Die nicht enden wollende Wirtschaftskrise hat ganz unerwartete Nebenerscheinungen. Nun soll sie sogar mit dem Ausländerwahlrecht bei Legislativwahlen die parlamentarische Demokratie weiterbringen

43 Prozent Neuwähler

d'Lëtzebuerger Land du 15.02.2013

Vor zwei Wochen hatten die Handels- und die Handwerkskammer zusammen mit der Associa­tion de soutien aux travailleurs immigrés (Asti) im Kirchberger Auditorium der Handelskammer eine Konferenz organisiert, um für die Beteiligung von Ausländern an den Legislativwahlen zu werben. Nicht nur die Koalition war auffällig zwischen den beiden Patronatskammern und einem Verein, der in der großen Krise der Siebzigerjahre gegründet worden war, um eingewanderte Maurer und Putzfrauen vor Ausbeutung und Rechtlosigkeit zu schützen.

Auch das scheinbar aus heiterem Himmel vorgegebene Thema konnte überraschen. Denn die Idee, Staatsbürger anderer Staaten an den Parlamentswahlen und damit zumindest indirekt an der Gestaltung und Regelung des Staatswesens zu beteiligen, galt bisher als verwegen, in den Neunzigerjahren noch als Tabu. Derzeit gibt es nur eine Handvoll Staaten weltweit, wo Ausländer zu den Legislativwahlen zugelassen sind, wie Neuseeland, Chile oder Uruguay. Die Vorstellung, dass erst die Staatsbürgerschaft und nicht das Ius soli das Recht gibt, über die Gesetze eines Staats mitzuentscheiden, ist in fast allen Ländern tief verankert.

Angesichts von Überfremdungsängsten, die kurzzeitig sogar rechtsradikale Parteien aufkommen gelassen hatten, hatte Luxemburg sich sogar bei der durch den Maastrichter Vertrag 1992 aufgezwungenen Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts noch Ausnahmebedingungen ausgehandelt, wie eine längere Mindestaufenthaltsdauer und das Verbot für Ausländer, Bürgermeister oder Schöffen zu werden.

Diese Überfremdungsängste haben sich weitgehend gelegt, die Ausnahmeregelungen wurden abgebaut, seit sich zeigte, dass das Interesse der Ausländer an den Gemeindewahlen gering ist und ihr Wahlverhalten sich kaum von demjenigen der Luxemburger unterscheidet. Eine in der Handelskammer vorgestellte Meinungsumfrage zeigte sogar, dass vergangenes Jahr mehr als die Hälfte, 59 Prozent der von TNS-Ilres befragten Luxemburger Staatsbürger über 18 Jahren bereit waren, hierzulande wohnende Ausländer nach einer gewissen Aufenthaltsdauer an den Parlamentswahlen teilnehmen zu lassen. 2005 waren es bei einer ähnlichen Umfrage schon 57 Prozent.

Der Asti kommt die Koalition mit den Patronatskammern gelegen. Denn die Handelskammer verhilft der lange als extrem und unrealistisch abgetanen Asti-Forderung zu Respektabilität und lässt sie so vom linksalternativen Rand in den politischen Mainstream gleiten. Die Handelskammer scheint ihrerseits interessiert zu sein, dass ausländische Führungskräfte der Privatwirtschaft, wenn nicht nächstes Jahr, so doch vielleicht 2019, an den Parlamentswahlen teilnehmen können.

Denn für die Patronatskammern widerspricht das gegenwärtige Wahlgesetz ihren Interessen, weil die Beamten des öffentlichen Dienstes fast allesamt Luxemburger und damit voll wahlberechtigt sind, während zahlreiche Mitglieder anderer Berufsgruppen wegen ihrer Staatsangehörigkeit von den Wahlen ausgeschlossen sind. Dadurch sind Angehörige des öffentlichen Dienstes in der Wählerschaft und in der Abgeordnetenkammer überrepräsentiert. Nach Ansicht der Patronatskammern seien die Angehörigen des öffentlichen Dienstes aber der Privatwirtschaft gegenüber oft feindlich eingestellt, leugneten, wie die Beamtengewerkschaft CGFP, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und erwiesen sich als Bremser bei den angestrebten Strukturreformen.

Angesichts der nunmehr fünf Jahre währenden, tiefsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg klagte die Handelskammer in ihrem Gutachten zum Staatshaushalt für 2013: „Aux yeux de la Chambre de Commerce, le Luxembourg tarde à mettre en œuvre de véritables réformes structurelles (notamment au niveau de l’assainissement des finances publiques, du financement à long terme du régime de pensions, de la formation des salaires et des interventions étatiques dans ce domaine, ainsi que dans le contexte du chômage des jeunes). [...] Dans la situation de crise actuelle, le manque de gouvernance proactive, dessinant une feuille de route volontariste et des solutions à la hauteur des enjeux socio-économiques qui marquent notre pays, est saisissant.“ Das Ausländerwahlrecht bei der Zusammensetzung des Parlaments sieht die Handelskammer deshalb zumindest mittelfristig als ein Mittel, um neue Verbündete zu sammeln, mit denen sich das ihrer Ansicht nach durch das Wahlrecht blockierte politische Kräfteverhältnis im Land ändern lässt.

