Antibiotika-Verbrauch

Wir Penicillinfresser

d'Lëtzebuerger Land du 21.11.2002

Die Lage sei "alarmierend" urteilten französische Experten Mitte 2001. Frankreich sei seit Jahren Europameister im Antibiotikaverbrauch. Von jährlich 80 Millionen Verschreibungen im ambulanten Bereich seien jedoch 30 Millionen unnötig (Le Monde, 1. Juni 2001). Ein Jahr später ist die Lage nicht besser. Und während 1984 noch 0,5 Prozent der eine Lugengentzündung hervorrufenden Pneumokokken resistent gegen Penicillin waren, stieg diese Zahl 1999 auf 42 Prozent, und im vergangenen Jahr mussten in Frankreich bereits 60 Prozent an Lungenentzündung erkrankter Kinder mit spezialisierteren Antibiotika behandelt werden, weil ein Breitbandmittel wie Penicillin bei ihnen nicht mehr wirkte.

Vergangenen Monat starteten das Gesundheitsministerium und die Caisse nationale d'assurance-maladie (CNAM) eine Aufklärungskampagne unter den Patienten und der Ärzteschaft. Würden Antibiotika nur dort eingesetzt, wo es nötig ist, ließe sich nicht nur das Problem immer resis-tenter werdender Erregerstämme eindämmen, urteilte die CNAM, sondern pro Jahr 100 Millionen Euro Arzneimittelkosten einsparen (Le Monde, 8. Oktober 2002).

Zu den EU-Ländern mit erhöhtem Antibiotikaverbrauch zählt auch Luxemburg. Seit 1998 ist es an das European Antimicrobal Resistance Surveillance System EARSS angeschlossen und seitdem auf Platz vier bis fünf bei der verabreichten Antibiotikamenge im Vergleich der EU-15 gelandet. 2001 war es der fünfte Rang, knapp hinter Belgien. Jahr für Jahr nehme der Verbrauch um 2,5 Prozent zu, teilte Gesundheitsminister Carlo Wagner (DP) vor einer Woche in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit.

Im Oktober 2001 hatte eine Studie der Division de la pharmacie et des médicaments im Gesundheitsministerium ergeben, dass vor allem der Verbrauch von Breitbandantibiotika hoch ist. Zwischen 1995 und 1999 hatte die Nutzung von Penicillinen stets um die 38-Prozent-Marke oszilliert. 2001 hatten Breitbandmittel mehr als die Hälfte im Verbrauch be-tragen, wie allerneueste Zahlen der Pharmakologen belegen.

"Das ist beunruhigend", sagt Jean-Claude Schmit vom Service national des maladies infectieuses im hauptstädtischen Centre hospitalier. Und schließt daraus, dass auch in Luxemburg viel zu oft Antibiotika unnütz verschrieben würden, und zwar bei einfachen Krankheiten: "Amerikanische Studien haben ergeben, dass 85 Prozent der Halsschmerzen von Viren verursacht sind, desgleichen 80 Prozent der Anginen, die Hälfte der Nasennebenhöhlenentzündungen und 70 bis 80 Prozent aller Mittelohrentzündungen. Aber gegen Viren helfen Antibiotika nicht." Dennoch fanden 1999 laut Gesundheitsminis-terium 92 Prozent aller Antibiotikaverschreibungen im ambulanten Bereich statt, und nach einer 1997 veröffentlichten Studie der Krankenkassenunion über La consommation des médicaments au Luxembourg waren 1995 über 68 Prozent dieser Verschreibungen von Allgemeinmedizinern vorgenommen worden.

Auch die Direction de la Santé im Gesundheitsministerium sieht Handlungsbedarf insbesondere in den Praxen der Allgemeinmediziner. "Ihnen, aber auch den Patienten müs-sen wir klarer machen, wann ein Antibiotikum sinnvoll ist, und wann nicht", sagt Danielle Hansen-König, die Leiterin der Gesundheitsdirektion. Im nächsten Jahr werde dazu eine Aufklärungskampagne gestartet.

