Der Escher Rabbiner Alexander Grodensky hat einen Brief zur Lage in Gaza co-signiert – und das Schweigen gebrochen. Ein Gespräch über Israel, Antisemitismus und jüdische Verantwortung

„Nicht in meinem Namen“

d'Lëtzebuerger Land du 01.08.2025

Land: Herr Grodensky, Sie haben letzte Woche, als Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde, einen Brief zur Lage in Gaza unterzeichnet, in dem Israels Existenzrecht betont wird, aber auch Kriegsverbrechen, Hunger als Waffe und die Gewalt militanter Siedler deutlich verurteilt werden (siehe Seiter 12). Was hat Sie dazu bewogen, diesen Aufruf zu unterstützen? Und haben Sie das mit Ihrer Gemeinde abgesprochen?

Alexander Grodensky: Das ist keine offizielle Position der liberalen jüdischen Gemeinde, und es gab dazu auch keine Absprache mit dem Vorstand. Das war meine persönliche Entscheidung. Natürlich bin ich als Rabbiner keine Privatperson, ich spreche immer auch in meiner Funktion. Die Gemeinde will zu politischen Themen – insbesondere zu Israel – keine Stellung beziehen. Ich stehe hinter dieser Haltung. Ob es langfristig möglich ist, sich völlig neutral zu verhalten, weiß ich nicht. Es ist schwer zu sagen, wie wir als Gemeinschaft zu diesem Thema stehen. Wir machen keine Umfragen, keine Abstimmungen. Einer der Initiatoren des Briefes ist ein guter Freund von mir, wir haben zusammen studiert. Als ich unterschrieben habe, waren es 380 Unterzeichner, inzwischen sind es über tausend.

Wie waren die Reaktionen auf Ihre Unterschrift?

Es gab Unterstützung – und zwar auch von Personen, bei denen ich überrascht war. Aber natürlich gab es auch Kritik. Manche waren nicht glücklich darüber, weniger weil sie das israelische Vorgehen befürworten, sondern weil sie generell der Meinung sind, ein Rabbiner solle sich öffentlich nicht äußern. Da spielt die Sorge mit, dass solche Stellungnahmen von Antisemiten instrumentalisiert werden. Das ist ein verständlicher Reflex. Die Leute sind vorsichtig – aus emotionalen, aber auch historischen Gründen. Aber insgesamt ist es ruhig geblieben.

Der New York Times Kolumnist Ezra Klein sprach kürzlich von einem Bruch mit der alten Maxime der Diaspora: „Was gut für Israel ist, ist gut für die Juden.“ Teilen Sie diesen Eindruck?

Tja – was ist denn „gut für Israel“? Ist das, was die derzeitige Regierung dort tut, gut für Israel? Das ist genau der Punkt. Israel ist ein demokratischer Staat mit einer gewählten Regierung. Aber in einem Land, das sich als jüdischer Staat definiert, gibt es Politiker, die glauben, im Namen des jüdischen Volkes sprechen zu dürfen. Und genau deshalb glaube ich: Was jetzt in Gaza passiert, hat eine Grenze erreicht. Man muss sich dann zumindest positionieren. Ich habe nicht die Illusion, dass der Appell Netanjahu erreicht oder Einfluss hat. Es geht weniger darum, Druck auf die israelische Regierung auszuüben, sondern darum, ein Signal zu setzen – nach außen wie nach innen: Nicht in meinem Namen.

Manche sagen: Dieser Krieg dauert schon über 21 Monate. Warum jetzt erst?

Das stimmt. Aber ich denke, es ist nachvollziehbar, dass viele zunächst Zurückhaltung geübt haben – ich ja auch. Man will die Balance halten: nicht zu viel, nicht zu wenig sagen. Es gibt nicht nur unterschiedliche Meinungen zum Konflikt, sondern auch zur Art, wie man öffentlich darüber sprechen sollte. Als Rabbiner muss ich das berücksichtigen. Ich bin kein Politiker, sondern meinem Gewissen verpflichtet.

Der Brief ist in der Sprache der Tora formuliert.

Die Tora wird von beiden Seiten gebraucht, oft auch missbraucht. Manche rechtfertigen mit Verweis auf die Bibel den Anspruch Israels auf das gesamte historische Land. Dass solche Argumente 2025 in einem demokratischen Staat noch ernst genommen werden, erstaunt mich manchmal. Die Wahrheit ist: Die Tora lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven lesen. Genauso wie die Schriften im Christentum oder im Islam. Je nachdem, wie jemand grundsätzlich denkt wird er in der Tradition entsprechende Begründungen finden. Manche finden Stellen, die nationale Ansprüche stützen. Die anderen sehen den Menschen im Zentrum, unabhängig von seiner Herkunft. Beides existiert in unserer religiösen Überlieferung.

Sie haben auch die Antwort der LSAP-Abgeordneten Franz Fayot und Yves Cruchten auf Antisemitismusvorwürfe seitens des RIAL (Recherche et informations sur l’antisémitisme au Luxembourg) auf Facebook geliked. Ein Ausdruck politischer Zustimmung?

