Glücksspielsucht

Wenn gar nichts mehr geht

d'Lëtzebuerger Land du 24.10.2002

"1994 fing alles an. Es ging mir sehr schlecht damals. Eine langjährige Beziehung war zebrochen, und ein Geschäft, in das ich viel Geld investiert hatte, schlug fehl. Mit einem Freund ging ich eines Tages mit in ein Spielkasino."

Acht Jahre soll es dauern, bis Claude B. (*) nicht mehr ins Kasino gehen und nicht mehr spielen will. Acht Jahre lang ist der heute 43-Jährige glücksspielsüchtig. Anfangs gewinnt er im Kasino. Manchmal 200 000 Franken pro Tag. Er nennt das Erfolge, und die Probleme, die er hat, bleiben draußen vor der Kasinotür. Doch nach einem halben Jahr reißt die Glückssträhne; Claude B. verliert bis zu 50 000 Franken täglich. Immer wieder. Er nimmt Kredite auf, um seine Spielschulden zu begleichen, hat in einem Monat oft doppelt soviel zurück zu zahlen, wie die 80 000 Franken netto, die er auf seiner Arbeit verdient. "Der Glauben, das Spielen zu kontrollieren und jederzeit damit aufhören zu können, war damals schon dahin", sagt er heute. "Ich fühlte mich machtlos, stand neben mir, konnte mich nicht mehr bremsen."

Spielsucht: Mit dem Traum vom schnellen Geld hat sie nicht viel zu tun. Spielen, schreibt der französische Soziologe Alain Cotta, sei eine essenzielle gesellschaftliche Aktivität geworden, "à laquelle les hommes ont recours pour lutter contre l'ennui qui, dans notre société avancée, s'est progressivement substitué à la fatigue physique. On pourrait presque croire que dans un temps de crise, le jeu est une soupape pour compenser un mal-être général et la raison pour laquelle certaines personnes recherchent leur bonheur devant un automate". (1) Die Sucht, sagt der Luxemburger Psychiater Jean-Marc Cloos, setzt ein, wenn man von diesem Verhalten nicht mehr lassen kann, die Flucht in eine Gegenwelt, in ein Abenteuer, in die Spannung zwischen Gewinn und Verlust wiederholen muss.

Ein Montagnachmittag im Casino 2000 in Mondorf. "The winning world" in der Selbstbeschreibung. Um 19 Uhr öffnet der Große Spielsaal mit Roulette, Black Jack, Baccara ... Bereits um 14 Uhr gehen die Türen zum Automatensaal auf. Der Eintritt kostet 50 Cents in einen geschwungenen Saal im Halbdunkel. Von Wänden und breiten Spieltischen kommt buntes Blinklicht und elektronisches Gurren von insgesamt 218 Automaten. Schwach besucht ist der Saal gegen 14.30 Uhr; viele Ältere vertreiben sich hier ihre Zeit. Und vor allem ältere Frauen tragen Plastikbecher in der Größe von Quarkdosen zum Wechselautomaten, den sie mit Euro-Scheinen füttern, damit ein langer Klimperregen von Jetons zu je 50 Cents in den Becher fällt. Gibt es Spielsüchtige hier? - Alle Kasinos seien voller Spielsüchtiger, meint Claude B. Vor allem nach dem Rentenzahltag treffe man viele Pensionäre an. Bei der anonymen telefonischen Suchtberatung des Centre de prévention des toxicomanies weiß man aus den Gesprächen, dass es nicht nicht nur Rentner, sondern auch Rentnerinnen gibt, die bereits am zweiten oder dritten Tag nach dem Eintreffen ihrer Rente diese komplett verspielt haben. Und danach, um zu sparen, beispielsweise kaum noch essen.

