Während die Schuldenkrise auf den Kern der Eurozone übergreift, warnt Finanzminister Luc Frieden (CSV) vor der „Ausklammerung der Demokratie“

Beklemmung

d'Lëtzebuerger Land du 18.11.2011

Mit einem kleinen Witz unter Bankern begrüßte Finanzminister Luc Frieden (CSV) am Dienstag die Teilnehmer am Finanzmarktforum der Deutschen Bank auf dem Kirchberg. „Willkommen im AAA-Staat Luxemburg. Wenn Sie Luxemburger Staatsanleihen kaufen, kann ich garantieren, dass Sie Ihr Geld zurückbekommen.“ Nach allgemeinen Gelächter war Schluss mit lustig. Was folgte, war eine beklemmende Einschätzung der Dramatik der aktuellen Schuldenkrise in Europa und auch ein Eingeständnis der Hilflosigkeit der europäischen Politik angesichts dieser Krise.

Die EU stehe vor der größten Herausforderung seit ihrer Gründung, ganz Europa stecke in der tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, so Frieden, der ansonsten nicht auf Übertreibung als rhetorisches Mittel zurückgreift. Man stecke „in einem Teufelskreis, wo es eigentlich keine Möglichkeit mehr gibt, herauszukommen“. Während der Immobilien- und Finanzkrise 2008 hätten die Staaten eingegriffen, um Banken und Realwirtschaft zu stützten, was zur aktuellen Staatsschuldenkrise geführt habe. Nun komme es erneut zur Bankenkrise, in der Staaten, die kein Geld mehr haben, eingreifen müssten. Während Frieden in der Chefetage der Deutschen Bank im kleinen Kreis referierte – die rund 30 Zuhörer hatten jeweils 400 Euro für die Teilnahme bezahlt –, fand an den Märkten der Ausverkauf der Europäi-schen Staatsanleihen statt. Auch Schuldtitel aus dem Kern der Eurozone, niederländische, belgische, österreichische und französische Anleihen, gerieten unter Druck, die Zinsaufschläge gegenüber deutschen Bundesanleihen stiegen. Die lange besprochene Ansteckungsgefahr, die Ge-fahr also, dass die Schuldenkrise vom Rand der Eurozone auf den inneren, harten Kern übergreifen werde, hat sich [-]eingestellt.

Nach Friedens Analyse sind die Fehler der Vergangenheit aber nicht nur bei den Bankiers zu suchen. „Wir – und damit meine ich nicht mich als Luxemburger Finanzminister, auch wenn es dort sicherlich Kritikpunkte gibt, sondern allgemein in Europa und in der Welt – haben den Menschen versprochen, dass der Staat alles machen kann, auch wenn er dafür viel Geld aufnehmen muss.“ Dass er sich selbst aus dem Schuldbekenntnis ausklammerte, sorgte doch für ein wenig Gemurmel im Saal, schließlich war der CEO der Deutschen Bank Gastgeber der Veranstaltung – Ernst-Wilhelm Contzen, Präsident der ABBL und damit einer der Arbeitgebervertreter, die auch Friedens Haushaltspolitik für zu expansiv halten (siehe Seite 2-3). Die aktuelle Schieflage sei das Resultat einer unglaubwürdigen Politik, so Frieden, nun gehe es darum, „die Menschen mitzunehmen“, ihnen zu erklären, dass der Staat nicht alles könne. Bei der Reduzierung der Schulden und Defizite müsse die soziale Kohä-sion wichtig bleiben.

Die Eurostaaten müssten in Zukunft den Stabilitätspakt strikt einhalten. Das sei Luxemburg zwar seit der Einführung des Euro immer gelungen, „aber auch wir, und das sage ich den Luxemburgern, müssen uns anstrengen“, fuhr Frieden später fort. Wegen der hohen Belastung der Staatsfinanzen im Kontext der Sozial- und Rentenversicherungen müsste auch Luxemburg einen kleinen Überschuss erzielen, erinnerte Frieden an das mittelfristige Haushaltsziel von 0,5 bis 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dabei hatte er selbst bei der Vorstellung des Stabilitäts- und Wachstumspakts vergangenes Jahr eingeräumt, das Ziel, den ausgewogenen Haushalt bis 2014 zu schaffen, mehr oder weniger aufgegeben zu haben.