„Geliked“ ist vielleicht zu viel gesagt. Für mich ging es darum, ins Gespräch zu kommen. Ich schätze die Arbeit von Bernard Gottlieb [dem Gründer und Leiter des RIAL] sehr. Ohne ihn gäbe es überhaupt keine Statistik zu antisemitischen Vorfällen in Luxemburg. Das wäre eigentlich eine Aufgabe des Staates. Es gibt zwar eine allgemeine Statistik zu Hasskriminalität, aber da ist alles zusammengeworfen: Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Rassismus – alles in einem Topf. Wenn man Antisemitismus wirklich bekämpfen will, muss man ihn auch differenziert erfassen. Deshalb hoffe ich, dass der „Plan d’action national de lutte contre l’antisémitisme“ nicht nur auf dem Papier bleibt. Seit einem Jahr gibt es die Kommission. Es wird Zeit, dass auch Ergebnisse folgen. Gespräche sind gut, aber kein Selbstzweck.

Die Prämisse von RIAL ist ja, dass es einen „neuen Antisemitismus“ gibt, der mit Israelkritik zusammenhängt. Teilen Sie das?

Ich glaube nicht, dass das die Prämisse ist – eher eine wissenschaftliche Beobachtung. In Deutschland wird von primärem, sekundärem und tertiärem Antisemitismus gesprochen. Ich bin kein Antisemitismusforscher, ich finde den Begriff „Judenhass“ oft klarer. So hat es Michel Friedman einmal formuliert. Für die Sache wäre es sicherlich besser, wenn es eine neutrale, mit einem wissenschaftlichen Beirat, staatlich getragene Institution gäbe. Nicht, weil RIAL schlecht arbeitet – sondern weil die Erhebung dann glaubwürdiger und unabhängiger wäre. Auch für Bernard Gottlieb wäre das einfacher. Niemand könnte dieser Stelle vorwerfen, sie arbeite parteiisch oder habe die falsche Methodologie.

Und auf welcher Antisemitismusdefinition sollte diese Arbeit beruhen? Der IHRA-Definition, die Antisemitismus mit Israelkritik vermischt?

Die IHRA-Definition ist international verbreitet und in ihrer Grundidee sinnvoll. Sie ist auch von der Luxemburger Regierung angenommen worden.

Ezra Klein meint, der Preis des multikulturellen Zusammenlebens sei, dass man Dinge manchmal eben anders hört oder wahrnimmt. Wie wirkt sich das auf Debatten aus, etwa zum Nahostkonflikt?

Es ist manchmal schwer, gemeinsame Bezugspunkte zu finden. Klar – alle stehen für Menschenrechte, Menschenwürde. Aber im konkreten Fall hängt viel vom Kontext ab. Und bei einem jahrzehntelangen Konflikt wie dem zwischen Israel und Palästina ist es besonders schwierig. Das hat nicht am 7. Oktober begonnen. Für viele reicht der Blick zurück bis ins Jahr 1917 oder noch weiter.

Sie wurden in Potsdam ordiniert. Die Schriftstellerin Deborah Feldman hat kürzlich kritisiert, dass kritische jüdische Stimmen systematisch marginalisiert würden. Teilen Sie diese Analyse?

Ich sehe das etwas differenzierter. Es ist richtig, dass gewisse Einrichtungen bevorzugt werden – und andere nicht. Deshalb läuft auch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Es geht um die Frage, ob es in Deutschland de facto nur noch ein „anerkanntes“ Judentum gibt. Aber ich sehe nicht alles düster. In Berlin etwa gibt es viele jüdische Stimmen – ganz unterschiedliche. Auch Dissens ist möglich. Klar, es gibt große Ungleichgewichte. Manche Strukturen verfügen über Millionen, andere arbeiten bescheiden. Aber bei all der Aufmerksamkeit, die dem Judentum in Deutschland entgegengebracht wird – man findet Gehör.

Wie sehen Sie das, was in Deutschland passiert – von Luxemburg aus betrachtet?

Ich habe hier in Luxemburg eine gute Position – als Rabbiner, der unabhängig von deutsch-jüdischen Strukturen agieren kann. In Deutschland werden Rabbiner oft bloß als Angestellte der Gemeinden wahrgenommen – mit entsprechend engen Rahmenbedingungen. Viele Rabbiner tun sich deshalb schwer, öffentlich Stellung zu beziehen. Denn wer sich äußert, riskiert Gegenwind.

Sie sind nicht die einzige kritische jüdische Stimme in Luxemburg. Es gibt Gruppen wie Jewish Call for Peace, gegründet von Martine Kleinberg. Wie stehen Sie zu diesen Initiativen?

Ich beobachte das eher aus der Distanz. Ich will mich da nicht vereinnahmen lassen. Aber: Martine ist als Jüdin bei uns immer willkommen. Wir sind im Kontakt. Sie ist Mitglied unserer Gemeinde – auch wenn wir dort nicht immer einer Meinung sind. Ich finde es wichtig, dass Juden eine spirituelle Heimat haben – unabhängig von ihren politischen Überzeugungen.