Das hat auch Claude B. erlebt. 1998 erreichen seine Spielschulden Millionenhöhe. Tagelang isst er nichts mehr. Er fühlt sich moralisch am Ende, denn er hat das Vertrauen von Freunden und Bekannten missbraucht und ihnen alle möglichen Geschichten erzählt, weshalb sie ihm Geld leihen sollten. Immer öfter denkt er an Selbstmord, versucht es beinahe, vertraut sich dann jedoch seiner Familie an. Mit ihrer Hilfe und dem Hausarzt findet er einen Therapieplatz in Deutschland. Zwölf Wochen bleibt er dort. Als er zurück kommt, glaubt er, seine Sucht gemeistert zu haben.

Er stürzt sich in die Arbeit, arbeitet drei Jahre lang an sieben Tagen die Woche, um seine Spielschulden abzahlen zu können. Eines Sonntags geht er wieder ins Kasino. "In so einer Scheißegal-Stimmung." Auf ei-nen Schlag gewinnt er 200 000 Franken. "Ähnlich wie damals, als ich zu spielen begann." Jetzt glaubt er, kontrolliert spielen, Gewinne zur Schuldentilgung nutzen zu können. Erneut aber häufen sich Verluste, wieder nimmt er Kredite auf, wieder pumpt er Freunde und Kollegen an, wieder fühlt er sich moralisch am Ende - diesmal jedoch noch stärker als drei Jahre zuvor. Klingelt es an der Tür, öffnet er nicht mehr, denn es könnten Geldeintreiber sein, die vor ihr warten. Auf die Straße wagt er sich nur noch im Dunkeln. Jetzt ist auch seine Gesundheit angeschlagen: er bekommt Herzrhythmusstörungen. Er unternimmt einen Selbstmordversuch mit über 100 Schlaftabletten. Zum Glück findet ihn jemand. Familie und Kollegen drängen ihn zu einer neuen Therapie. Für 22 Wochen geht Claude B. erneut nach Deutschland in Behandlung. Zum ersten Mal lässt er den Gedanken zu, eine Suchtkrankheit zu haben, und dass er sich um sein Leben kümmern muss. Im August dieses Jahres kommt er zurück. Um Spielhallen macht er einen großen Bogen seitdem. Sein Spielschuldenstand beträgt 200 000 Euro.

Das Ausmaß der Glücksspielsucht hier zu Lande kennt niemand. Statistiken gibt es nicht, da eine Krankheit des Namens nicht existiert. Noch diagnostizieren Psychiater keine Spielsucht, sondern "troubles obsessifs et compulsifs" unter Code F 42.8 der Krankenkassennomenklatur. Verschreibt der behandelnde Arzt allerdings eine Therapie in einer Einrichtung im Ausland, gebe es mit der Kostenübernahme keine Probleme, sagt Robert Kieffer, Präsident der Krankenkassenunion. Vom Contrôle médical beim Centre commun de la sécurité sociale, der nach der Verschreibung einer solchen Therapie eine Vorabempfehlung für die Kostenübernahme durch die Kassen erstellen muss, heißt es, Fälle von Glücksspielsucht "tauchen immer wieder auf". Ob das Problem größer oder kleiner werde, lasse sich nicht sagen. Anscheinend aber sei es in Luxemburg stärker als im Ausland mit einem Tabu belegt.

Aus dem Ausland verfügbare Zahlen sind allerdings beunruhigend. In den USA, wo "pathological gambling" bereits seit 1979 als Krankheit anerkannt ist, ermittelten Studien in den 90-er Jahren je nach Bundesstaat bis zu 2,3 Prozent der Bevölkerung als "pathological gamblers". In Kanada und Spanien sollen es 1,2 bzw. 1, 7 Prozent sein. (2) In Belgien kam ein 1997 im Auftrag des Senats erstellter Bericht zu dem Schluss, dass es 100 000 "Problemspieler" und 20 000 vom Glücksspiel "Abhängige" gebe. 40 Prozent der Allgemeinmediziner zählten Glücksspieler zu ihren Patienten, und in jedem dreißigsten Haushalt zeige mindestens ein Mitglied eine "dépendance grave". (3)