Am Dienstag gab sich Frieden kämpferisch. Den „kleinen Überschuss“ werde man erzielen, wenn man sich mit einer gezielten mittel- oder längerfristigen Politik dafür einsetze. „Das ist mein Ziel für die nächsten zehn Jahre“, so die Ansage des Finanzministers. „Es ist ganz klar, dass wir einen Plan für dieses Land brauchen, wie wir weitere Arbeitsplätze schaffen können. Wir müssen diesen Finanzplatz weiter ausbauen, darauf auch die Überschüsse im Staatshaushalt erzielen. Ich plädiere also für einen großen Zehnjahresplan für dieses Land. Wo wir Strukturreformen so unternehmen, dass weitere Arbeitsplätze entstehen in Luxemburg (...), aber zugleich auch die Pensionsreform, die Reform der Finanzierung der Renten in diesem Land vornehmen. Das ist die große Aufgabe für Luxemburg für das Jahr 2012“, so Frieden staatsmännisch. Dafür, sagte er an anderer Stelle, brauche man auch eine andere Debatte. Mit den Menschen, die in der Regel offen seien für Argumente, müsse man direkt ins Gespräch kommen und über die Parteigrenzen hinausschauen. „Wir dürfen, das sage ich auch für dieses Land, die Debatte nicht reduzieren auf Diskussionen in geschlossenen Räumen mit Arbeitnehmern und Arbeitgebern“, warnte er mit Verweis auf die Tripartite.

Zur Lösung der Staatsschuldenkrise in der Eurozone seien kurzfristig verschiedene Maßnahmen gefragt. Man müsse Griechenland, ein Land „das viele Fehler gemacht hat, unter die Arme greifen. „Das ist nicht eine Hilfe für ein anderes Land. Das ist eine Hilfe für die Stabilität der Eurozone“, so Frieden, der bedauerte, dass die Europäischen Entscheidungsträger der Bevölkerung zuhause in den vergangenen Monaten nicht klargemacht hätten, „dass wir uns damit eigentlich selbst retten“. Er begrüßte die Bildung der nationalen Einheitsregierung in Griechenland, mahnte aber an, die Reformprogramme, die Griechenland auf Geheiß seiner Geldgeber durchsetzten muss, müssten „so gestaltet werden, dass die soziale Kohäsion und soziale Gerechtigkeit nicht verloren geht.“ Frieden, im eigenen Land wie außerhalb eher als Vorkämpfer für Steueroptimierung und diskrete Vermögensverwaltung als für die gerechte Umverteilung des Reichtums bekannt, treibt nichts weniger als die Angst vor dem Zusammenbruch der demokratischen Strukturen, dem Chaos, das folgen könnte und vielleicht, angesichts der Geschichte und politischen Kultur in einigen Ländern, auch die Angst vor alternativen Regierungsformen: „Die Leute, die am wenigsten haben, dürfen nicht alles Vertrauen in die Zukunft und in die Institutionen verlieren, denn das wäre eine andere Krise, die noch viel schlimmer ist, als die Krise, die wir jetzt schon se-hen.“ Das gelte für Griechenland, aber auch für die anderen Länder unter dem europäischen Rettungsschirm, also Portugal und Griechenland, und für „Länder, die nah an der Katastrophe sind, wie Italien.“

So warnte, angesichts der Bildung technokratischer Regierungen in Griechenland unter dem früheren Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank, Lucas Papademos, und dem ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti in Italien, ausgerechnet der technokratischste aller Politiker, Luc Frieden, vor der „Ausklammerung der Demokratie“. „Ich begrüße die Tatsache, dass eine neue Regierung (in Italien ins Amt tritt), wobei ich hinzufügen möchte, dass die Antwort nicht sein kann, dass die Politik ersetzt wird durch nicht gewählte Technokraten“, so Frieden, der mit Verweis auf Politiker und Experten hinzufügte: „Ich sage das nicht, weil ich glaube, dass die einen besser sind als die anderen. Aber wir leben in einer parlamentarischen Demokratie und Meinungsbildung wird in einem Parlament durch Mehrheitsbeschlüsse hervorgebracht, und diese Mehrheitsbeschlüsse sollen die Meinung des Volkes widerspiegeln.“ Diese Experten bräuchten wie Politiker auch die Zustimmung einer Mehrheit des Volkes und die Zustimmung einer Mehrheit des Parlamentes. „So funktioniert die parlamentarische Demokratie, und ich hoffe, dass die parlamentarische Demokratie, die diesem Kontinent so viel gebracht hat, auch hier nicht definitiv in Klammern gesetzt wird.“

