Ich beginne diesen Text mit einem Geständnis: Ich lebe in der Escher Innenstadt und nutze das Auto, um nach Belval zu fahren. Warum? Zu zwei Dritteln aus Bequemlichkeit, immerhin regnet es oft im Süden und zum Bahnhof sind es zehn Minuten Fußweg. Zu einem Drittel aus Zeitgründen. Nicht willentlich, sondern wegen Erledigungen in letzter Sekunde verlasse ich in der Regel so spät das Haus, dass ich doch zum Auto greife.
Heute steige ich aufs Fahrrad um. An der Vel’ok Station in meiner Straße leihe ich ein Rad – und ab auf die neue teure Fahrradbrücke. Schließlich scheint dieser Dienstagmorgen der einzig regenfreie Tag im neuen Jahr zu sein. Nach nur zwei Beinahe-Kollisionen im Escher Straßenverkehr schlingert mein Rad auf dem grell orangen Bodenbelag der Radbrücke. Streusalz knistert unter Gummi. Ich radele vorbei an den Fabrikgebäuden des Stahlwerks, werfe einen Blick auf Riesenschrauben, Rohre und Gleise – die größte Gefahrenquelle auf diesem Weg ist Ablenkung durch Ausblick. Dann bin ich schon in Belval, genauso schnell wie mit dem Auto. Meine Hände frieren, ich suche eine Station, an der ich das Rad abgeben kann. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, warum das „Velodukt“ ausgerechnet im Winter eröffnet wurde.
Die neue Fahrradbrücke ist seit Dezember Eschs neuester Prestige-Mobilitätsbau. 46 Millionen Euro, um das Rad im Süden zu einem beliebteren Verkehrsmittel zu machen. Das ist nötig, denn den täglichen Weg zur Universität machen laut Zahlen der Uni nur knapp sechs Prozent der Studierenden mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Zwei Drittel nutzen öffentliche Verkehrsmittel, die Mehrheit davon den Zug. Doch knapp 27 Prozent kommen noch immer im Auto oder anderen motorisierten Fahrzeugen. Ob eine einzige Radbrücke das Verhalten ändern kann, ist fraglich. Vor allem, da die größte Frustquelle der Mobilität im Wohnungsmarkt begründet liegt.
Nur ein kleiner Teil der Studierenden lebt in Belval. Die Wohnheime dort bieten einige hundert Plätze. Der Großteil sucht Wohnungen und Zimmer auf dem privaten Markt und Belval ist nicht die günstigste Alternative. Für die Studentendelegation sind beide Probleme stark vernetzt. Ulisse Bassi studiert seit zwei Jahren in Belval, ist Nachhaltigkeitsdelegierter in der Studentendelegation. Er sagt: „Wir hätten kein Mobilitätsproblem, wenn es das Wohnungsproblem nicht gäbe.“ Ulisse ist aus Italien und hat ein Zimmer in Belval. „Viele meiner internationalen Freunde leben an der Zuglinie, in Esch, Schifflingen, Nörtzingen, Bettemburg, für sie ist Belval nicht weit. Doch viele Luxemburger leben weiterhin bei ihren Eltern, um die hohen Mieten zu sparen.“ In öffentlichen Verkehrsmitteln dauert es teilweise über zwei Stunden, um vom Norden Luxemburgs nach Belval zu kommen.
Max Bintener ist Präsident der Studentendelegation. Er lebt in einem Dorf im Nordwesten von Mersch und sagt, er würde täglich vier Stunden in Bussen und Zügen verbringen, wenn er nicht mit dem Auto führe. Für einige im Norden ist es gleich weit, in Belval zu studieren wie in Lüttich, Aachen oder sogar Maastricht. Wer in Luxemburg gemeldet ist und im Ausland studiert, hat Anspruch auf das Mobilitätsstipendium der staatlichen Studienbeihilfe Aidefi, 1 420 Euro pro Semester. Luxemburger, die in Luxemburg studieren, haben zwar kostenlosen Nahverkehr, doch wer im Norden lebt, wird dieses Angebot kaum nutzen, um nach Belval zu gelangen. Max sieht darin einen großen Nachteil für diejenigen, die auf das Auto angewiesen sind und in Belval studieren. Mit dem Auto braucht Max 45 Minuten ohne Verkehr und etwa zehn Minuten mehr zu Stoßzeiten. Auch die Preise fürs Parken an der Universität findet er angemessen. In den ersten drei Stunden kostet der Uniparkplatz 80 Cent pro Stunde, danach einen Euro. Doch der größte Parkplatz ist nun einer neuen Baustelle gewichen, sodass nicht mehr genug Plätze zur Verfügung stehen.
