Das Mediengesetz vom 27. Juli 1991 gilt als Meilenstein der Luxemburger Medienpolitik. Nach jahrelangem Ringen wurde das seit 1930 durch sukzessive Konzessionsverträge verbriefte RTL-Monopol im audiovisuellen Sektor offiziell beerdigt. Neue Rundfunkfrequenzen wurden für andere private Anbieter frei gegeben. Und eine öffentliche Einrichtung sollte die Gestaltung eines „soziokulturellen“ Programms übernehmen.
Was dieses neue öffentlich-rechtliche Radioprogramm leisten und wie es funktionieren soll, ließ der Gesetzgeber offen. Entschieden wurde nur, dass es auf Werbung verzichten muss – also staatlich finanziert wird. Und dass es den sozialen und kulturellen Vereinigungen einen, wie es im Gesetz heißt, „breiten Zugang zur Antenne“ bieten soll.
Gesetz der Ungewissheit
Der „soziokulturelle Sender“ stehe „noch etwas schemenhaft da“, meinte der ADR-Abgeordnete Robert Mehlen in der Plenardebatte der Abgeordnetenkammer zum Mediengesetz am 10. Juli 1991 – eine Aussage, die ähnlich in fast allen Wortmeldungen auftauchte.
Gegner des Projekts (darunter die DP, die ADR und Teile der CSV1) konnten hoffen, dass das öffentlich-rechtliche Experiment scheitern würde. Dazu passt, dass die Sozialisten noch bei der Abstimmung Zweifel hegten, dass die vom Gesetz her kaum abgesicherte Rundfunkanstalt je existieren würde. Der LSAP-Abgeordnete Jean Asselborn zeigte sich in der Plenardebatte zwar „zufrieden, dass wir die Idee von Robert Krieps für ein nicht-kommerzielles öffentlich-rechtliches Radio durchsetzen konnten“. Beruhigt sei man in aber erst, wenn das Projekt wirklich umgesetzt würde, so Asselborn: „Wir teilen nicht den zynischen Pessimismus einiger Leute, die meinen, dass es immer ‚lettre morte‘ bleiben wird.“
Medienpolitik im CLT-Staat (1)
Das der Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Senders vorangegangene politische Tauziehen um die Liberalisierung der Radiofrequenzen war wesentlich von der dominanten Rolle des RTL-Mutterhauses Compagnie Luxembourgeoise de Télédiffusion (CLT) geprägt. Luxemburg spielte dank des CLT-Standorts europaweit eine wichtige Rolle im audiovisuellen Mediensektor, hatte aber selbst wegen des RTL-Monopols (und abgesehen von zahlreichen Piratensendern) eine außergewöhnlich arme audiovisuelle Medienlandschaft und als einziges Mitglied der Europäischen Gemeinschaft keinen öffentlich-rechtlichen Radiosender.
Das „nationale Interesse“ sei „noch immer deckungsgleich mit den Interessen des Konzessionärs, der bisher für dieses Land eine gute Arbeit geleistet hat“: Diese vom DP-Abgeordneten Henri Grethen 1991 im Parlament postulierte Interessenkonvergenz hat unter anderem die technischen Rahmenbedingungen der audiovisuellen Medienpolitik definiert.
Die neu zu vergebenen Radiofrequenzen hatte Luxemburg sich 1984 in Genf bei Verhandlungen im Rahmen der Internationalen Fernmeldeunion gesichert. Die CLT wirkte daran maßgeblich mit, wie der hohe Beamte im Staatsministerium Paul Zimmer wenige Jahre später in einem Bericht schilderte.2 Ziel der Luxemburger Delegation sei es gewesen, die Qualität und Reichweite der CLT-Radiofrequenzen zu verbessern.
Dabei ging es der CLT primär um ins Ausland gerichtete Angebote. Im Inland wollte das Medienhaus möglichst wenig Konkurrenz zulassen. Entsprechend handelte Luxemburg sich viele kaum brauchbare Lokalfrequenzen, einige Regionalfrequenzen und wenige nationale Radiofrequenzen aus. Darunter die nationale Frequenz 100,7 Megahertz, die RTL neben 92,5 Megahertz nutzen wollte, um die Reichweite seines Luxemburger Radioprogramms zu verbessern. „Cette contrainte (...) a été délibérément créée“, so Zimmer. (1993 wechselte Zimmer zum Saint-Paul-Verlag, der gerade Radio DNR gegründet hatte. Von 1995 bis 2003 war er Generaldirektor des Medienhauses.)
