Arbeitersiedlungen

Von der Arbeiterklasse zur Energieklasse

d'Lëtzebuerger Land du 27.02.2015

Wohnungsbauministerin Maggy Nagel machte bisher vor allem durch ihre Kritiken am Pacte logement und am Präsidenten des Fonds de logement von sich reden. Ersterer sei sein vieles Geld nicht wert, Letzterer habe recht eigenwillige Geschäftspraktiken, und nun wolle die Ministerin alles anders machen, um endlich genügend erschwinglichen Wohnraum bereitzustellen.

Wenn man durch die paar großen Arbeitersiedlungen im Süden spaziert, an den langen Reihen gleichförmiger Häuschen entlang, könnte man fast glauben, dass es einmal ein Goldenes Zeitalter der sozialpolitisch motivierten Stadtplanung und des sozialen Wohnungsbaus gab. Doch in Wirklichkeit dominiert seit mehr als einem Jahrhundert eine beeindruckende Kontinuität in der Wohnungsbaupolitik, und nichts lässt darauf schließen, dass ausgerechnet die liberale Regierung davon abweichen wird.

Die industrielle Revolution, die mit der Erschließung der Erzbecken im Süden ihren Höhepunkt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreichte, zog Tausende von Arbeitern aus dem Ösling, aber auch aus Deutschland, Italien, Polen und anderen Ländern in die Industriestädte Esch-Alzette, Schifflingen, Differdingen, Düdelingen, Rümelingen und andere. Sie mussten in überfüllten Zimmern, baufälligen Häusern und feuchten Buden, als Untermieter oder in Gasthäusern wohnen. Aus Angst vor Seuchen und sozialen Explosionen wurde die Arbeiterfrage deshalb vielerorts als Wohnungsfrage angesehen.

Die als Reaktion darauf um die Jahrhundertwende entstandenen Arbeitersiedlungen gehen aber auf private Initiativen zurück, sie wurden von den Hütten- und Bergwerksgesellschaften gebaut und an bei ihnen beschäftigte Arbeiter günstig vermietet. Auf diese Weise banden die Firmen eine Fraktion Arbeiter mit ihren Familien an sich und machten sie gefügig, da der Verlust der Arbeit auch der Verlust der Wohnung bedeutete.

Der liberale Staat des Zensuswahlrechts fühlte sich dagegen nicht dafür zuständig, die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern. Erst 1906, als auch die bescheidenen Ansätze einer Sozialversicherung nötig wurden, rang sich die Regierung zu einem Gesetz durch, das der Staatssparkasse erlaubte, Personen Darlehen zu gewähren, die, wie „die Arbeiter, die Handwerker, die kleinen Landwirte oder Angestellte hauptsächlich von ihrer Arbeit oder ihrem Verdienste leben“.

Aber welche Arbeiterfamilie verfügte schon über das nötige Eigenkapital, um selbst bei einem niedrigeren Zinsfuß ein Haus zu kaufen? „Die staatliche Intervention war so beschränkt, daß dem regulären Wohnungsmarkt keine Konkurrenz entstand“, fasst Antoinette Lorang den Geist des Gesetzes in ihrem Standardwerk Luxemburgs Arbeiterkolonien und billige Wohnungen 1860-1940 zusammen (S. 301). Und dieser Regel haben in den folgenden 100 Jahren alle Regierungen gleich welcher Koalition bis heute beherzigt.

Erst nach der Gründung moderner Massengewerkschaften, den revolutionären Unruhen und der Einführung des allgemeinen Wahlrechts am Ende des Ersten Weltkriegs wurde 1919 in Ausführung des Gesetzes von 1906 die Société nationale des habitations à bon marché gegründet, an deren Kapital der Staat, die größeren Industriegemeinden und die Arbed beteiligt waren. Sie hat nach eigenen Angaben innerhalb eines Jahrhunderts 8 600 Wohnungen in Luxemburg, Esch-Alzette, Differdingen, Düdelingen, Roodt-Syr, Mamer, Schüttringen und Junglinster gebaut. Das macht im Durchschnitt 90 Wohnungen jährlich aus. Im Geschäftsjahr 2013 stellte sie 36 Wohnungen fertig und verfügte über einen Mietpark von 170 Wohnungen.

Antoinette Lorang rechnet vor, dass bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die Schwerindustrie und die öffentliche Hand etwa 4 660 Wohnungen im Industrierevier des Südens bauten oder bezuschussten (S. 303). Davon waren fast 1 950 Werkswohnungen, die allerdings nur an „privilegierte, besonders qualifizierte Arbeiter“ vermietet wurden.

Stets war die staatliche Politik auf den Erwerb eines Eigenheims ausgerichtet, denn nichts macht politische Verhältnisse stabiler als ein Volk hochverschuldeter Eigenheimbesitzer. Als nach dem Zweiten Weltkrieg portugiesische Arbeiter einwanderten, überließ der Staat, wie ein Jahrhundert zuvor, ihre Unterkunft dem freien Markt. Dass die anfangs in überfüllten Zimmern der Bauunternehmern untergebrachten Arbeiter schließlich ihre Familien mitbrachten, wollte niemand bedacht haben.

Die Wohnungsfrage der Arbeiter scheint heute endgültig geklärt: Anders als im Gesetz von 1906 kennt die staatliche Wohnungspolitik keine Arbeiterklasse mehr, sondern nur noch individuelle Konsumenten. Der 1979 gegründete Fonds de logement verfügte 2012 über einen Mietpark von 1 349 Wohnungen und hatte 1 703 Wohnungen verkauft, was einem Durchschnitt von 52 Wohnungen im Jahr ausmacht. Dadurch ist sichergestellt, dass er die Preisgestaltung auf dem Wohnungsmarkt nicht beeinflusst. CSV-Wohnungsbauminister Fernand Boden stellte 2009 im Luxemburger Wort klar: „Wir sprechen in Luxemburg generell nicht von ‚sozialem‘ Wohnungsbau, sondern in erster Linie von ‚subventioniertem‘ Wohnungsbau.“ Mit den bekannten Auswirkungen auf das Preisniveau.

So sorgen die hohen Mieten und Grundstückpreise auch dafür, dass inzwischen das Gros der Luxemburger Arbeiterklasse in Lothringen, Rheinland-Pfalz und der Province de Luxembourg wohnt. Und mit dem 2009 eingeführten arbeitsrechtlichen Einheitsstatut wurde sowieso die Arbeiterklasse durch Gesetz aufgelöst. In ihren rezenten Jahresbilanzen schreibt die Société nationale des habitations à bon marché nicht mehr von der Arbeiterklasse, sondern von der Energieklasse ihrer Wohnsiedlungen.

Romain Hilgert
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