Die Verkehrsmittelwahl und die Bedürfnisse der Studierenden sind sehr unterschiedlich. Einige wünschen sich mehr Parkmöglichkeiten, andere finden, in Belval nehme das Auto zu viel Platz ein. Das ist das Ergebnis, zu dem Joe Birsens gekommen ist. Er ist Doktorand am Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser). Für seine Doktorarbeit untersucht er zurzeit die Beziehungen und Einstellungen, die Studierende zu Belval und Esch haben. In der Studie ist Mobilität kein ausdrückliches Thema, doch in den Fokusgruppen, in denen die Studienteilnehmer frei sprechen konnten, ohne an einen Fragebogen gebunden zu sein, stach es immer wieder hervor. „Ein großer Teil der Studierenden hat kein Auto“, sagt er. „Sie sind abhängiger von öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Rad als andere Bevölkerungsgruppen.“ Besonders nachts und am Wochenende sei die Anbindung nicht ausreichend für diejenigen, die in Belval wohnen. „Unter der Woche ist die Zugverbindung in die Hauptstadt einfach und zuverlässig. Aber nachts ist es komplizierter und am Wochenende sind sehr oft Bauarbeiten.“ An zwei bis drei Wochenenden pro Monat fährt der Zug nicht von Luxemburg-Stadt nach Esch und Belval durch. Denn zwischen Howald und Bettemburg baut die CFL zwei neue Schienen, um den Verkehr auf dieser Strecke besser zu verteilen. Teilweise sind Ersatzbusse für die Strecke von Luxemburg nach Esch im Einsatz, oft jedoch fährt der Ersatzbus nur bis Bettemburg und dann muss auf den Zug umgestiegen werden. „Dafür haben viele kein Verständnis“, sagt Joe Birsens. „Sie haben den Eindruck, dass die öffentlichen Verkehrsmittel gut funktionieren, solange man arbeiten und studieren geht, aber in ihrer Freizeit sind sie in Belval etwas eingesperrt. Einige haben mir gesagt: Wenn du in Belval wohnst und kein Auto hast, musst du sonntags in Belval bleiben. Es ist unmöglich, sonntags weiter als nach Esch zu kommen.“ Für viele deutsche Studierende ist der Direktbus nach Trier eine große Hilfe. Max Bintener sagt: „Der Bus ermöglicht vielen Leuten in Trier zu leben, dort können sie viel günstiger wohnen – auch wenn das vermutlich mehr Druck auf den Trierer Wohnungsmarkt ausübt.“ Doch dieser Bus fährt nur an Werktagen, einmal stündlich, am Nachmittag zweimal. Am Wochenende gibt es die Verbindung nicht. Max fügt hinzu: „Viele Leute vertrauen den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht. Sie sind oft zu spät, und das können sich Studierende nicht immer leisten. Wir haben Pflichtkurse. Wenn man öfter als zweimal fehlt, ist man raus und wird nicht zum Examen zugelassen.“
Von 200 Befragten in Joe Birsens Studie haben 68 Prozent gesagt, dass Belval gut angebunden sei. Repräsentativ sind diese Zahlen nicht. Doch bisher gibt es nur wenig Forschung zur Mobilität der Studierenden. Die Forscher am Liser greifen weiterhin auf die Luxmobil-Studie von 2017 zurück, doch darin wurden nur wenige Studierende befragt. Philippe Gerber arbeitet am Liser mit Joe Birsens zusammen, er forscht zum Mobilitätverhalten vor allem von älteren Menschen und Grenzgängern. Er sagt: „Die Uni ist noch sehr jung und es braucht einige Zeit, um eine kritische Masse zu bilden. Wir sind sehr vorsichtig, was wir diesbezüglich kommunizieren, weil die Zahlen bisher nicht repräsentativ sind.