Ein Radio für die geschriebene Presse
CSV und LSAP hatten sich im Hinblick auf die Liberalisierung der Radiolandschaft ursprünglich nicht auf die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Senders geeinigt. Bei der Vergabe neuer lokaler Frequenzen sollten laut Koalitionsabkommen von 1984 die Zeitungsverleger prioritär behandelt werden.3
Verhandelt wurde schließlich über ein Modell, in dem den Zeitungsverlegern Fenster im luxemburgischen RTL-Programm bereitgestellt werden sollten. Ausgestrahlt werden sollten die Fenster-Programme über 92,5 Megahertz und die neue nationale Frequenz 100,7 Megahertz. Allerdings wurden den Zeitungsverlagen lediglich zuhörerarme Zeitfenster im Nachmittagsprogramm angeboten, und die CLT wollte ihnen einen Teil der Werbeeinnahmen abknöpfen. Die Verhandlungen zwischen Staatsministerium, CLT und den sieben interessierten Presseorganen scheiterten im Oktober 1986.
Öffentlich-rechtliche Kompromisslösung
LSAP-Kulturminister Robert Krieps brachte damals die Idee eines öffentlich-rechtlichen Radioprogramms ins Gespräch. Trotz Widerständen in der CSV gelang es der LSAP, ihrem Koalitionspartner ein gemeinsames Bekenntnis zu dieser Idee abzuringen.
Im Rahmen einer parlamentarischen Orientierungsdebatte zur Medienpolitik am 9. Juni 1988 forderten die Mehrheitsparteien die Regierung auf, „à accroître l’offre des programmes disponibles et les possibilités d’expression des associations socio-culturelles, en utilisant la fréquence 100,7 pour une radio à couverture nationale à gérer par un établissement public“.
Das Kulturministerium gab daraufhin die Ausarbeitung eines Weißbuchs in Auftrag, „sur l’opportunité et les moyens de créer une radio nationale publique, à vocation culturelle“. Das 1989 von dem Radiomacher und grünen Politiker Robert Garcia zusammengestellte Kompendium skizzierte mögliche Konzepte für ein „soziokulturelles Radio“, darunter: pluralistische Information, Bürgerpartizipation, Kultur, Bildung, „Verfeinerung der Musikkultur“, „Verbesserung des interkulturellen Klimas“ und „Diffusion der Ideen und Aktionen der sozio-kulturellen Vereinigungen“.
In dem Weißbuch kamen auch interessierte Akteure aus Medien, Kultur und Politik zu Wort: Mehrere Autoren warnten, ein Radio, das ein bisschen von allem mache, werde am Ende niemanden ansprechen. Und dass öffentlich-rechtliche Qualitäts- und Professionalitätsansprüche etwas kosten würden.
Trotz dieser konzeptuellen Vorarbeit gelang es bis zur Abstimmung über das Mediengesetz 1991 nicht, die widersprüchlichen und vagen Erwartungen an den neuen Sender in ein kohärentes Konzept einfließen zu lassen. Robert Krieps, der 1990 verstarb, hatte sich nie richtig festgelegt, welche Art öffentlich-rechtlichen Senders er sich vorstelle: „Elle sera à la fois France Musique, France Culture et Radio bleue, mais aussi Schulfunk et porte-parole des groupements au service des intérêts légitimes des citoyens.“4
Während der Plenardebatte 1991 lagen die Vorstellungen der Parteien immer noch meilenweit auseinander: Sollten der Konsumentenschutz, die Gewerkschaften und der Mouvement écologique Sendungen in Eigenregie moderieren dürfen? Oder sollten professionelle Journalisten die Inhalte produzieren? Sollte Radio 100,7 ein elitäres Nischenprogramm werden, ein Sprachrohr für Minderheiten, oder ein vollwertiges Angebot nach dem Vorbild altehrwürdiger Rundfunkanstalten im europäischen Ausland?
