Die kleine Zeitzeugin

Das Schweigen der FlüchtlingsdealerLa vie, le sacré,
la tolérance

d'Lëtzebuerger Land du 30.03.2018

Es ist schon über zwei Monate her, dass die Grenzüberschreitung geschah. Der böse Erdogan, von dem wir wissen, dass er lachende Frauen nicht schätzt und sich über klägliche Gedichtlein im deutschen Fernsehen sehr aufregt, marschierte in Afrin ein. Er fragte nicht lange nach, so geht zumindest die Sage, ob das den anderen Big Players in den Nahostkram passte. Er tat es einfach. Fakten schaffen nennt man das wohl.

Schon steigen türkische Jungs aus Panzern und freuen sich, im türkischen Fernsehen zu winken.

In Afrin, da leben größtenteils Kurd_innen, beziehungsweise werden gelebt haben. Die Kurd_innen, grübelmurmel, sind das nicht die, die gerade eben noch ...? Eben, ja. Aber das ist jetzt erledigt. Den IS gibt es ja gar nicht mehr, cool, vielleicht kann man nun wieder nach Ägypten! Ist billiger und chilliger als Mexiko. Und wenn man keinen IS mehr hat, wozu braucht man dann noch Kurd_innen?

Sie waren natürlich tolle Heroes, da sind sich die meisten einig, diese wilden, tapferen Männer und diese wilden, tapferen Frauen mit ihrem exotischen Traum von einem zivilisierten Kurdistan. Was die sich trauen! Auf den IS zu hauen, alle andern hauten nur ab. Richtige Held_innen, bei denen hatte das Sterben noch einen Sinn, sie starben ja für uns. Deshalb können wir Helden in diesem Fall ausnahmsweise akzeptieren, wenn wir auch sonst so einen lächerlichen Heldenkult ablehnen.

Natürlich auch, weil bei ihnen auch Frauen sterben dürfen. Und zwar nicht nur, weil sie vom Mann tot geprügelt werden. Und dann dieses legendäre, beinah utopische Rojava, in dem neue Gesellschaftskonzepte erprobt werden sollen: Eine Frauenquote von 40 Prozent wird angestrebt. Richtige Revolutionärinnen dort draußen in der Wüste! Diese starken Männer und diese starken Frauen, die für Kurdistan kämpfen, aber auch für die Welt, für uns, Befreiung vom Patriarchat, vom Kapitalismus und … all inclusive, eigentlich müsste Mensch gleich dorthin und sich einbringen, an der Seite dieser schönen furchtlosen Menschen kämpfen, dieser Frauen, die mit Gewehren posieren. Oder vielleicht sonst was dort tun, im Büro. Oder demonstrieren, hier.

Kurd_innendemos sind sowieso von allen Demos die schönsten, Sonnen gehen auf ihren Fahnen auf und rote Rosen und rote Sterne blühen, verbotene Buchstaben stehen da und ein verbotener Führer wird wie eine Monstranz getragen. Nur wenn die Türkenjungs kommen, gibt es Stress.

Davor fürchtet sich zumindest das deutsche Fernsehen, wenn es sich auch, wie die meisten EU-TV-Stationen, sonst nur spärlich zur türkischen Invasion äußert. Und wen hat die Verhöhnung der irakischen Kurden interessiert? Hin und wieder wird am Ende der Nachrichten schuldbewusst von einem Mohren und einer Schuldigkeit gemurmelt, aber dann geht das Leben weiter. Es gibt ja auch so viel Abwechslung derzeit, die bösen Russen, die kindischen Katalanen. Da dauert es zwei Monate, bis Anne Will ihre Gäste fragt, ob der kurdische Konflikt, wie der Krieg gegen die Kurden gern genannt wird, die Gewalt nach Deutschland bringe. Die Gewalt in den kurdischen Gebieten ist nicht so brennend interessant.

Wo ist die Lobby der Kurd_innen? Wo ist „Je suis Afrin“? Klar, wir verlieren den Uberblick, den Durchblick sowieso, wer wem jetzt wieder welche Panzer liefert, wer jetzt wo „Allahu akbar“ schreit, warum sich welche Kurden mit wem verbünden, wie sollen wir all das kapieren? Wo es so viel Leidenskonkurrenz gibt, Ost-Ghouta gegen Afrin, Bürgerkriegsgebiete in Afrika, die gar nicht mehr vorkommen, der Jemen mit seiner von Krieg und Cholera gemarterten Bevölkerung, die niemanden interessiert. Sie steht ja noch nicht vor unserer Tür.

Nur etwas ist leicht verständlich. Der ominöse Flüchtlingsdeal, so wissen wir, ist der Grund für das taktvolle Ignorieren dessen, was hinter der syrischen Grenze vor sich geht. Seltsame Logik, könnte man meinen, wohin werden denn die syrischen Kurd_innen flüchten?

Ein feines diplomatisches Schweigen senkt sich wie ein Leichentuch über das, was in Afrin und den syrischen Kurdengebieten vor sich geht. Wohltuend, dass zumindest Jean Asselborn es gebrochen hat.

 

Michèle Thoma
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