“ In den qualitativen Studien von Joe Birsens hat sich jedoch ein Knotenpunkt als besonders lästig für die Befragten herausgestellt: „Für viele ist der Kreisverkehr Raemerich eine Barriere. Für die Studierenden ist das Umsteigen dort frustrierend. Von Raemerich aus sieht man die Universität bereits, mental ist man schon dort.“ Durch die vielen Verspätungen wartet man oft fünf bis zehn Minuten auf den Anschlussbus. Philippe Gerber fügt hinzu: „Wenn es wenigstens ein angenehmer Weg zu Fuß wäre, wäre es ja in Ordnung. Aber die Landschaft ist nicht ansprechend und auch die Sicherheit ist nicht gegeben. Wenn die Infrastruktur nicht da ist, werden die Leute das nicht nutzen.“
Das gilt auch für die Fahrradinfrastruktur. „Das Ministerium unternimmt viel, um die aktive Mobilität zu fördern. Doch die Beschilderung ist nicht ausreichend, vor allem im Freizeitbereich.“ Auch um die Leute darauf hinzuweisen, dass man hier Rad fahren könne, seien solche Schilder hilfreich, zum Sensibilisieren. Die neue Fahrradbrücke beginnt am Ende einer kleinen Straße, ohne jeglichen Hinweis vorher, wo sie zu finden ist. Sie endet an einem Kreisverkehr ohne Verweis auf den Radweg nach Esch. Der komplette Neubau Belvals vor 20 Jahren wäre eine Gelegenheit gewesen, Fahrradinfrastruktur in der Stadtplanung mitzudenken. Während andernorts oft der Platz fehlt, hatte Belval keine bauliche Vorbelastung. Dennoch ist der Stadtteil weiterhin stark auf Autoverkehr ausgerichtet. „Wenn man bei uns im Gebäude aus dem Fenster schaut, sieht man sechs Spuren für Autos und keine für Radfahrer“, sagt Philippe Gerber. Auch um zur Universität zu gelangen, ist die neue Radbrücke nur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Das Radwegenetz ist weiterhin ein Flickenteppich. Besonders für diejenigen, die in der französischen Grenzregion leben, gibt Philippe Gerber zu bedenken, steht oft die eigene Sicherheit auf dem Spiel, wenn man mit dem Rad nach Belval fährt. Audun-le-Tiche liegt nur wenige Kilometer entfernt, doch sichere Radwege fehlen.
Als Nachhaltigkeitsdelegierter möchte Ulisse Bassi wenigstens einen Teil zur Fahrradinfrastruktur der Universität beitragen: sichere Boxen für Fahrräder. Zwar wisse die Studentendelegation nicht von vielen Fällen, in denen Räder gestohlen oder beschädigt wurden, dennoch haben einige Studierende den Wunsch nach Boxen geäußert. Ulisse hofft, dass mehr zum Rad greifen, sobald es sichere Stellplätze gibt. Die Studentendelegation ist dazu im Gespräch mit der Universität. Ulisse Bassi vergleicht Belval mit seinem Heimatort. Er kommt aus Trento, einer autonomen Provinz im Norden Italiens. „Trento ist ungefähr so groß wie Luxemburg, und wir haben die gleichen Probleme mit dem Verkehr und dem Wohnungsmarkt, gleich viel Regen.“ Auch dort schon war er Mitglied der Studentendelegation. Gemeinsam mit der Universität habe sie 2 000 Fahrräder gekauft und in Langzeitausleihen an Studierende ausgegeben. „Die konnten sich damit in der Provinz bewegen, und es gab teilweise überdachte Fahrradwege, an den Strecken, wo es am meisten regnet. Ich bin überall hingeradelt, außer bei monsunartigem Regen und bei Schnee.“ Seitdem er in Belval wohnt, nutzt Ulisse das Rad vor allem für Ausflüge. Denn durch die Stadt fährt er nicht gern. Überdachte Radwege sind in Esch noch nicht in Planung, und auch die Einweihung des neuen Velodukt hätte für mehr Erfolg in eine trockenere Jahreszeit fallen können. Doch die Delegierten der Studentendelegation wie auch die Mobilitätsforscher am Liser sind sich einig: Es geht in die richtige Richtung.