Medienpolitik im CLT-Staat (2)
Die CLT hat die Debatte über die Liberalisierung der Radiofrequenzen nicht nur technisch, sondern auch politisch dominiert. Ausdruck davon ist, dass die Begriffe „CLT“ und „RTL“ in der Plenardebatte über das Mediengesetz häufiger vorkamen (insgesamt 530 Mal) als der für die Substanz des Gesetzes zentrale Begriff „Radio“ (519 Mal).
Der damalige Präsident und Generaldirektor der CLT (und frühere DP-Staatsminister) Gaston Thorn hatte sich wiederholt gegen die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Radios ausgesprochen. Noch drei Wochen vor der Abstimmung im Parlament, forderte Thorn beispielsweise in einem Interview bei RTL Télé, die Frequenz 100,7 Megahertz nicht an den „Soziokulturellen“ zu vergeben. Im Parlament fiel die Rolle der RTL-Interessenvertretung unter anderem dem DP-Abgeordneten Josy Simon zu, der gleichzeitig Präsident der RTL-Personaldelegation war. Auch der Staatsrat verteidigte in seinen sehr politischen Gutachten deutlich die Interessen der CLT.
Weil RTL den Mehrheitsparteien wochenlang nicht ermöglicht habe, ihre Position zum Mediengesetz zu erläutern, verspüre er „eng gewëss Gêne“, meinte CSV-Berichterstatter Michel Wolter im Parlament. Das änderte nichts daran, dass seine Partei – ebenso wie die meisten anderen Abgeordneten – offensichtlich einem enormen Rechtfertigungsdruck nachgab. In der Plenardebatte wurde wiederholt betont, dass durch das neue Mediengesetz für RTL keine zu große Konkurrenz geschaffen würde. Ohnehin sei es den CLT-Aktionären ziemlich egal, wie sich der Luxemburger Markt entwickle, solange der Staat zur Finanzierung des luxemburgischen RTL-Programms beitrage, beschwichtigte wiederum der LSAP-Abgeordnete René Kollwelter. Und die internationalen Aktivitäten der CLT würden ohnehin weiter „vom Gesetzgeber und von der Regierung den totalen Rückhalt erhalten“.
Das öffentlich-rechtliche Angebot sei nur als Ergänzung zu RTL gedacht, betonte CSV-Staatsminister Jacques Santer. CSV, LSAP und Grüne konnten sich vorstellen, dass das soziokulturelle Programm im Rahmen einer Zusammenarbeit mit RTL entstehen würde. Entsprechende Verhandlungen sollte das Staatsministerium nach Verabschiedung des Mediengesetzes mit der CLT führen. Da das Gesetz keinen konkreten Auftrag für das soziokulturelle Programm festschrieb, blieb offen, worüber genau mit RTL verhandelt werden sollte. Zudem sah das Gesetz vor, dass eine Frequenz „ganz oder zum Teil“ für das „soziokulturelle Programm“ reserviert würde. RTL konnte somit auf einen eigenen Sendeanteil auf 100,7 Megahertz hoffen – doch dazu später mehr.
Was heißt „Service public“?
„Radio service public“ war eigenen Aussagen nach die von Robert Krieps bevorzugte Bezeichnung für den geplanten öffentlich-rechtlichen Radiosender. Dies sei „ein klar umgrenzter Begriff im öffentlichen Recht und erlaubt damit eine klare, sichere, rechtliche Grundlage. Zweitens liegt die Betonung auf ,service‘ oder Dienstleistung im öffentlichen Interesse. Diese Aufgabe kann ein kommerzieller Sender niemals erfüllen, da er von den Reklamen und den anvisierten Zielgruppen abhängig ist.“5
Diesen Vorstellungen wurde im Mediengesetz nicht Rechnung getragen. Tatsächlich kam der Begriff „Service public“ im ursprünglichen Gesetzestext nur einmal in einem anderen Zusammenhang vor. Bezeichnenderweise hat das „Établissement public“, das mit der Produktion eines soziokulturellen Programms beauftragt wurde, im Gesetz gar keinen Namen. Den Titel „Établissement de radiodiffusion socioculturelle“ bekam das Radio 1992 per großherzoglicher Verordnung.
