Es gab einige Aufregung, ehe So-zialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) gestern Vormittag dem parlamentarischen Gesundheits- und Sozialausschuss den Bericht der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) zum Pensionssystem vorstellte. Hinter den Kulissen erstaunten sich Vertreter von Patronat und Gewerkschaften, dass der Minister bereits jetzt das Parlament informierte. War in dem 2006 von der Tripartite eingesetzten Groupe de réflexion pensions doch abgemacht worden, dass der IGSS-Bericht nur Stoff für den Abschlussbericht der Gruppe liefern sollte. Der soll Ende Mai fertig sein; eine Veröffentlichung vor den Wahlen wird es vermutlich nicht mehr geben.
Dafür wurden am Dienstagabend erste Angaben aus dem IGSS-Dokument publik: Radio 100,7 zitierte daraus und nannte es „alarmierend“. Ab 2020 sei die Finanzierung des Pensionssystems „in Frage gestellt“.
Werden die Renten nun zum Wahlkampfthema? Ganz auszuschließen ist es nicht. Di Bartolomeo konnte kaum anders, als dem Parlamentsausschuss den IGSS-Bericht vorzulegen. Nicht nur sein liberaler Vorgänger Carlo Wagner, der „Held des Rententischs“, hatte immer wieder danach gefragt. Ende März nagelte die Fraktion der Grünen in einem Brief an Kammerpräsident Lucien Weiler (CSV) den Sozialminister auf das Datum 23. April regelrecht fest, nachdem sie erfahren hatte, dass die IGSS den Bericht schon Mitte Februar abgeschlossen hatte. Spätestens dann konnte der Minister das Parlament nicht länger zugunsten einer Tripartite-Arbeitsgruppe hinhalten.
Aber was die IGSS in ihrem Bericht, der dem Land ebenfalls vorliegt, erörtert, sind vor allem Optionen, und die sind von potenziell solcher Tragweite, dass die Parteien das Rententhema in den kommenden Wochen vielleicht doch nicht hochspielen werden. Auch Premier Jean-Claude Juncker erklärte am Dienstag in seiner Ansprache zur Lage der Nation sehr deutlich, er „glaube nicht“ an ein „Pensionshorrorszenario“, da „wir im Moment die Reserven unserer Rentenkassen um 800 Millionen Euro jährlich wachsen sehen. Daraus folgt, dass wir keinen akuten Rekonfigurations-Handlungsbedarf haben“. Im März 2007, als die Reservenbildung kaum geringer war, hatte Juncker nach einer Regierungsratssitzung den Handlungsbedarf noch mit den Worten beschrieben: „Wir sind dabei, ein Verbrechen an der Zukunft zu begehen. An den Kindern, die heute jünger als fünf Jahre sind, und an denen, die noch zur Welt kommen.“
In ihrem 90 Seiten langen Papier geht die IGSS von keinen wesentlich anderen volkswirtschaftlichen Basisdaten aus als in ihrer letzten aktuariellen Studie von 2005 (d’Land, 10.02.2006). Längerfristig gesehen, hatte sie damals unterstellt, sei ein BIP-Wachstum von im Schnitt vier Prozent jährlich bis 2012 zu halten und werde sich in den 2020-er Jahren auf drei Prozent abschwächen. Das aktuelle Szenario dagegen, das die IGSS im Rahmen der europäischen Ageing Working Group benutzt, geht davon aus, das Wachstum werde zwischen 2009 und 2012 noch um 4,5 bis fünf Prozent oszillieren, dann stetig sinken, um 2020 drei Prozent unterschreiten und langfristig bei 2,2 Prozent liegen.
Schon weil nicht klar ist, ob dieses Szenario, das vom Sommer vergangenen Jahres datiert, längerfristig zutrifft, weil die aktuelle Krise nur ein makroökonomischer Schock bleiben wird, oder ob es über den Haufen geworfen werden muss, weil Luxemburg ein strukturelles Desaster droht, lässt sich mit dem IGSS-Bericht schwerlich Wahlkampf machen. Dass die IGSS die längerfristigen Wachstumsaussichten ab 2020 vergangenen Sommer etwas pessimistischer einschätzte als Ende 2005, wirkt sich rechnerisch auch nicht so stark aus, dass der Bericht „alarmierend“ genannt werden müsste: 2005 ging sie davon aus, dass die Einnahmen der Pensionskassen die Ausgaben bis 2024 oder 2028 übersteigen würden. Nun schreibt sie, „la situation financière du régime devient déficitaire vers 2025“. Doch „le niveau de la réserve est telle que les mesures nécessaires pour assurer sa viabilité peuvent être discutées et implémentées au cours des années à venir sans pour autant que la situation est telle que des solutions ad hoc devraient être considérées“. (S. 57)
Dann aber erinnert sie daran, dass eine Pensionsreform Zeit brauche; nicht nur zur politischen Debatte, sondern auch, damit ihre Wirkungen sich früh genug entfalten. Bereits 2020 müsse Luxemburg mit einer „première vague marquée de départs en retraite“ rechnen, wenn die heute über 40-Jährigen sich dem Rentenalter nähern. Anschließend werde die in den Boomjahren starke Beschäftigung junger Migranten und Grenzgänger immer mehr zu einem dynamischen Prozess, der die in Luxemburg aktiv Beschäftigten im Vergleich zum EU-Ausland strukturell überdurchschnittlich stark altern lässt. Zudem sei davon auszugehen, dass die Lebenserwartung von 60-Jährigen, die heute bei im Schnitt 21 Jahren liegt, bis 2060 um fünf Jahre steigt (S. 61).
