Nach jahrelangem Zögern hat das Bildungsministerium Leitlinien für die Nutzung von Smartphones in der Schule ausgearbeitet

Pushback

d'Lëtzebuerger Land du 20.09.2024

Am 20. Juni 2007 kam das erste I-Phone auf den Markt. Ein großer Wurf von Apple. Einer, der sich auf dem ganzen Planeten wie ein Fegefeuer ausbreiten würde. Android zog im darauffolgenden Jahr nach. Nun, noch nicht mal 20 Jahre später, gibt es laut Statista zwischen viereinhalb und fünf Milliarden Menschen, die weltweit einen Mini-Computer in der Hosentasche haben; die also ihre Miete darauf überweisen oder ein Sexdate planen, ihren Urlaub buchen, Familienfeste organisieren und das Wachstum ihrer Kinder fotografisch dokumentieren. Lange lief diese Entwicklung vor sich hin, kaum jemand wollte sich als technologie- oder fortschrittskritisch outen. Bis vor einigen Jahren Stimmen lauter wurden, die die Aufmerksamkeitsökonomie infrage stellten. Die Wissenschaft fand vermehrt zumindest Korrelationen zwischen den steigenden psychischen Problem der Jugendlichen und Bildschirmzeit. Die Pandemiejahre und die damit einhergehende weitere Digitalisierung haben nun zum Beginn eines Pushbacks insbesondere für junge Menschen geführt, der auch in Luxemburg angekommen ist.

Einige Schulen, die ja für die Lernziele und die Entwicklung der sozialen Kompetenzen zuständig sind, haben in den letzten Jahren in Eigenregie angefangen, die Nutzung von Smartphones einzuschränken. Das Lycée Ermesinde war Vorreiter, was das Verbot im gesamten Schulbereich für die jüngeren Schüler angeht. Nun gibt es bindende Leitlinien vom liberalen Bildungsminister Claude Meisch: Ab Ostern 2025 werden die Grundschulen und Maison Relais die Nutzung von Handys komplett verbieten; in den Sekundarschulen, in denen seit vergangenem Mittwoch die Pausenglocke wieder klingelt, muss eine physische und visuelle Distanz zum Gerät während den Klassenstunden bewahrt werden. Ein Handyhotel, in das die Schüler/innen ihr Smartphone reinlegen und das vorne im Klassensaal hängt, wird nicht mehr erlaubt sein. Das war in einigen Schulen bisher das state of the art der Reglementierung, doch damit wäre die Distanz nicht erfüllt. Bis Pfingsten haben die Lyzeen Zeit, die Vorgabe umzusetzen.

In einem Meinungsbeitrag im Luxemburger Wort fand Claude Meisch kürzlich nach jahrelangem Zögern klare Worte für die Fixierung von Jugendlichen und Kindern aufs Handy: Passiv endlose Inhalte zu konsumieren, bräuchten unsere Kinder „nun wirklich nicht“. „Haut loosse mer et zou, datt eng milliardeschwéier Industrie mat ausgeklügelte Psychotricks d’Opmierksamkeet vun eise Kanner monopoliséiert a se mat méi ewéi zweifelhafte Contenue beriselt“, schreibt er. „All Dag gëtt d’Erausfuerdung mei grouss, Jonker nach fir déi analog Welt ze begeeschteren.“ Claude Meisch will analoge Aktivitäten wieder attraktiver machen und ein besseres Gleichgewicht finden. Man wundert sich etwas über die direkte Wortwahl. Immerhin hat das Ministerium jahrelang keine genauen Vorgaben gemacht und mit dem Verweis auf die jeweilige Schulautonomie den Schulen überlassen, den Handy-Gebrauch über ihre interne Hausordnung (ROI) zu regeln. Jetzt zieht Claude Meisch nach den Wahlen nach. Politisch ist es kein waghalsiges Unterfangen mehr, sich auf diese Weise zu positionieren. Andererseits hätte er damit im Wahlkampf punkten können, denn er trifft einen Nerv in der Gesellschaft. Glaubt man den Kommentaren in den sozialen Medien, gibt es eine Mehrheit für dieses Unterfangen. Den Sinneswandel, der sich über den Sommer vollzogen hat, tragen nun alle Akteure des Bildungsministeriums nach außen. Am Montagmorgen erklärte der Direktor des Script, Luc Weis, das Handy im 100,7 zur „Ablenkungsmaschine“, die in der Grundschule nichts zu suchen hat. All das kommt wahrscheinlich einen Tick zu spät.

