2020

A.I.T.A. – Am I The Asshole? So heißt ein Forum auf der Onlineplattform Reddit, das sich großer Beliebtheit erfreut. Es ist so etwas wie ein virtueller Beichtstuhl: Dort können Extrovertierte anonym Dilemmata aus ihrem Leben einstellen. Nur kommentiert nicht der gestrenge Pfarrer, sondern die anderen Foren-Mitglieder.

Und das schonungslos: Sie beurteilen, getreu dem Kürzel A.I.T.A, wer sich im Plot mies verhalten hat und wer nicht. Das moralische Verdikt erfolgt oft wenige Minuten nach der Veröffentlichung … und im Schwarm. So wie bei dem Mann, der unlängst erzählte, er sei vom Arzt zu seiner Frau ins Krankenhaus gerufen worden. Dort bekommt er die Nachricht, sie habe Gebärmutterkrebs im fortgeschrittenen Stadium und nur eine Totaloperation, die Entfernung beider Eierstöcke, könne die Ausbreitung des aggressiven Krebs stoppen und ihr Leben retten. Die Ehefrau, so steht es im Post, ergreift daraufhin seine Hand und sagt tapfer: „Das stehen wir gemeinsam durch. Und wir können adoptieren.“ Der Ehemann indes ignoriert die Geste und stürmt aufgebracht aus dem Krankenhaus. Er wollte unbedingt Kinder; seine Frau habe sich mit Mitte 20 statt für Nachwuchs für die Karriere entschieden, schreibt er erbost. Die Partnerin lässt er mit der Diagnose zurück.

Y.T.A. – You are The Asshole lautete das nahezu einhellige Votum der rund 800 Hobby-Moralist/innen noch am selben Tag. Manch eine/r kann gar nicht glauben, dass sich die Geschichte so zugetragen haben soll. Aber sogar als erfundene Handlung sei das Verhalten des Ehemanns unsäglich, herzlos und egoistisch, urteilt der Internet-Chor. Ein veritables Arschloch halt.

Ein A.I.T.A-Test wäre auch gut für die zahlreichen Coronaskeptikerinnen, Impfgegner und Anhänger kruder Verschwörungstheorien, die in Bussen und PKWs zu Tausenden am vergangenen Samstag in die deutsche Hauptstadt nach Berlin strömten – laut Twitter auch aus Luxemburg –, um dort ohne Maske und Sicherheitsabstand zwischen Reichsbürgerflaggen und Nazi-Emblemen, mit Birkenstocksandalen, Hippiehaaren und Protestschildern gegen die Corona-Hygieneauflagen zu protestieren.

Vielleicht hätten sie dann mit(geteilt) bekommen, dass sich in Massen durch Bahnhöfe und in die U-Bahn zu drängen, um für die eigene Maskenfreiheit zu demonstrieren, in der Tat, pardon, arschlochmäßig ist: gegenüber denjenigen, die Angst vor Ansteckung haben, die zur Risikogruppe zählen und die, um sich im öffentlichen Raum einigermaßen geschützt bewegen zu können, darauf angewiesen sind, dass es Menschen gibt, denen die Gesundheit anderer so wichtig ist, dass sie Mund- und Nasenschutz ohne Zögern aufsetzen. Möglicherweise sogar obwohl sie selbst finden, das Virus könne ihnen nichts anhaben, und sie nicht überzeugt sind, dass ein Stück Stoff mehr Schutz bringt. Maske schützt nicht zu hundert Prozent, ist aber besser als nichts, wie Studien belegen.

Doch kollektive und individuelle Rücksichtslosigkeit liegt im Trend. Neben wandernden Wahnwichteln, die Bill Gates vorwerfen, das Coronavirus erfunden zu haben, um mit einem Impfstoff den großen Reibach zu machen, und die den Staat als Kinder verspeisende die Welt umspannende Elite bekämpfen, greift zeitgleich das Karen-Phänomen (bei den Männern: Ken) um sich. Der Name ist unglücklich gewählt. Was können die Leute für ihren Vornamen; die meisten bekommen ihn von den Eltern: Jean-Paul Michael, weil die Familientradition das so will, Denise oder Charlotte, weil Vati es als junger Mann nicht zum Studium nach Paris schaffte, oder David-Dylan und Hannah-Ida, weil Doppelnamen bei der Generation Y hipp sind.

Karen oder Ken also heißen in den Vereinigten Staaten jene durch die Bank weißen Frauen und Männer, die selbstgerecht Parkplätze blockieren, rücksichtslos in Läden einmarschieren, wo sie wahlweise rassistische und andere Schmähungen von sich geben sowie ein unmaskiertes Einkaufserlebnis einfordern. Gemeinsam zeichnet die Karens und Kens dieser Welt aus, dass sie voller Zorn sind, fast immer herumschreien und in ihrem Anspruchsdenken besonderes gut über die eigenen Freiheitsrechte Bescheid wissen, aber merkwürdigerweise nie über die der anderen. Aufgezeichnet werden ihre Wutausbrüche meist von jungen Tiktok-Fans, die diese Videos dann ins Netz stellen und spöttisch kommentieren.

Man wünscht sich indes, diese Freiheitsfreunde würden den Kantschen ethischen Leitsatz kennen, der da lautet: Die eigene Freiheit endet da, wo die der anderen beginnt. Gemeint ist, dass mensch tun und lassen kann, was er, sie, es will – solange das eigene Handeln nicht die Freiheit anderer verletzt. Freiheit ist also nicht nur ein Recht, sondern kommt mit Pflichten, zuallererst die der gegenseitigen Rücksichtnahme. Dieser Freiheitsbegriff scheint den Coronaskeptikern, Verschwörungstheoretikerinnen, besser und schlechter getarnten Anti-Demokrat/innen allerdings nichts zu sagen. Vielleicht verstehen sie die englischsprachige Version à la Oliver Wendell Holmes besser: „The right to swing your fist ends where the other [wo-]man᾽s nose begins.“

Ines Kurschat
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