Daran änderten auch die Zweifel des CSV-Abgeordneten und Präsidenten der parlamentarischen Medienkommission François Colling nichts, der 1991 meinte, der damals geläufige Titel „soziokultureller Sender“ sei „kee glécklechen Terme“. Robert Garcia hatte schon im Weißbuch 1988 darauf hingewiesen, dass der Begriff „soziokulturell“ in der internationalen Fachliteratur zum Radiowesen nicht existiere.
Die Wortschöpfung spiegelt ein Unbehagen wider, das Kind beim Namen zu nennen. Somit ging man einem direkten Vergleich mit öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Ausland aus dem Weg. Viele Abgeordnete brachten während der Plenardebatte die Idee des „Service public“ mit Pluralismus, Neutralität und Qualität in Verbindung. Dem Verzicht auf eine angemessene Terminologie im Gesetz wurde jedoch keine vertiefte Diskussion gewidmet.
Die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Medien ist im Luxemburger Kontext ohnehin schwierig: Immerhin sind auch RTL-Radio und RTL-Fernsehen zum Teil an einen öffentlichen Sendeauftrag gebunden. Und solange das Gesetz nicht definiert, was mit einem öffentlich-rechtlichen Auftrag genau gemeint ist, bleibt auch offen, an welchen Kriterien die betroffenen Medien sich messen lassen müssen.
Regierungsradio
Das Modell zur Leitung des „Établissement de radiodiffusion socioculturelle“ wurde 1992 mit einer großherzoglichen Verordnung definiert und sieht vor, dass alle neun Verwaltungsratsmitglieder von der Regierung ernannt werden. Damit wurden die frommen Wünsche mehrerer Abgeordneter enttäuscht. In der Plenardebatte 1991 hatten insbesondere Grüne und Sozialisten gefordert, dass der neue öffentlich-rechtliche Sender möglichst unabhängig und staatsfern sein müsse. Jacques Santer folgte auch den Vorschlägen des Kulturministeriums aus dem Weißbuch von 1989 nicht. Darin war eine stärkere Trennwand zwischen Exekutive und Radio angedacht.
Auch zum Finanzierungsmodell lässt sich im Weißbuch eine Überlegung finden, die später nicht mehr aufgegriffen wurde. Dass eine Finanzierung über Rundfunkgebühren, die mehr Staatsferne garantiert, nicht ernsthaft ins Auge gefasst werden würde, sah der Journalist Romain Hilgert bereits 1989 kommen: Der Ansatz hätte „die politischen Initiatoren des Projekts [gezwungen], die Bevölkerung mit Begeisterung für ein Unternehmen zu gewinnen, hinter dem sie selbst nur halbherzig stehen“.
Mega-halbhertzig: die Fensterlösung
Die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Radios hatte nach Verabschiedung des Mediengesetzes keine Priorität. Andere Vorhaben schritten wesentlich schneller voran: Im Herbst 1991 ersetzte das von der Regierung geforderte tägliche RTL-Fernsehprogramm das wöchentliche „Hei elei“. 1992 wurde die Liberalisierung der Radiolandschaft Realität: DNR, Radio Latina, Eldoradio und Radio Ara starteten mit ihren Programmen.
Erst am 19. September 1993 ging Radio 100,7 auf Sendung. Während der besten Sendezeiten, also morgens und mittags, gehörte die Frequenz jedoch RTL. Das soziokulturelle Programm durfte lediglich zwischen 14.30 Uhr und Mitternacht gesendet werden, und zwar aus den Kirchberger RTL-Studios, mit kostenpflichtiger technischer Assistenz und unter Programmauflagen von RTL: Der in einem Kooperationsabkommen beschlossene Nichtangriffspakt sollte RTL vor Konkurrenz im Nachrichtenbereich schützen. Als „Komplementarität“ wurde diese Einschränkung des öffentlich-rechtlichen Auftrags etwas euphemistisch bezeichnet.