Die Unesco hatte sich vergangenes Jahr in einem Bericht für ein Verbot ausgesprochen und schulische Leistungsabfälle aufgrund von Ablenkung und Cybermobbing als Gründe genannt. Seitdem hat ein Schneeball-Effekt eingesetzt: In Frankreich sind seit Schulbeginn 50 000 Sekundarschüler/innen von der sogenannten pause numérique betroffen, ab Januar werden es alle sein. In Grundschulen ist das Handy schon länger verboten. Ebenso in Griechenland, Großbritannien, Italien und den Niederlanden. Im föderalen Deutschland wird diskutiert – aber da Bildung Ländersache ist, dürfte ein allgemeines Verbot schwieriger umzusetzen sein. Australien und mehrere Bundesstaaten in den USA haben Verbote eingeführt. Und auch außerhalb der westlichen Welt verfestigt sich der Trend: China, das Land mit den meisten Smartphones, reglementierte bereits 2021 und hat die Lehrzeit durch digitales Handwerkszeug auf 30 Prozent limitiert; in Indien dürfen Kinder und Jugendliche auch kein Handy in der Schule nutzen.

In Luxemburg begrüßt die gesamte Opposition das Verbot in der Grundschule. Die Abgeordneten Francine Closener (LSAP) und Djuna Bernard (Grüne) merken an, dass man die Sekundarschulen nicht allein lassen sollte, was die Umsetzung dort angeht. Aber wie sieht es in der Praxis aus und was sagen die Schüler dazu?

Drei Jugendliche erscheinen verpixelt auf dem Bildschirm. Es ist Mitte August, zwei von ihnen sind in den Ferien. Einer, Lou, 17, sitzt auf einem Liegestuhl an einem griechischen Strand, der andere, Luca, 13, ist im Wohnmobil unterwegs. Hanna ist 14 und sitzt in ihrem Zimmer. Die drei sind Schüler des Lycée Ermesinde, wo alle 12- bis 15-Jährigen ihr Smartphone in einen abgeschlossenen Schrank legen. Da es sich um eine Ganztagsschule handelt, bedeutet das, dass die Kinder von acht bis halb fünf ein analoges Schulleben führen. Auch die Erwachsenen dürfen das Handy nicht benutzen, die Kantine ist eine handyfreie Zone. Lou stellt einen Unterschied beim Mittagessen fest: „Vorher saßen wir manchmal am Mittagstisch und haben auf dem Handy Netflix geschaut – das gibt es gar nicht mehr.” Hanna hat das Gefühl, dass es wieder viel mehr Kommunikation und soziale Interaktion in der Schule gibt. Bei ihr zuhause war es immer etwas strenger, was Technologie angeht. Ihr Vater kontrolliert auch jetzt noch, was sie auf dem Handy macht. Sie findet das nicht schlecht: „Vielleicht weiß man als 13- oder 14-Jährige auch nicht genau, wie man mit der Technologie umgehen soll, allerdings müssen wir den Umgang ja auch lernen. Ich hab kein Problem damit, kein Social Media zu haben.“ Sie merke, dass sie ihr Handy in der Freizeit und den Ferien mehr nutze, weil weniger zu tun sei. Sie spüre aber keine Abhängigkeit davon, sie könne eine Serie schauen und das reiche ihr. So viel Selbstregulierung haben gewiss nicht alle pubertierenden Jugendlichen vorzuweisen.

Lou erklärt, Social Media sei schädlich fürs Dopamin. Gleichzeitig findet er das Handy abends zum Einschlafen ganz gut. Luca sagt, wieviel er sein Smartphone nutzt, sei für ihn immer situationsabhängig. Es hänge einfach davon ab, was er gerade zu tun habe. Obwohl er mittlerweile ein I-Phone 13 hat, kennt er das Gefühl nicht, das Handy in der Schule zu nutzen, da er die Waldorf-Grundschule besucht hat. Dort gibt es sowieso ein Handyverbot. In seinem Freundeskreis hat es sich auch noch nicht eingebürgert, dauernd am Smartphone zu sein wenn man draußen unterwegs ist. Wenn man zuhause rumsitze, gäbe es schon Momente, wo alle auf ihr Handy schauen.