Aus diesem Grund zählt wohl auch die Berufskammer der Beamten und öffentlichen Angestellten zu den entschiedendsten Gegnern des Ausländerwahlrechts bei Legislativwahlen. Ihr Präsident Emile Haag rechnete Anfang des Monats in einem Interview mit der Zeitschrift Forum noch einmal vor, dass 43 Prozent der Wohnbevölkerung Ausländer seien, und warnte dramatisch davor: „leur accorder le droit de vote purement et simplement bouleverserait le fonctionnement normal de notre vie politique et mettrait en cause l’existence de notre Etat national“.

Vielleicht gelingt es der Handels- und der Handwerkskammer aber, mit ihrem Einfluss und ihren Mitteln einen entscheidenden Beitrag zu leisten, um das Ausländerwahlrecht bei den Kammerwahlen während der nächsten Legislaturperiode politisch mehrheitsfähig zu machen. Dann könnte am Ende die Wirtschaftskrise unter ihren vielen Nebenwirkungen auch der unverhoffte Auslöser für einen lange schwer vorstellbaren Fortschritt der parlamentarischen Demokratie werden.

Vierzehn Tage vor der Veranstaltung in der Handelskammer hatte schon der liberale LSAP-Wirtschaftsminister Etienne Schneider während einer Fernsehdebatte über den Wirtschaftsstandort die Polarisierung zwischen Staats- und Privatsektor beklagt und als Abhilfe vorgeschlagen, dass „die Leute, die hier arbeiten und wohnen“ auch „hier wählen können“, wenn sie „zwei oder drei Jahre hier sind“, und ohne die ganze Prozedur, um die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Damit sie „mitentscheiden, was mit dem Geld geschieht, das sie miterwirtschaften“. Dem schloss sich inzwischen auch sein Parteikollege, Vizepremier Jean Asselborn, an, der sich keine Gelegenheit entgehen lässt, um die LSAP als unverzichtbare Garantin des gesellschaftlichen Fortschritts im CSV-Staat erscheinen zu lassen.

Tatsächlich hieß es im Wahlprogramm der CSV von 2009: „Die CSV spricht sich weiterhin dafür aus, dass nur Staatsbürger Zugang zum Wahlrecht auf nationaler Ebene haben.“ Ähnlich kategorisch klang das nur noch im Wahlprogramm der ADR: „Bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer möchte die ADR, dass auch weiterhin nur luxemburgische Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht haben.“

Für die erfolgreich als Partei der Mitte auftretende CSV, die sich gerade ohne politischen Schaden an einer Abtreibungsreform beteiligt hatte und zu Zugeständnissen bei der Reform der Staatsbürgerschaft bereit ist, heißt es, sich nicht wieder im bevorstehenden Wahlkampf von LSAP, DP und Grünen in die konservative Ecke drücken zu lassen. Deshalb lavierte sie gleich in einer Presseerklärung: „Da das Wahlrecht ein wesentlicher Bestandteil der natio­nalen Souveränität ist, gilt es, vor allem auch die Luxemburger mit an Bord zu nehmen. Hauruckverfahren eignen sich nicht für große, zukunftsweisende Politik. Deshalb sollte man jetzt nicht aus der Hüfte schießen und das Wahlrecht für Ausländer auf ein einfaches Ja oder Nein reduzieren.“

Doch in Wirklichkeit ging vor vier Jahren auch im LSAP-Programm keine Rede vom Ausländerwahlrecht bei Legislativwahlen, sondern vorsichtig von den „Auswirkungen des Nationalitätsgesetzes auf die Wählerschaft“ und „parallel dazu wollen die Sozialisten Nicht-Luxemburgern die Teilnahme an nationalen Referenden ermöglichen und ihren Zugang zu Kommunalwahlen durch eine Senkung der Aufenthaltspflicht von bislang fünf auf zwei Jahre erleichtern“. In ihren Wahlprogrammen hatten lediglich die Grünen und die Linke versprochen, „allen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern das nationale Wahlrecht nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Luxemburg [zu] erteilen“, beziehungsweise „das nationale Wahlrecht für alle Einwohner (‚ci­toyen­neté de résidence‘)“ einzuführen. Die DP wollte sich nicht festlegen, aber immerhin „nach einer Bestandsaufnahme der bisherigen Integrationsmaßnahmen über die Ausdehnung des Wahlrechts auf die nationalen Wahlen nachdenken“.

So traf die neue Kampagne der Patronatskammern und der Asti manche Parteien aus heiterem Himmel. Schließlich sieht auch die große Verfassungsrevision, an der seit Jahren intensiv gearbeitet wird, einstweilen nicht vor, das Ausländerwahlrecht bei den Legislativwahlen zu ermöglichen. Der im April 2009 hinterlegte Revisionsentwurf übernimmt wörtlich den augenblicklichen Verfassungsartikel 52, in dem es heißt: „Pour être électeur, il faut: 1° être Luxembourgeois ou Luxembourgeoise [...] Pour être éligible, il faut: 1° être Luxembourgeois ou Luxembourgeoise.“ Dazu hielten auch die Regierung und der Staatsrat bisher keine Änderungsanträge für nötig.

Romain Hilgert
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