Was passiert im Anschluss an das Unterzeichnen dieses Briefs?

Es war ein Versuch, aus rabbinischer Sicht auf eine dramatische Situation zu reagieren – ohne konkrete Vorschläge zur Friedenslösung zu machen. Das ist nicht meine Aufgabe. Aber meine Aufgabe ist es, daran zu erinnern, dass es ethische Werte gibt – und dass wir danach leben sollen. Ich weiß, das klingt pathetisch. Aber wenn Rabbiner nur noch Kultusbeamte sind, die da vorne stehen und predigen, ohne Position zu beziehen, verfehlen wir unsere Aufgabe. Wir Rabbiner haben nur ein Werkzeug: unser Wort. Nicht im Sinne göttlicher Autorität, sondern aus der Überzeugung, dass die Tora uns zu einer Haltung gegenüber der Welt verpflichtet. Mir wurde auch schon vorgeworfen, denen gegenüber nicht empathisch zu sein, die selbst kein Mitgefühl für Palästinenser zeigen– eine absurde Verdrehung des Empathiebegriffs. Aber genau deshalb ist es so wichtig, dass wir unsere Stimme erheben – auch wenn jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird.

Sie scheinen auch institutionell auf Unabhängigkeit bedacht zu sein. Unseren Informationen nach hat sich die liberale Escher Gemeinde von der konservativen, und damit dem Oberrabbinat in Stadt Luxemburg gelöst.

Die beiden Gemeinden waren immer voneinander unabhängig. Auch als ich vor zehn Jahren nach Luxemburg kam, stand ich in keinem untergeordneten Verhältnis zum orthodoxen Großrabbiner in der Stadt. Das war auch in den Gemeindestatuten von 2018 so geregelt. Die jüngste Statutenänderung verwendet die gleichen Begriffe wie die der Gemeinde in der Avenue Monterey. Beide jüdischen Gemeinden haben nun ein Consistoire, beide einen Großrabbiner. Das ist historisch bedingt – ein Erbe der napoleonischen Zeit, wo jedes Consistoire einen Oberrabbiner hatte, egal wie groß es war. Es ist eher symbolisch. Es ändert weder mein Gehalt noch meine Befugnisse.

A Letter from Rabbis Worldwide

The Jewish People face a grave moral crisis, threatening the very basis of Judaism as the ethical voice that it has been since the age of Israel’s prophets. We cannot remain silent in confronting it.

As rabbis and Jewish leaders from across the world, including the State of Israel, we are deeply committed to the wellbeing of Israel and the Jewish People.

We admire Israel’s many and remarkable achievements. We recognise, and many of us endure, the huge challenges the State of Israel relentlessly confronts, surrounded for so long by enemies and facing existential threats from many quarters. We abhor the violence of such nihilistic terrorist organizations as Hezbollah and Hamas. We call on them immediately to release all the hostages, held for so long captive in tunnels in horrendous conditions with no access to medical aid. We unequivocally support the legitimacy of Israel’s battle against these evil forces of destruction. We understand the Israeli army’s prioritization of protecting the lives of its soldiers in this ongoing battle, and we mourn the loss of every soldier’s life.

But we cannot condone the mass killings of civilians, including a great many women, children and elderly, or the use of starvation as a weapon of war. Repeated statements of intention and actions by ministers in the Israeli government, by some officers in the Israeli army, and the behaviour of criminally violent settler groups in the West Bank, often with police and military support, have been major factors in bringing us to this crisis. The killing of huge numbers of Palestinians in Gaza, including those desperately seeking food, has been widely reported across respectable media and cannot reasonably be denied. The severe limitation placed on humanitarian relief in Gaza, and the policy of withholding of food, water, and medical supplies from a needy civilian population contradict essential values of Judaism as we understand it. Ongoing unprovoked attacks, including murder and theft, against Arab populations in the West Bank, have been documented over and over again.

We cannot keep silent.

In the name of the sanctity of life, of the core Torah values that every person is created in God’s image, that we are commanded to treat every human being justly, and that, wherever possible, we are required to exercise mercy and compassion;

In the name of what the Jewish People has learnt bitterly from history as the victim, time and again, of marginalisation, persecution and attempted annihilation;

In the name of the moral reputation not just of Israel, but of Judaism itself, the Judaism to which our lives are devoted,

We call upon the Prime Minister and the Government of Israel

To respect all innocent life;

To stop at once the use and threat of starvation as a weapon of war;

To allow extensive humanitarian aid, under international supervision, while guarding against control or theft by Hamas;

To work urgently by all routes possible to bring home all the hostages and end the fighting;

To use the forces of law and order to end settler violence on the West Bank and vigorously investigate and prosecute settlers who harass and assault Palestinians;

To open channels of dialogue together with international partners to lead toward a just settlement, ensuring security for Israel, dignity and hope for Palestinians, and a viable peaceful future for all the region.

Rabbi Jonathan Wittenberg (London), Rabbi Arthur Green (Boston), Rabbi Ariel Pollak (Tel Aviv). Signed by over a thousand rabbis, including Alexander Grodensky (Esch-sur-Alzette)

Frédéric Braun
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