Handbuch der sozialen und erzieherischen Arbeit

Bestandsaufnahme

d'Lëtzebuerger Land du 24.12.2009

Nicht weniger als ein Meilenstein für den Sozialen Sektor sollte das Hand­buch der sozialen und erzieherischen Arbeit in Luxemburg sein, hatten die Herausgeber bei der Vorstellung des Buches gemeint. Das Bild mit dem Stein passt, auch ohne den Inhalt zu kennen: Mit seinen 2,7 Kilo schweren zwei Bänden und insgesamt 1 400 Seiten ist das Buch nicht gerade handlich. Mit dem Meilenstein-Anspruch ist aber nicht zu viel versprochen – was nicht so schwierig ist, denn mit dem zweisprachigen Werk, das von einem achtköpfigen Team um den Jugendforscher Helmut Willems der Forschungseinheit Inside der Uni Luxemburg herausgegeben wurde, wird zum ersten Mal überhaupt versucht, eine Bestandsaufnahme des Luxemburger Sozialsektors zu liefern.

Die Idee, die hiesige Sozialarbeit in all ihren Facetten zu erfassen, eine Art Landkarte des Sozialsektors zu liefern, gab es schon früher. Der Psychologe Robert Soisson hatte in den 1990-er Jahren von einer Art Sozialarchiv geträumt. Charel Schmit, Sozialforscher an der Uni Luxemburg, verfolgte die Idee gemeinsam mit einem Kollegen weiter, aber es sollte noch einige Jahre dauern, bis das Unternehmen in die Tat umgesetzt wurde. Ohne die tatkräftige Hilfe vom Sektor und die Organisation durch die Uni wäre das Buch in der kompakten Form wohl nicht entstanden. Über 150 Autorinnen und Autoren aus Theorie und Praxis, darunetr viele bekannte Namen, kommen mit über hundert Beiträgen zu Wort.

Das Ziel einer systematischen Bestandsaufnahme wurde zweifellos erreicht: Noch nie hat es ein Werk gegeben, das nahezu alle Felder der sozialen Arbeit Luxemburgs umfasst. Ob Jugend- oder Familienarbeit, Frühförderung und Kinderbetreuung, Schule, Altenhilfe oder Sozialstaat: Wer etwas über die Geschichte des Sozialstaats und der Sozialarbeit des Landes, ihre Einsatzfelder, Methoden und Konzepte sowie gesellschaftliche Entwicklungen wissen will, sollte das Handbuch lesen. Als Startpunkt für weitere Erkundungen eignet es sich allemal.

Dazu ist es übersichtlich gegliedert: Das erste Kapitel gibt einen kritischen Überblick der Geschichte der sozialen Intervention und der Entwicklung der Sozialversicherung. Daran schließt sich ein Überblick der Wirkungsgeschichte der Kongregationen, Anfangspunkt zahlreicher sozialer Dienste in Luxemburg an. Allerdings deutet sich in diesem Kapitel bereits eine Schwäche an, die sich durch den gesamten zweiten Band ziehen wird, wenn es um die Darstellung der einzelnen Bereiche geht: Weil vor allem Praktiker, die mit der Wissenschaft nicht (mehr) viel zu tun haben, ihre Handlungsfelder beschreiben, schwankt die Qualität der Beiträge sehr stark. Manche Einlassungen lesen sich wie ausformulierte Informationsbroschüren, trotz Supervision durch einen 26-köpfigen Wissenschaftsbeirat fehlt es oft an wissenschaftlicher Distanz. Viele Texte geben lediglich einen Überblick, mehr nicht. So stellt sich etwa das Wirken der Kongregationen als barmherziger Akt katholischer Schwestern dar, Machtinteressen, geschweige denn -kämpfe, bleiben außen vor.

Ähnliche Auslassungen oder Akzentsetzungen findet man in anderen Beiträgen. Wenn der ehemalige Direktor eines Kinderbetreuungsnetzes angibt, die Zusammenarbeit mit den Eltern sei „ein wichtiger unentbehrlicher Aspekt in der institutionalisierten Kinderbetreuung“ ist das zunächst ein Anspruch. Ob er eingelöst wird, müssen andere entscheiden. An unabhängigen empirischen Studien herrscht hierzulande Mangelware, eine Tatsache, die im Schlusskapitel nur kurz erwähnt wird. Richtig ärgerlich wird die Lektüre aber, wenn die wenigen existenten fachlichen Kontroversen noch dazu ausgeblendet werden und das Handbuch zur unwidersproche­nen Rechtfertigung politischer Programmatik verkommt: Das Maisons-Relais-Gesetz wird wegen seiner mangelnden Vorgaben in Sachen Qualitätssicherung vom Sektor heftig kritisiert, und wer ohne Vorkenntnisse das Kapitel über die CSV-dominierte Gleichstellungspolitik liest, muss den Eindruck gewinnen, sie sei eine einzige, wenngleich von Brüssel angeschobene Erfolgsstory.

Für Kenner der Szene gibt es kleine Entdeckungen: Im Text über die Resozialisierungsarbeit mit Gefangenen der Givenicher Haftanstalt gelangen erstmals Ergebnisse eines europäischen Equal-Projekts an die breite Öffentlichkeit. Wobei auch dessen Schilderung nicht sehr nuanciert ausfällt, vielleicht weil zum Autorenteam Gefängnisdirektor und Projektleiter zählen.

Auch über die angewandten Methoden und Praktiken ist nicht immer Fundiertes zu erfahren. Was eine realistische Abbildung des Sektors ist, denn nicht alle Dienste verfügen über klar erkennbare Konzepte, die Reflexion des eigenen Berufes und der Handlungsweisen ist oft noch unterentwickelt. Die junge Geschichte verschiedener Dienste und Angebote allein kann aber nicht der Grund sein: So ist der Beitrag über die erst seit wenigen Jahren existierende Streetwork vorbildlich in seinem Versuch, die Widersprüchlichkeiten des eigenen sozialarbeiterischen Handelns zu analysieren. Nicht immer nachzuvollziehen ist überdies die Gewichtung verschiedener Beiträge: Wozu einen Text über die Prävention von (Jugend-) Gewalt, aber keinen über die umstrittene Jugendhaftanstalt in Dreiborn? Vor allem aber vermisst der Leser Analysen zum Heute. Der Sektor ist im Umbruch, die Auswirkun­gen des Jugendhilfegesetzes etwa wer­den nur am Rande behandelt, obwohl es den Heimsektor dauerhaft prägen wird. Das neue Sozialhilfegesetz wurde soeben verabschiedet. Auch dazu findet sich im Handbuch wenig. Die theoretischen Ausführungen helfen zwar internationale Einflüsse auf die Sozialarbeit, ihre Profession, ihr Selbstverständnis zu verstehen, aber wie sich Luxemburg darin verortet, bleibt unklar. Die unterschiedlichen Theorieschulen und Ansätze (französischer travail social und deutsche Sozialarbeit) stehen unvermittelt nebeneinander.

Genügend Material also für ein Nachfolgewerk, das angeblich kommen soll. Trotz der zahlreichen inhaltlichen Schwächen: Die dreijährige Fleißarbeit hat sich insofern gelohnt, als mit dem Handbuch erste Tore in ein weites Feld geschlagen sind. Je mehr sich die Universität etabliert und die Professionalisierung des Sektors fortschreitet, traut sich der Nachfolger vielleicht, dann auch politisch-inhaltliche Kon­troversen aufzugreifen. Aber auch so dürfte das Handbuch schon jetzt ein Standardwerk nicht nur für Studenten und Fachleute sein.

Ines Kurschat
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