Dass erstmals seit bald 70 Jahren eine Geschäftsfrau der Regierung angehört, verursacht einen kleinen Kulturschock

Public-private Partnership

Xavier Bettel als Aushilfskraft in Corinne Cahens Schuhgeschäft im Wahlkampf 2013. Er ist heute Premierminister, seine Kundin, D
Photo: Patrick Galbats
d'Lëtzebuerger Land du 15.11.2019

Während der vorigen Legislaturperiode hatte Familienministerin Corinne Cahen das Kindergeld zu Lasten kinderreicher Familien gekürzt sowie die Erziehungs- und die Mutterschaftszulagen abgeschafft. Mit diesen Einsparungen, die Bezieher niedriger Einkommen härter trafen als hoher, erhöhte sie die Elternurlaubsentschädigung zugunsten von Angehörigen jener neuen Mittelschicht, die die Wahl­klientel der DP ausmacht.

Aber die seither bei der neuen Mittelschicht populäre Politikerin gehört der alten Mittelschicht an: Corinne Cahen ist die erste Geschäftsfrau in der Regierung seit 1951, seit Alphonse Osch, der vor dem Krieg einen Elektrikerladen betrieb. Das verursachte einen Kulturschock, mit dem sich nun sogar das Comité d’éthique für Regierungsmitglieder befassen soll.

Nach anfänglichem Widerstand bat die Ministerin und DP-Vorsitzende diese Woche Premierminister Xaver Bettel, das Komitee zu befassen, um Zeit zu gewinnen und politischen Druck abzulassen. Die drei nach dem Parteiproporz ausgewählten Politveteranen sollen darüber befinden, ob sich eine Ministerin in ihrem Amt für ihr Schuhgeschäft einsetzen darf und ob Regierungsmitglieder nicht nur Ertragshäuser, sondern auch eine möblierte Wohnung über AirBnB vermieten dürfen.

Corinne Cahen besitzt ein Schuhgeschäft im hauptstädtischen Bahnhofsviertel. Chaussures Léon ist ein vor bald einem Jahrhundert gegründeter Familienbetrieb, der während des Kriegs „arisiert“ worden war. Als sie Ministerin wurde, trat sie die Geschäftsführung an ihren Lebenspartner, danach an eine Angestellte ab. Lange Jahre war das Geschäft rentabel, in den vergangenen Jahren schrumpfte der Gewinn.

Die neuen Helden des Mittelstands sind die Start-ups, die hoch bezuschussten Ein- oder Zweimannfirmen, die die millionste Handy-App erfinden wollen und nach einem Jahr konkursreif sind. Sie gelten als modern und mutig, während der kleine Einzelhandel als uninteressant und konservativ gilt, von Cactus und Amazon sowieso zum Untergang verdammt. Er spielt keine Rolle in der Wirtschaftspolitik und in den Wahlprogrammen, und niemand weiß, was Mittelstandsminister Lex Delles (DP) den ganzen Tag über tut. Geschäftsleute erfahren keine Beachtung, kaum Solidarität und nicht einmal Mitleid. Oft üben sie sie selbst nicht, wenn sie ihren Laden für die Welt halten und ihn in einer gnadenlosen Konkurrenzwirtschaft gegen alle und jeden verteidigen wollen. Die Kleinbürger hinter der Ladentheke gelten oft als kleinkrämerisch, geizig und beschränkt.

Machen sie ausnahmsweise etwas von ihrer kostbaren Arbeitszeit dafür frei, haben Geschäftsleute es schwer in der Politik. Der Geschäftsmann René Mart, Inhaber eines Escher Teppichgeschäfts, war 20 Jahre lang Abgeordneter, aber die DP machte ihn nie zum Minister; sein Bruder, der Anwalt Marcel Mart, saß nie im Parlament, war aber von 1969 bis 1977 Minister. Seit 2016 weigert die LSAP sich, ihre Zweitgewählte im Ostbezirk, Tess ­Burton, die einen Geschenkladen in Grevenmacher betreibt, als Nachfolgerin von Nicolas Schmit in die Regierung aufzunehmen. Stattdessen machte sie vor einem Jahr die Beamtin ­Paulette Lenert, die sich keiner Wahl gestellt hatte, zur Ministerin.

Die Lohnabhängigen haben Gewerkschaften, die mehr oder minder energisch ihre Interessen vertreten, Unternehmerlobbys kämpfen für Industrie und Finanzen, die Exportwirtschaft. Aber dazwischen fühlt sich der Mittelstand – der Handel mehr noch als das Handwerk – vergessen. Das konnte die Ministerin, die in ihrer Seele noch immer Geschäftsfrau ist, nicht mit ansehen. Deshalb hatte sie am 11. April als Ministerin eine lange E-Mail an den hauptstädtischen Geschäftsverband geschickt, den sie für eine Art Gewerkschaft der Ladenbesitzer hält und dessen Präsidentin sie einst war. Darin beschwerte sie sich, dass der Verband tatenlos zusehe, wie Geschäfte im hauptstädtischen Bahnhofsviertel durch die Straßenbahnbaustelle vor ihrer Tür in den Ruin getrieben werden.