Die Koexistenz öffentlich-rechtlicher und privater Sender gewährleistet Medienpluralismus jedoch erst dann, wenn beide Angebote echte Alternativen sind: Wenn sie also möglichst komplett, aber eben anders informieren. Im Oktober 1991 hieß es dazu in d’Lëtzebuerger Land: „Santer hat deutlich gemacht, dass RTL ein Nachrichtenmonopol behalten soll: allenfalls könne auf der Frequenz 100,7 eine Art Veranstaltungskalender im kulturellen Bereich ausgestrahlt werden. Dahinter lässt sich eine Konzeption vom soziokulturellen Sender ausmachen, der in die Rolle eines billigen Anhängsels von RTL 92,5 gedrängt würde. Da steht Santer jetzt eine Auseinandersetzung mit dem Koalitionspartner bevor – LSAP-Präsident Ben Fayot hat bereits nachdrücklich Nachrichtensendungen auf der Frequenz 100,7 gefordert.“6
Mit der 1993 beschlossenen „Fensterlösung“ war klar, dass die CSV (und RTL) sich hier durchgesetzt hatten.
Anspruch und Realität
1993 verfügte der soziokulturelle Sender über elf feste Mitarbeiter und ein Budget von 40 Millionen Franken. Dass man damit weder France Culture noch France Bleu nachahmen konnte, war dem Staatsministerium durchaus bewusst. Im Zimmer-Bericht von 1988 wurde am Beispiel der Kostenstruktur deutscher Landesrundfunkanstalten veranschaulicht, dass gerade die mit dem öffentlich-rechtlichen Qualitätsanspruch verbundenen Programminhalte – also aufwändig recherchierte und produzierte Sendungen über Politik, Kultur oder Musik – pro Minute drei Mal mehr als leichte Unterhaltungssendungen kosteten. Ums Zehnfache teurer würden eigene kreative Produktionen, zum Beispiel Hörspiele.
Sogar Lokalradios mit weniger aufwändigen Programmangeboten hätten ihren Preis, so Zimmer in seinem Bericht: Das Stadtradio Freiburg, das nur wenige Stunden am Tag sendete, kostete in den 1980er Jahren umgerechnet 115 Millionen Franken jährlich, also das Dreifache des Startbudgets von Radio 100,7.
Zweckoptimistische Zwischenbilanz
„Les débuts difficiles de la radio socioculturelle sont bien connus“, heißt es in einem Bericht, den das Staatsministerium im April 1996 vorlegte.7 Trotz finanzieller Schwierigkeiten und häufigen Wechseln an seiner Spitze gebe es Fortschritte. Zum Beispiel sei der Sender ein „privilegierter Partner“ für „kulturelle und soziale Aktivitäten“.
Das Korsett, in dem der soziokulturelle Sender steckte, wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Mit etwa 30 000 regelmäßigen und 3 000 täglichen ZuhörerInnen erzielte das Halbtagsprogramm weniger als ein Prozent Reichweite. Im Staatsministerium suchte man nach positiven Interpretationsmöglichkeiten: „Que faut-il en penser? Pour une radio nationale on peut considérer ce taux comme dérisoire. Pour une offre culturelle, il s’agit d’un rayonnement appréciable.“
Zitiert wurde auch aus einer qualitativen Umfrage der Ilres, der zufolge die ZuhörerInnen die Qualität des Programms bemängelten. Auch das wurde relativiert: „Il est vrai que l’on ne peut comparer la radio socioculturelle à des radios de service public étrangères, ayant dix fois plus d’expérience et de moyens.“
Die niedrigen Zuhörerzahlen boten der DP eine Steilvorlage, um die Schließung von Radio 100,7 zu fordern: „Le public luxembourgeois ne semble guère ressentir de besoin pour une telle offre radiophonique spécifique“, hieß es in der Begründung eines im Oktober 1996 von der DP-Abgeordneten Anne Brasseur eingebrachten Gesetzvorschlags. Die anderen Parteien fanden damals, es sei noch zu früh, um über den (Miss-)Erfolg des „Soziokulturellen“ zu urteilen. Die DP gab ihr Bestreben daraufhin auf, obwohl sie 1999 selbst wieder in die Regierung kam.
Vorsichtige Emanzipation
Es grenzt an ein Wunder, dass der Sender trotz der widrigen Startbedingungen und den damit verbundenen personellen Turbulenzen überhaupt überlebte. Tatsächlich erfuhr das Radio unter der Leitung seines langjährigen Direktors Fernand Weides (1994 bis 2013) eine schrittweise Stabilisierung. Sie spiegelte sich in mehreren Umzügen wider: 1996 vom Kirchberg in die Route de Longwy (1997 erfolgte mit etwas Verspätung die Umstellung auf ein Ganztagsprogramm), 2003 in die Avenue Monterey (parallel dazu stellte das Radio auf eine digitale Tonverarbeitung um) und 2013 in die Avenue John F. Kennedy (mit Platz für professionelle Studios und mehr Personal).