Im Ermesinde bekommen Eltern von Schülern, die mit dem Handy erwischt werden, einen Brief und das Gerät wird beschlagnahmt. Tammy Muller, Ko-Direktorin der Schule, hat nur wenig von solchen Fällen gehört. „Wenn jemand bei uns aufs Klo gehen muss, um auf dem Handy zu daddeln, kommt dieser Mensch ins Grübeln. Der wird schnell Suchti genannt.“ Das Projekt scheint allen voran zu funktionieren, weil die Direktion ständig den Dialog mit den Schülern sucht. Freitags wird mit ihnen diskutiert und kontinuierlich auf Fragen eingegangen, die die Jugendlichen in diesem Zusammenhang beschäftigen. Sie seien einsichtig, wenn mit ihnen gesprochen wird, weshalb das I-Pad in bestimmten Situationen zum Beispiel nicht das geeignete Mittel für eine Recherche sei. Das Verbot habe insgesamt für erstaunlich wenig Opposition unter den Schülern gesorgt.

Je älter die Schüler werden, desto mehr ist das Smartphone Teil ihres sozialen Lebens außerhalb der Schule. Die Medienkompetenzen zu fördern, um einen exzessiven Konsum zu vermeiden, wird in den nächsten Jahren eine Anstrengung für alle. Eine Überblicksstudie der Universität Augsburg kommt zum Schluss, dass Einschränkungen der Nutzung einen positiven Effekt auf das soziale Wohlbefinden von Schüler haben und demnach auch die akademischen Leistungen langfristig ansteigen dürften. Allerdings seien Bildungsmaßnahmen unerlässlich, wenn Verbote umgesetzt werden. Für die älteren Jugendlichen müsse dann Eigenverantwortung geschult werden, schreiben die Autoren der Studie. Wissenschaftlich begleitet wird die Umstellung in Luxemburg übrigens nicht. Dabei wäre das die ideale Möglichkeit gewesen, handfeste Daten zu bekommen. Die Schulen sind jedoch angehalten, die Ausarbeitung des internen Konzepts und das Resultat zu dokumentieren und zu publizieren.

„Ein Verbot reicht natürlich nicht aus. Es geht darum, zu schauen, wie man mehr Ruhe in den Unterricht bekommt, auch wenn digitale Geräte zum Einsatz kommen“, sagt Tammy Muller. Recherchen an einem Desktop-Computer seien für die Konzentration förderlich und würden die Schüler dazu einladen, sich eher auf die Suche nach einer zweiten Quelle zu begeben, als sich mit der erstbesten zufrieden zu geben. Im Sinne der Nachhaltigkeit und um die Geräteanzahl zu steigern, setzt die Schule deswegen alte Computer ein, die auf Vordermann gebracht werden und auf denen Linux installiert wird. „Früher hatte man ein Buch in der Schule und den Gameboy zuhause. Es ist sehr viel von den Heranwachsenden verlangt, auf dem Äquivalent eines Gameboys zu lernen.“

Denn bei den Verboten geht es um die Nutzung privater Smartphones. Was die Förderung der digitalen Kompetenzen und den Einsatz von Technologie in der Schule angeht, ist man in Luxemburg immer noch konzeptlos unterwegs. Das One-to-One-Projekt, in dem das Bildungsministerium jahrelang Schülern ein I-Pad zur Verfügung gestellt hat, wurde ohne Leitlinie lanciert. Schüler wollten in die „I-Pad-Klassen“, lediglich weil es dort ein Tablet gibt. Es unterliegt den Fähigkeiten der Lehrer/innen, ob und wie sie diese einsetzen. Die I-Pad-Weiterbildungen am Institut de Formation de l‘Éducation nationale (Ifen) seien gut besucht, betont Claude Meisch im Gespräch mit dem Land. Dennoch hat auch er gemerkt, dass das I-Pad oft ein Gadget ist. In der Praxis liegt es an den Lehrern, herauszufinden, wo das Pencil und das Tablet einen richtigen Mehrwert für den Unterricht darstellen, und nicht dazu führen, dass Jugendliche einfach auf Snapchat umschalten können, sobald sie sich langweilen. In den Grundschulen sollen instituteurs en compédtences numériques andere Lehrer/innen im pädagogischen Gebrauch von I-Pads schulen. Doch Schulakteure wünschen sich ein ausgegartes, einheitliches und landesweites Konzept, was digitale Lernmittel angeht.