Gleichzeitig verwies er auf die Defizite der parlamentarischen Demokratie, wenn es darum gehe, effizient und schnell Finanzmarktturbulenzen zu bekämpfen. So bräuchte Europa die schnelle Umsetzung des europäischen Währungsfonds, des European Stability Mechanism. „Ich denke, dass auch da zu viel Zeit verloren ging. Wir sind einfach nicht schnell genug in der Entscheidungsfindung. Ein solcher Vertrag müsste binnen eines Monats stehen.“ Doch weil im Finanzministerrat das Prinzip der Einstimmigkeit gelte – was Luxemburg in vergangen Steuerdebatten immer entgegenkam –, gebe es immer große Schwierigkeiten, weiterzukommen, weil man immer wieder durch nationale Überlegungen zurückgedrängt werde. Um mit der Schnelligkeit der Finanzmärkte Schritt halten zu können, müsse sich die Demokratie neu aufstellen. Finanzministertreffen oder Gipfel der Staats- und Regierungschef müssten in Zukunft so vorbereitet werden, dass die dort getroffenen Entscheidungen „innerhalb von 48 Stunden“ umgesetzt werden könnten, forderte Frieden.

Er sparte im Zusammenhang mit der Debatte um die Ausweitung des Europäischen Rettungsschirm EFSF auch nicht mit Kritik an Deutschland: „Wenn man ein Programm begonnen hat, kann man nicht für jedes Komma ins Parlament gehen.“ Man solle sich vor den Treffen im Parlament Zustimmung für die grobe Vorgehensweise sichern, damit es bei den Treffen vorangehe. Alles andere schwäche den europäischen Entscheidungsprozess zusätzlich. „Es ist schon schwierig genug, wir sitzen zu 17 im Saal, wenn jeder Dritte sagt, ‚ich kann eigentlich heute nicht ‚Ja’ sagen, denn ich muss 300 oder 400 oder 500 Leute fragen’, dann wird es zu kompliziert“, machte Frieden seinen Frust deutlich. Dabei sei eine Volksbefragung, wie sie der geschasste griechische Premierminister Giorgios Papandreou durchführen wollte, nicht per se schlecht. „Die Idee, das Volk zu fragen, ist gut, das Parlament zu fragen, ist gut“, so Frieden. Nur hätte das griechische Volk viel früher befragt werden müssen, bevor die Hilfsprogramme lanciert wurde, erklärte er den Druck der internationalen Gemeinschaft auf Papandreou, das Referendum abzusagen. Denn prinzipiell, müsse ein Land die Möglichkeit haben, aus der Eurozone auszusteigen, wenn es nicht bereit sei, die Bedingungen für die Zugehörigkeit in der Währungsunion zu erfüllen. Eine komplette Entflechtung schloss Frieden dennoch nicht nur aus politischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Ursachen aus. Die Folgen, beispielweise die Stürmung der Banken in Südeuropa, drohten das gesamte europäischen Bankensystem zum Zusammenbruch zu bringen.

Weil auch die technische Debatte um die Hebelung des EFSF zu lange andauere – also die Diskussion darüber, wie die finanzielle Schlagkraft des Fonds von aktuell 440 Milliarden Euro auf ein Vielfaches erweitert werden kann, damit der Fonds notfalls auch große Volkswirtschaften wie Italien stützen kann –, drohten neue Konsequenzen. „Ich sage ganz klar: Wenn diese Debatte zu lange dauert, wenn keine definitive von den Märkten akzeptierte Lösung in ein oder zwei Wochen auf dem Tisch liegt, dann müssen wir die staatlichen Garantien des EFSF erhöhen.“

Das bliebe nicht ohne Folgen für die Luxemburger Staatsfinanzen. Deswegen sollte Luc Frieden solche Ansagen vielleicht besser im Parlament, als bei einer gebührenpflichtigen Veranstaltung machen. Oder sollen Volk und Volksvertreter, die er „mitnehmen“ will, künftig 400 Euro zahlen, um die Kriseneinschätzung des Finanzministers hören zu dürfen?

Michèle Sinner
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