Denn auch in Luxemburg hat der recht hohe Antibiotikaverbrauch längst nicht nur finanzielle Rückwirkungen, könnte man in den 284 Millionen Franken (sieben Millionen Euro), welche die Krankenkassen 2001 zur Erstattung von Antibiotikakosten zahlten, ein Einsparpotenzial von 2,6 Millionen Euro vermuten, legt man die drei Achtel unnützer Verschreibungen in Frankreich zu Grunde. Aber noch vor zehn Jahren sprach hier zu Lande kaum jemand von nosocomialen Infektionen - Ansteckungen, die ein im Krankenhaus behandelter Patient sich während des Klinikaufenthaltes eventuell zuzieht und die unter Umständen schlimme, manchmal sogar tödliche Folgen haben. Das ist heute anders, und am morgigen Samstag ist der Problematik eine internationale Konferenz im hauptstädtischen CHL gewidmet. Vorsichtigen Schätzungen nach stecken sich weltweit fünf bis zehn Prozent der Krankenhauspatienten mit irgendetwas an. In Frankreich waren es 1995 zwischen 600 000 und 1,1 Millionen Kranke, und etwa 10 000 starben daran. Für Luxemburg lägen keine Daten vor, sagt Jean-Claude Schmit. Die Zahlen aus dem Ausland aber hält Dr. Schmit für extrapolierbar. Tue man das, ergäben sich 4 000 bis 7 300 solcher Infektionen pro Jahr in Luxemburger Kliniken, die in 70 Fällen tödlich enden würden. Dass mittlerweile ein Drittel der in den Kliniken eingesetzten Antibiotika zur Bekämpfung nosocomialer Infektionen eingesetzt werden, sei gleichfalls nicht nur im Ausland so.

Am Samstag werden die Konferenzteilnehmer über Krankenhaushygiene sprechen, über Kontrollmaßnahmen oder über das Organisieren regelmäßiger Bluttests zum Aufspüren von Infektionen. Man habe es mit einer Kehrseite der Hightech-Medizin zu tun, sagt Jean-Claude Schmit. "Wir können heute viel mehr schwere Krankheiten heilen als früher. Wir transplantieren Organe, behandeln manche Krebsarten mit Erfolg. Aber oftmals wird der Patient dabei so geschwächt, dass ihm die Mikroben, die ohnehin in seinem Körper sind, gefährlich werden können, oder er sich leichter in seiner Umgebung ansteckt." Ein großes und immer weiter wachsendes Problem aber bestehe darin, dass die Erreger immer häufiger mutieren und zunehmend resistent werden gegen Antibiotika. "Und das liegt unter anderem daran, dass viel zu viele Antibiotika eingenommen werden."

Auch in Luxemburger Kliniken seien schon Infektionsfälle aufgetreten, "bei denen gar nichts mehr wirkte". In den USA wurde erst vor wenigen Monaten ein Stamm kreuzgefährlicher und alle möglichen Infektionen hervorrufender Staphylokokken entdeckt, der auch gegen das allerneueste Antibiotikum unempfindlich geworden war.

Aufgeschreckt durch die in manchen Mitgliedsländern alarmierenden Zahlen von Antibiotikaverbrauch und wachsender Erregerresistenz gab die EU-Kommission vor einem Jahr eine Empfehlung für den sorgsamen Umgang mit den Medikamenten heraus. Und handelte unter anderem selbst in der Landwirtschaft, wo 1997 die Hälfte aller unionsweit verabreichten Antibiotika in der Tierproduktion zum Einsatz kamen. Per Verordnung begrenzte sie vor vier Monaten den Gebrauch von zuvor 24 zugelassenen Mitteln auf vier. Überwiegend dienen die Medikamente nicht zur Krankheitsbekämpfung, sondern als Wachstumsbeschleuniger. Gezielt dezimieren sie die Tätigkeit der Darmbakterien, wo-nach die Tiere weniger Nährstoffe verdauen und stattdessen schneller fett werden. Nicht dass die Verbraucher beim Fleischverzehr Antiobiotika mitäßen, sei das Problem, sagt Jean Stoll, Biologe und Generalsekretär der Tierzüchter- und Beratergenossenschaft Herdbook in Ettel-brück: "Die Mittel werden vor der Schlachtung früh genug abgesetzt, so dass die Tiere die Antibiotika noch ausscheiden." Man könne auch davon ausgehen, dass das kontrolliert wird. "Aber der Bauer hat Antibiotika im Stall. Und trägt damit ungewollt zur Produktion resistenter Keime bei, die nicht nur Tiere, sondern auch den Menschen befallen können."