Die Petition zum Handyverbot in der Schule, die demnächst im Parlament debattiert wird, zeigt, dass auch Eltern sich Gedanken machen. Sie sollen über die Screen-Life-Balance-Kampagne des Ministeriums ebenfalls mit ins Boot geholt werden. In diesem Kontext wurde der französische Psychologe Serge Tisseron zu einer Konferenz eingeladen. Er ist für seine 3-6-9-12 Regel bekannt: Keine Bildschirme vor drei Jahren, keine Spielkonsolen vor sechs, keine Internetnutzung vor neun, keine autonome Internetnutzung vor elf und keine sozialen Medien vor zwölf Jahren. Auch sollen Eltern in Ateliers technologische Kontrollfunktionen erlernen. Da es eher sozial schwache Familien sind, in denen Kinder hohe Bildschirmzeiten verzeichnen, stellt sich die Frage, ob man so an sie rankommt. Im Ermesinde hätten jedenfalls viele Eltern mitgeteilt, dankbar zu sein – denn in der Schule würden sie die Kontrolle über den Handykonsum völlig abgeben, sagt Tammy Muller.

Insbesondere für Eltern von Jugendlichen ist nicht immer ersichtlich, wann der Handykonsum exzessiv wird. „Es ist ein schleichender Prozess zum exzessiven Verhalten und zur Sucht“, erklärt Marc Bressler, Psychotherapeut im Zentrum fir exzessiivt Verhalen a Verhalenssucht (ZEV). „Jemand spielt etwa Fortnite oder hängt auf TikTok rum, und weil es Spaß bringt, macht die Person es nach und nach immer mehr.“ Manche Jugendliche schalteten dann wieder um, gingen wieder zum Basketball, andere blieben hängen. „Unser Körper hat sich angewöhnt, das Mobiltelefon aus der Tasche zu ziehen, sobald wir uns langweilen. Es wird anstrengend werden, die Bremse zu ziehen und sich diesen Automatismus abzugewöhnen.“ Das Verbot und die Leitlinien für die Sekundarschulen begrüßt das ZEV. Insbesondere in der Grundschule hätten manche Kinder sich gegenseitig mit Mutproben, etwa Horrorfilm-Ausschnitte auf Youtube zu schauen, den Schlaf geraubt.

Ein Buch, das das internationale Feuilleton die letzten Monate mitunter kritisch debattierte, ist Jonathan Haidts The Anxious Generation. Darin stellt der amerikanische Psychologe vier Forderungen, die weiter gehen als Tisserons: kein Smartphone vor dem 14. Lebensjahr; keine sozialen Medien vor 16 Jahren, handyfreie Schulen und mehr „Verantwortung, freies Spiel und Unabhängigkeit in der realen Welt“ in der Kindheit.Wenn Erwachsene Schwierigkeiten haben, sich den Bildschirmen zu entziehen, haben es Kinder und Jugendliche, deren präfrontaler Kortex noch nicht ausgereift und deren Impulskontrolle somit schwächer ist, umso mehr.

Letztendlich ist die Einschränkung auch als Prävention zu verstehen. „Das größte Problem ist Cybermobbing, es stellt einen Paradigmenwechsel dar“, erklärt Claude Heiser, Direktor des Kolléisch in Luxemburg-Stadt. Er nennt das Beispiel einer virtuellen Diskussion, in der zwei Schüler sich gegenseitig nachts auf einem Messengerservice gestritten haben. Am nächsten Tag hat einer den anderen im Schulhof mit der Faust ins Gesicht geschlagen. „Die Online-Auseinandersetzungen haben einen konkreten Impakt auf den realen Schulalltag.“

Im Lycée de Bonnevoie gibt es seit letztem Jahr in jedem Saal Handytribünen aus Holz, auch in den Mittagspausen bleiben die Geräte drin. Alle Schüler von Septième bis Première sind betroffen. Mike Borschette ist seit vergangenem Jahr Direktor. „Wenn ein Lehrer im Gang telefoniert, erkläre ich der Person, sie solle den anderen ein gutes Beispiel sein.“ Die sozialen Kompetenzen hätten durch die Corona-Jahre derart gelitten, dass es ein Defizit gibt, was sich bei den Vorstellungsgesprächen mit Vorgesetzten zeige: Die Schüler hätten Schwierigkeiten, selbstbewusst aufzutreten und frei zu sprechen. Vielleicht, weil sie angefangen haben, sich in virtuellen Räumen wohler zu fühlen. Weniger Zeit am Handy könne da helfen. Und natürlich gebe es ein paar wenige, die zwei oder drei Smartphones mitbringen, jedoch lediglich eins abgeben und dann bei ihm im Büro landen.

Sarah Pepin
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