Sie schrieb auch von ihrem Einkommen, ihrem Schuhgeschäft und ihren Ausgaben. Wenn man Geld hat, heißt es in der DP, redet man nicht davon. Aber wenn man jeden Monat das Geld zusammenkratzen musste, um Löhne zu zahlen, schreibt man offenbar sogar als Ministerin darüber: „En ce qui me concerne, vous savez très bien que je n’ai pas besoin du magasin pour avoir un salaire, au contraire. Je veux que l’entreprise puisse continuer à exister afin que les 14 personnes qui y travaillent puissent continuer à avoir un salaire pour pouvoir vive. Et ce magasin a 95 ans, est situé avenue de la Liberté depuis 1924, et fait un peu partie du patrimoine de l’avenue et de la ville. J’ai investi 15 à 20.000€ dans la pub pour le magasin, nous avons une remise exceptionnelle de 20% sur toutes les chaussures pendant 3 semaines afin d’avoir une caisse un peu remplie avant le chantier pour pouvoir continuer à payer les frais et les salaires.”

In der ewigen Angst, dass die Mittelklasse zwischen den großen gesellschaftlichen Klassen von Kapital und Lohnarbeit zerrieben wird, dass das Kleinbürgertum ins Proletariat abrutscht, statt mit einem zweiten und einem dritten Laden in die Kapitalistenklasse aufzusteigen, gründeten kleine Geschäftsleute immer wieder konservative bis reaktionäre Verbände und Parteien, vom Parti libéral, Parti des indépendants de l’Est über den Parti des classes moyennes in den ersten Nachkriegsjahren bis zum Syndicat des indépendants et des classes moyennes. Sie waren meist kurzlebig und ihre Führungsleute fanden regelmäßig Unterschlupf am rechten Rand von DP und CSV.

Die DP war stets die Partei des Großbürgertums, lange der Großindustrie, die ihr Einfluss, früher auch Geld und eine Presse verschaffte, heute des Finanzsektors und der Steuervermeidungsindustrie, aber auch die Partei einer mittelständischen Stammwählerschaft von Geschäftsleuten, Ärzten und Anwälten, und einer Schicht geschäftstüchtiger Bauern und Winzer über Land. Sie braucht den Mittelstand nicht nur als Wählerreservoir, sondern auch als Beamte und Anwälte, ausnahmsweise auch andere Selbständige, um die Verbindung zur Klasse der Lohnabhängigen herzustellen, die nun einmal die Wählerschaft stellen.

Denn die Inhaber der Partei begegnen der „kleinen Schuhverkäuferin“ Corinne Cahen zwar mit Geringschätzung, aber ihnen selbst fehlt die Volksnähe, die das allgemeine Wahlrecht nun einmal verlangt, das vor hundert Jahren gegen den Willen der liberalen Notabeln eigeführt worden war. Deshalb ist die quirlige und leutselige Geschäftsfrau, einst Vorsitzende des hauptstädtischen Geschäftsverbands, Mitglied der Handelskammer und des jüdischen Konsistoriums sowie fleißige Facebook-Chronistin ein Glücksfall für die DP. Sie weiß, wie man nicht nur mit Visa-­Platin zahlende Kunden umwirbt, sondern auch die wahlberechtigten Pantoffelhelden und die Rentnerinnen mit orthopädischen Einlagen.

Aber eine Geschäftsfrau führt zwangsläufig ein Ministerium dynamisch und autokratisch, als ob es ihr gehörte. Die ehemalige Präsidentin des Geschäftsverbands machte als Familien- und Integrationsministerin kurzerhand ihren ehemaligen Direktor des Geschäftsverbands zum Direktor ihres Office luxembourgeois de l’acceuil et de l’intégration. Die Vermischung von Privatem und Politik geht auch darauf zurück, dass die siegestrunkenen Liberalen von DP, LSAP und Grünen 2013 den CSV-Staat als eine Beute ansahen und die CSV sie in dieser Ansicht bestätigte. So wie die liberale Partei euphorisch dafür warb, Lyzeen nach dem Prinzip der Public-private Partnership zu bauen, so macht die liberale Geschäftsfrau Politik als Private-public Partnership.

In der Regel besitzt ein Kapitalist einen Betrieb, ohne in ihm zu arbeiten, und ein Lohnabhängiger arbeitet in einem Betrieb, ohne ihn zu besitzen. Die Mittelständlerin besitzt dagegen den Betrieb und arbeitet ihn ihm. Deshalb gehört der Fami­lienbetrieb zur Familie. Privates und Geschäft voneinander zu trennen, liegt jenseits ihrer Erfahrung und damit ihres Vorstellungsvermögens. Artikel sieben der Règles déontologiques des membres du Gouverenement, „Un conflit d’intérêts au sens du présent arrêté grand-ducal existe lorsqu’un membre du Gouvernement a un intérêt personnel qui pourrait influencer indûment l’exercice de ses fonctions en tant que membre du Gouvernement“, kann aus dieser Sicht nur der Geistesblitz weltfremder Staatsbeamter mit Einkommens- und Beschäftigungsgarantie sein.

Romain Hilgert
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