Hat der hohe Antibiotikaeinsatz in der Tierproduktion etwas zu tun mit den Verbraucherwünschen nach viel und billigem Fleisch, wird er zur gesellschaftlichen Frage. In den Arztpraxen zu einem guten Teil ebenfalls. Zwar hat in Luxemburg bisher noch niemand ermittelt, wie groß die Zahl der Patienten ist, die Antibiotika als geeignetes Mittel zur raschen Be-kämpfung selbst harmloser Erkältungskrankheiten ansehen. Ein Druck sei aber vorhanden, meint Germain Wagner, Präsident des Cer-c-le des médecins généralistes im Ärzteverband AMMD. Dass die Direction de la santé im Gesundheitsministerium Patienten wie Ärzte aufklären, dass sie "Empfehlungen" für den Antibiotikaeinsatz ausarbeiten und Weiterbildungsmaßnahmen organisieren will, "begrüßt" Dr. Wagner. Es sei durchaus wahr, dass Allgemeinmediziner sehr häufig Antibiotika auf den Rezeptblock schreiben. "Aber nicht nur die Patienten fragen danach." Auch in den Köpfen der Arbeitgeber halte sich offenbar die Vorstellung, dass ihre Mitarbeiter umso rascher wieder an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, bekommen sie für jede Kleinigkeit ein Antibiotikum: "Ich habe selber schon Patienten keines verschrieben, und sie tauchten nach drei Tagen erneut auf und klagten, ihr Chef habe gefragt, weshalb sie keines erhalten hätten."

Dem Patienten zu erklären, wann ein solches Medikament angebracht ist oder nicht; ihm zu erläutern, dass bei einer harmloseren Virusinfektion schon ein paar Tage Bettruhe Wunder wirken können, aber kostet Zeit. "Die muss ein Arzt sich einfach nehmen", sagt Danielle Hansen-König, "ich halte nichts davon, zu behaupten, unser Kassensystem, das den Arzt auf den Behandlungsakt bezahlt, sei eine Einladung zum schnellen Arbeiten."

So generell will das auch Germain Wagner nicht behaupten. Verweist aber auf den Besorgnis erregenden Rückgang der Zahl der Allgemeinmediziner, der in sieben bis zehn Jahren zu einem echten Mangel führen könnte (siehe d'Land vom 30. November 2001). "Viele Generalisten sind so überlastet, dass sie sich nicht genügend Zeit nehmen." Dass dann ein Antibiotikum verschrieben wird, obwohl der Arzt sogar davon ausgehen kann, dass dies nicht nötig sein mag, komme vor: "In der Hoffnung, der Patient taucht nicht wieder auf."

Und so wirft im speziellen Fall Luxemburgs der hohe Antibiotikakonsum auch ein Schlaglicht auf ein verbesserungsfähiges Hausarztsystem.

Um die Aufwertung des Allgemeinmediziners als womöglich lebenslanger Vertrauensarzt des Patienten war vor zwei Jahren eine Diskussion entbrannt. Punktuelle Honorarverbes-serungen beschloss die Generalversammlung der Krankenkassenunion vor einer Woche; auf EU-Niveau werden die spezialisierenden Studiengänge für Generalisten derzeit aufgewertet. Ob das reicht, muss sich zeigen. Vom Tisch ist eine eventuelle Teilentlassung der Mediziner aus der obligatorischen Konventionierung mit der Krankenkassenunion, was den Ärzten Extraverdienste durch die Behandlung von Privatpatienten erlauben sollte. Wegen der Heftigkeit der Dekonventionierungs-Debatte aber dürfte die Regierung die Konfrontation mit der Ärzteschaft derzeit nicht suchen - und will die Weiterbildung in Sachen Antibiotika nicht obligatorisch machen, sondern die Medizinerverbände dafür werben lassen; will Empfehlungen für die Verschreibung entwerfen, anstelle strenger Richtlinien.

Inwiefern ganz konkret für welche Krankheiten Antibiotika verschrieben werden, ist darüberhinaus noch unbekannt und müsse erst noch ermittelt werden, erklärte Minister Wagner vor einer Woche. Die Erfahrung der in der EU-Antibiotika-Bilanz gut da stehenden skandinavischen Länder zumindest zeigt, dass Strenge Erfolg hat. Was sich auch auf die Zahl problematischer Infektionen in den Kliniken auswirkt.

 

Peter Feist
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