Die neueste Analyse der Glücksspielsucht komme aus der Schweiz, sagt Jörg Petry, leitender Psychologe der Psychosomatischen Fachklinik Münchwies im saarländischen Neunkirchen. 0,8 Prozent der Bevölkerung seien abhängige, 1,2 Prozent problematische Glücksspieler, denen der Schritt in die Abhängigkeit eventuell noch bevorsteht. Diese Zahlen ließen sich nicht nur auf Deutschland, sondern wohl auch auf Luxemburg hochrechnen, sagt Petry, der seit Jahren auch Glücksspielsüchtige aus dem Großherzogtum behandelt. Der Behandlungserfolg der acht- bis zwölfwöchigen Rehabilitationstherapie liegt bei 50 Prozent, das heißt, die Hälfte der ehemals Glücksspielsüchtigen schaffen es, dauerhaft abstinent zu bleiben.

Doch wenn der Weg in die Sucht ein jahrelanger ist und voraussetzt, dass der Spieler intensive Verlusterfahrungen macht, stellt sich für Luxemburg nicht nur die Frage nach Behandlungsmöglichkeiten im Lande selbst - ein Prozent Glücksspielsüchtige in der Bevölkerung würden immerhin einen Personenkreis von rund 4 500 ergeben. Auch spezialisierte Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen fehlen in Luxemburg. Die Mitarbeiter des Suchttelefons geben an interessierte Betroffene die Adresse der Anonymen Spieler in Trier weiter. "Eine Selbsthilfegruppe hätte mir wahrscheinlich helfen können, als ich dabei war, meinen Rückfall zu entwickeln", meint Claude B. Jetzt will er eine gründen und wirbt intensiv unter Glücksspielern in seinem Bekanntenkreis um Mitarbeit. Beratungsstellen und Selbsthilgegruppen hält auch der Psychiater Jean-Marc Cloos für wichtig: "Zum Arzt kommen Glücksspielsüchtige in der Regel erst, wenn sie in einer tiefen Depression stecken. Das kann fünf bis zehn Jahre dauern. Aber in der Zwischenzeit kann viel geschehen."

Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe könnte vielleicht auch dazu führen, dass ein Spieler sich aus eigenem Wunsch für den Zugang zu einem Kasino sperren lässt. Überall in Europa ist das möglich; Sperrlisten werden zwischen den Kasinos ausgetauscht, von den Kasinobetreibern oder auf eigenen Wunsch gesperrten Spielern wird der Zutritt zu den Spielhallen verwehrt. Das funktioniere überall in den Nachbarländern, sagt Claude B., nur in Mondorf nicht. "Eine Ausweiskontrolle findet nur am Eingang zum Großen Spielsaal statt, aber nicht vor dem Automatensaal."

Die ist auch nicht vorgeschrieben in den geltenden großherzoglichen Reglements, welche die Ausführung des Gesetzes über Glücksspiel und Sportwetten vom 20. April 1977 regeln. Weil Glücksspiel an sich verboten ist, kanalisiert der Staat es durch die kontrollierte Zulassung von Kasinos, Spielautomaten in Gaststätten, von Sportwetten und Lotterien. 

Die Direktion eines Kasinos "peut, lorsqu'elle estime qu'un joueur, notamment par la fréquence de ses visites au casino ou l'enjeu exces-sif compromet ses moyens d'existence lui demander la justification de ses moyens financiers et soit lui interdire l'accès au casino, soit limiter le nombre de ses visites à une ou plusieurs par mois", hält Artikel 69 des großherzoglichen Reglements vom 17. Dezember 1986 fest.

Von dieser Kann-Bestimmung mache man auch Gebrauch, versichert Guido Berghmans, Generaldirektor des Mondorfer Casino 2000. Bis zu 100 Sperren verhänge man jährlich, darunter etwa die Hälfte auf Wunsch der Spieler selbst. "Wir wollen nicht, dass unsere Kunden sich ruinieren!" 

