Vielleicht hat es mit dem „C“ im Parteinamen zu tun, dass die CSV selten widerstehen kann, den anderen Parteien Lektionen in Moral zu erteilen. Vielleicht hat es auch mit dem „C“ im Parteinamen zu tun, dass diese Versuchung größer ist als die Einsicht, sich zuerst selbst daran halten zu müssen.
Seit dem überraschend knapp ausgegangenen Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag im Jahr 2005 bekämpft die CSV Doppelkandidaturen zu den nationalen und den Europawahlen. Selbstverständlich auch mit dem Hintergedanken, dass die anderen Parteien weniger landesweit bekannte Prominenz zur Verfügung haben als sie selbst, um sie auf getrennte Listen verteilen zu können. Trotzdem konnte die CSV die anderen Parteien zu einer Änderung des Wahlgesetzes und, zumindest LSAP, DP und Grüne, mittels Peer pressure zu einem Verzicht auf Doppelkandidaturen bewegen.Doch nun steht die CSV plötzlich im Verdacht, sich an ihrem eigenen Prinzip vorbeimogeln zu wollen. Denn ausgerechnet die Spitzenkandidatin der CSV bei den Europawahlen, EU-Kommissarin Viviane Reding, kündigte bereits unverblümt an, dass sie zwar für das Europaparlament in Straßburg kandidiere, aber in Wirklichkeit eine Verlängerung ihres Mandats in der Brüsseler EU-Kommission anstrebe.
Parteipräsident François Biltgen und Premier Jean-Claude Juncker versuchten inzwischen etwas umständlich zu erklären, dass hier im Grunde kein Fall von Doppelkandidatur vorliege, sondern derjenige einer Kandidatin, die in die Legislative gewählt und dann in die Exekutive wechseln würde, ähnlich einer Abgeordneten, die auf ein Parlamentsmandat verzichtet, um Ministerin zu werden. Dieser Gedankengang wäre nachvollziehbar, widerspräche er nicht dem, was Biltgen vor anderthalb Jahren unmissverständlich versprochen hatte: „Eis nächst Europalëscht gëtt eng Lëscht, op där ausschliesslech Leit sech presentéieren, déi e Mandat zu Stroossbuerg och unhuelen, wa sie gewielt ginn.“ Oder der Ankündigung des CSV-Generalsekretariats im September 2007: „Ein Kandidat auf einer europäischen Liste muss sein Mandat antreten.“ Genau das beabsichtigt Viviane Reding aber nicht unbedingt und genießt dabei die Unterstützung ihrer Partei.
Doch damit nicht genug. Nachdem Reding sich vor vier Wochen auf dem „Euromeeting“ ihrer Partei als Spitzenkandidatin feiern gelassen und vor einer Woche während einer Pressekonferenz die Wahlkampagne der CSV zugunsten der Nicht-Luxemburger vorgestellt hatte, läuft sie Gefahr, zunehmend gegen den Verhaltenskodex der EU-Kommissare zu verstoßen. Denn dieser besagt, dass ein Kommissar, der die Absicht hegt, sich aktiv an einer Wahlkampagne zu beteiligen, sein Amt ruhen lassen muss. Da der Kodex außerdem vorschreibt, dass jeder Kommissar, der an einem Wahlkampf teilnehmen möchte, die Erlaubnis des Kommissionspräsidenten einholen muss, ist es nicht verwunderlich, dass Redings Konkurrent, LSAP-Spitzenkandidat Robert Goebbels, inzwischen eine parlamentarische Anfrage im Europaparlament eingebracht hat, um sich nach den Kriterien zu erkundigen, die Präsident José Manuel Barroso in einem Fall wie Redings anwendet.
Doch legt der Europäische Volksparteigänger Barroso den Verhaltenskodex im Fall der Europäischen Volksparteigängerin Reding wortgetreu aus, tritt für die kommenden Monate das ein, wogegen alle Premier- und Außenminister seit Jahrzehnten kämpfen: Dann hätte Luxemburg vorübergehend keinen Vertreter mehr in der Europäischen Kommission.