Mittlerweile hat Radio 100,7 mehr als 50 MitarbeiterInnen und ein Jahresbudget von rund 6,5 Millionen Euro. Sein Programm erhebt den Anspruch, gemäß dem Vorbild öffentlich-rechtlicher Radios im Ausland eine vollwertige Grundversorgung in den Bereichen Information, Kultur, Musik, Bildung und Unterhaltung auf unabhängige und professionelle Weise zu garantieren.
Der Zuhöreranteil schwankt zwischen vier und fünf Prozent – ähnlich wie France Bleu Lorraine, etwa das Doppelte von France Culture, aber weniger als die Hälfte von France Inter. Soll Radio 100,7 mehr ZuhörerInnen ansprechen, müssten Qualität und Kohärenz des Programms angepasst werden – und das Angebot mehrsprachig werden, hatten die Experten der Europäischen Rundfunkunion (EBU) im April 2018 in einer externen Evaluation festgestellt.8
Tatsächlich stellt sich die Frage, ob man in einem multikulturellen und mehrsprachigen Land überhaupt von „Service public“ sprechen kann, wenn das nicht-kommerziell ausgerichtete audiovisuelle Angebot sich auf einen Radiosender in Luxemburger Sprache beschränkt. (Medienpolitische Erwägungen über die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Fernsehens will Staats- und Medienminister Xavier Bettel (DP) von den Entwicklungen bei RTL abhängig machen.9)
Klare(re) Verhältnisse
Das blau-rot-grüne Regierungsprogramm sieht eine Debatte über die „Rolle und Missionen“ und den gesetzlichen Rahmen von Radio 100,7 vor. Die zentrale Frage ist, ob die Politik nun ein deutlicheres Bekenntnis zum „Service public“ wagt.
Zwei Argumente könnten dabei in die Waagschale fallen. Die 1991 versprochene Liberalisierung ist durch eine erneute Konzentration im audiovisuellen Sektor nur bedingt Realität geworden. Der Luxemburger Mediensektor ist einer europäischen Studie zufolge einem sehr hohen Risiko der Medienkonzentration ausgesetzt. Seit es Radio DNR nicht mehr gibt und RTL eine Beteiligung am französischsprachigen L’Essentiel Radio übernommen hat, ist die Dominanz von RTL wieder deutlich gewachsen.10 Dem öffentlich-rechtlichen Angebot kommt also eine zentrale Rolle als Monopolbrecher zu.
Seinem Ideal nach leistet ein Medium, das durch eine solidarische Finanzierung dem Allgemeininteresse dienen soll, einen Beitrag zur pluralistischen Meinungsbildung in einer Demokratie. Dass es dafür im Zeitalter von Facebook und Fake News eine Nachfrage gibt, hat im März 2018 beispielsweise das Bekenntnis der SchweizerInnen – und besonders der jungen WählerInnen – zu den Gebühren für ihren audiovisuellen „Service public“ gezeigt.
Glaubwürdige Unabhängigkeit
Mit einem Verwaltungsrat, der allein von der Regierung bestimmt wird, ist Radio 100,7 ausschließlich der Exekutive Rechenschaft pflichtig. Dem Gedanken des Allgemeininteresses würde eine Rechenschaftsplicht gegenüber der Öffentlichkeit sicherlich besser entsprechen.
Wollte man internationalen Standards entsprechen, müssten zudem Staatsferne, Programmautonomie und redaktionelle Freiheit in einem Gesetz verankert sein und sich im Verwaltungsmodell widerspiegeln. Die Experten der EBU haben in ihrer Evaluation gewarnt: „The current system of governance underlies a risk of politicization, which could be a threat to ERSL’s11 independence.“12
Auf ihre direkte Einflussmöglichkeit sollte die Politik also verzichten – ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und der des öffentlich-rechtlichen Radios zuliebe.