Und wenngleich vor der Automatenhalle niemand Ausweise kontrolliert, bitte man einen Spieler, der sich vor der eigenen Sucht schützen will, um ein Foto. Dieses werde am Einlass hinterlegt, "damit man ihn beim nächsten Mal wiedererkennt und ihn an seine Sperre erinnert". Claude B. dagegen behauptet, nie um ein Foto gebeten worden zu sein, und auch Serge F. (*), noch aktiver Glücksspieler und "seit drei Jahren auf eigenen Wunsch" in Mondorf gesperrt, wurde seitdem weder der Zugang zum Automatensaal jemals verwehrt, noch bat je-mand ihn um ein Foto. "Meine Sperre ist zwar aktenkundig, ich ha-be ein entsprechendes Formular ausgefüllt. Doch sie wirkt nur im Ausland." Dort kontrolliere man am Kasinoeingang stets den Personalausweis, auch wenn der Spieler nur an die Automaten wolle.

"Sehr streng" nennt Kasinodirektor Berghmans das geltende Glücks-spielrecht. Allerdings hatte der Ge-setzgeber stets auch "Flexibilität" im Sinn. "À n'en pas douter, les prélévements sur les produits des jeux du casino devaient, dans l'idée du Gouvernement, équilibrer dans une certaine mesure les frais d'exploitation, onéreuse pour l'État, des installations thermales de Mondorf-les-Bains. La création d'un casino devait également servir d'attrait touristique", resümierte der Staatsrat 1986, als sich das erwähnte großherzogliche Reglement auf dem Instanzenweg befand, zehn Jahre Glücksspielrecht hier zu Lande. "L'on peut affirmer aujourd'hui que les espoirs des promoteurs du casino furent lar-gement remplis puisqu'une recette de 90 millions, au titre des prélévements sur les produits des jeux, est pré-vue au budget des recette de l'ex-ercice 1987. Ce resultat ne pourra cependant être atteint que si les conditions dans lesquelles se déroulent les opérations de jeu accusent un maximum de transparence et de flexibilité, sans que le contrôle rigoureux (...) soit pour autant ré-duit."

15 Jahre später betrug der Anteil der "prélévements sur les pro-duits des jeux" zu den Staatseinnahmen über 350 Millionen Franken, für 2003 rechnet die Regierung mit neun Millionen Euro. Wenn, Erhebungen des deutschen Fachverbands für Glückspielsucht zufolge, aber zu-mindest östlich der Mosel jedes Kasino 70 Prozent seiner Um-sätze "problematischen Spielern" verdankt, (4) dürfte "Flexibilität" im Luxemburger Glückspielrecht ebenfalls problematisch sein. Noch spielt in der öffentlichen Aufmerksamkeit Glücksspielsucht keine Rolle. In den Diskursen des für Suchtprobleme zuständigen Gesundheitsministeriums ist der Begriff bisher noch nicht aufgetaucht. 

Derweil konstatiert die für die Kontrolle des Casino 2000 verantwortliche Kriminalpolizei, damit überfordert zu sein: ein einziger Beamter übt derzeit in Mondorf eine Kontrollfunktion aus und ist zuständig für die Überwachung des Kasinobetriebs, des Personals und auch der Spieler und ihres Verhaltens.

Die mit * gekennzeichneten Namen wurden auf Wunsch der Betroffenen geändert. An der Mitarbeit beim Aufbau der Selbsthilfegruppe Interessierte können sich telefonisch unter 021-46 50 92 melden.

1 Alain Cotta: La société du jeu, Paris, Fayard, 1993

2 Lorrin M. Corran: Obsessive-compulsive and related disorders in adults

3 Isabelle Heuertz: Évaluation de la qualité de vie subjective et du réseau social: le cas particulier des joueurs dépendants. Université libre de Bruxelles, 1999

4www.gluecksspielsucht.de

Peter Feist
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