Pensionsreformen empfiehlt die IGSS schon in den kommenden Jahren einzuleiten, „à ce que les actifs d’aujourd’hui soient informés sur les réformes qui les concerneront en tant que bénéficiaires“. (S. 87)
Das klingt fast ein wenig bedrohlich, und bemerkenswerter Weise hält die IGSS nicht viel von der für ein umlagefinanziertes System plausiblen Annahme, längerfristig würden sich schon genügend neue Arbeitsplätze schaffen lassen, damit die Zahl der aktiven Beitragszahler in einem günstigen Verhältnis zur Zahl der Rentner bleibt: „Suite au vieillissement de la population en Europe, la disponibilité de main d’œuvre en Europe sera de plus en plus réduite, de manière à ce qu’à moyen terme il deviendra de plus en plus difficile, même en situation de développement économique convenable, de recruter la main d’œuvre nécessaire au financement du système“. Produktivitätsgewinne könnten den Mangel an Aktiven nur zum Teil ausgleichen, denn „une productivité renforcée nécessiterait une main d’œuvre hautement spécialisée et moins disponible au niveau international“. (S. 55)
Wenn die IGSS anschließend „mesures envisageables pour garantir la viabilité à long terme du système de pension“ skizziert und an Fallbeispielen die Auswirkungen verschiedener Abänderungen am System simuliert, geht sie tatsächlich hinaus über jene Stärken-Schwächen-Analyse des aktuellen Regimes, die der Sozialminister immer wieder angekündigt hatte. Wisse man, über welchen Zeitraum das System stabil gehalten werden soll und habe man den Beitragssatz geklärt, sei der „degré de solidarité du système“ festzulegen. „Actuellement, toute personne justifiant 40 années de stage (périodes effectives et complémentaires) a droit à la pension minimum. Un consensus national existe sur le maintien de cet élément de solidarité intergénérationnelle.“ (S. 84)
Einerseits aber gebe es heute im System Versicherte, die relativ jung ihre Beiträge zu zahlen beginnen und relativ flache Einkommenskarrieren vorweisen, andererseits Hochqualifizierte, die relativ spät als Beitragszahler auftreten, dann aber hohe und steigende Einkommen haben. „En cas de réforme, et dans le but de préserver le niveau de vie de personnes à revenu plus faible“, schreibt die IGSS, „il serait préférable de fixer un taux de remplacement de référence adapté aux carrières planes. Les assurés à carrières progressives devront alors adapter leur parcours professionnel de manière à accéder à des taux des remplacement qui se rapprochent à ceux applicables par référence. Pour ce faire, les assurés à revenus élevés pourront, comme ils le font aujourd’hui, faire recours à d’autres produits de prévoyance vieillesse (pensions complémentaires à niveau de l’entreprise, assurances individuelles, investissements immobiliers).“ (S. 85)
Mit dieser Bemerkung wirft die IGSS dann doch einen Stein ins rentenpolitische Wasser. Ob sich die Parteien zu der Vorlage noch positionieren, die auch einer Rente nach 40 Beitragsjahren und einer abgeänderten Anrechnung von Ausbildungszeiten entsprechend könnte, bleibt abzuwarten. Da der Bericht, den der Sozialminister gut geheißen hat, in erster Linie an die Tripartite-Arbeitsgruppe gerichtet ist, müssen zunächst die Sozialpartner sich damit auseinandersetzen. Dort gehen die Einschätzungen weit auseinander. Während man beim Patronats-Dachverband UEL die Sachlichkeit des Berichts lobt, gefällt er beim OGB-L „so nicht“: Dass er zwischen Einkommenslaufbahnen differenziert und sich für Zusatzversicherungen ausspricht, vertrage sich nicht mit dem Solidarprinzip.