Zu süß, zu billig, zu industriell

Das Verschwinden der Boxeknäpp

d'Lëtzebuerger Land du 14.12.2018

Am Nikolaustag vergangene Woche gab es zwei große Abwesende: der schwarze Houseker, der rutenschwingende Knecht Ruprecht, der in den letzten Jahren von den Kritikern der schwarzen Pädagogik in die Flucht geschlagen wurde, und die Boxeknäpp. Das knopfgroße Gebäck mit einer bunten Haube Zuckerguss war während Jahrzehnten ein Grundbestandteil der Kinderteller am Nikolaustag. Nun sind die Boxeknäpp von den meisten Gabentischen und aus den meisten Läden verschwunden.

Boxeknäpp sind eng mit dem Nikolausfest verbunden. In Wallonien sind sie als Nicnak bekannt, ein Wort das wahrscheinlich vom englischen Knick-knack für Nippes abstammt und mit dem deutschen Schnickschnack verwandt ist. In Flandern heißen sie Piekniekels, in den Niederlanden auch Ijsbergjes. In Deutschland, wo Kinder am Weihnachtstag mit allerlei Weihnachtsplätzchen beschert werden, fehlt eine hochdeutsche Bezeichnung. In Frankreich, wo sie lediglich im Lothringischen, wo das Nikolausfest gefeiert wird, und in der Picardie bekannt sind, fehlt ebenfalls eine eigene Bezeichnung. Dagegen tragen sie im Luxemburgischen einen eigenständigen Namen, der weder mit dem ursprünglichen englischen Namen, noch mit den Bezeichnungen im Wallonischen oder Flämischen verwandt ist.

Wahrscheinlich geschah die Erfindung der Boxeknäpp in zwei Etappen. In Reading, in der englischen Grafschaft Berkshire, soll die 1822 gegründete Keksfabrik Huntley and Palmer um 1850 bei Versuchen mit neuen Produktionsverfahren Plätzchen hergestellt haben, die nicht aufgegangen, sondern geschrumpft aus dem Ofen kamen. Huntley and Palmer war vor­übergehend die größte Keksfabrik der Welt und gehört nach Danone nun United Biscuits. Ein halbes Jahrhundert später, 1910, kam dann jemand auf die Idee, ein gelbes, weißes, lila, grünes oder rosa Hütchen aus Zuckerguss auf die Schrumpfkekse zu setzen. So wurden sie dann unter dem Namen Iced gems vermarktet. Huntley and Palmer machte die glasierten Edelsteine zu einem festen Bestandteil britischer und irischer Kindergeburtstage und verbreitete sie in den Zeiten des Empire bis nach Südostasien, nach Thailand, Malaysien und Singapur.

Hierzulande haben sich, wie in Belgien und den Niederlanden, die als Boxeknäpp eingebürgerten Iced gems im Laufe des 20. Jahrhunderts, in der Zwischenkriegszeit, als Nikolausgebäck durchgesetzt. In seinem antimilitaristischen Gedicht Niklosdâg 1956 (d’Land, 30.11.1956) erinnert Pe’l Schlechter an das Nikolausfest seiner Kindheit in den Zwanzigerjahren: „Wât hat Hien alles fir ons bruechl! / Eng Schnëtzelsé, en Zuch, en Dapp, / (E wârme Schal derbeigeluegt,) / En Apel, Nöss, e Mo’rekapp. / An da fir d’Médercher eng Popp, / Eng Bitzköscht och mat Stécker drân, / (Kame’lhoersschlappen uewendrop), / A Boxeknäpp, a Marzipan.“

Drei Vorteile trugen zum Erfolg der Boxeknäpp bei: Die Kinder mögen das blasse Gebäck, das nach nichts, und dessen bunten Zuckerguss, der nach reinem Zucker schmeckt. Noch heute besteht ein Boxeknapp aus 56 Prozent Zucker und insgesamt 87 Prozent Kohlehydraten. Boxe­knäpp sind in der Herstellung und im Verkauf so billig, dass auch Arbeiterfamilien ihre Kinder am Nikolaustag mit etwas Ausgefallenem verwöhnen konnten. Und als Industriegebäck galten Boxeknäpp im Vergleich zu hausgemachten oder in der Bäckerei nebenan gebackenen Plätzchen plötzlich als modern.

In der Grundausstattung besteht der Teig eines Boxeknapp aus Mehl, Zucker, Backpulver, Milch und Margarine, das Zuckerhütchen aus Zucker, Wasser und Eiweißpulver. Die industrielle Fertigung verlangt jedoch immer mehr Zusatzstoffe, so dass Iced gems neben Zucker und Weizenmehl auch Kartoffelstärke, Palmöl, gehärtetes Palmöl und Palmkernöl, Dextrose, Dosenmagermilch, Gelatine, Salz, die Backpulver Ammoniumhydrogencarbonat und Natriumhydrogencarbonat und das Konservierungsmittel Natriummetabisulfit enthalten. Dafür sind die Farbstoffe des Zuckergusses inzwischen oft Carotin und rote Beete, der Geschmack entsteht durch pflanzliches Zitrusaroma.

Insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es neben handwerklichen Konditoreien eine Anzahl Keksfabriken hierzulande, die oft auch Lebkuchen, Schokolade, Dragees und Bonbons herstellten: die Luxemburger Zwieback-, Keks- und Biskuit-Fabrik Schneider, die Firmen Razen, Beth, La Praliné Loeb, Villig und Zieser in der Hauptstadt, Hocolux und die kurzlebige Zuckerwaren- und Lebkuchenfabrik Weiler & Hostenbach in Hollerich, die Firma Stammet-Kaempff auf dem Limpertsberg, die 2006 von der Industriebäckerei Panelux/Fischer übernommene Firma Rippinger, später Schwan, die Merscher Biskuitfabrik Wilwers, die Firmen Kiesl und Mentz-Koch in Mersch, Antun in Oberkorn, Michels in Esch-Alzette oder die Ardenner Kräuter-Printenfabrik in Niederwiltz... Manche davon warben in Anzeigen für ihr saisonales Oster- und Nikolausgebäck, aber von keiner lässt sich nachweisen, dass sie auch Boxeknäpp herstellte.

Die 1863 gegründete Konditorei Namur hatte in den letzten Jahren vorübergehend Boxeknäpp im Angebot, in Wirklichkeit waren es aber auf Pain d’Anis zurückgehende Patiences, winzige knopfförmige, harte Kekse mit beigefarbener Glasur. Die Biscuiterie du Luxembourg Seabiscuit, die 2011 als soziales und solidarisches Unternehmen mit lokalen Zutaten gegründet wurde und „le biscuit luxembourgeois, le goût du ‚fait maison‘“ verspricht, hat keine Boxeknäpp in ihrer Produktpalette. Die während Jahrzehnten auf jedem Gabenteller zu findenden Boxeknäpp dürften früher zum großen Teil, wenn nicht ausschließlich importiert worden sein. Heute sind selbst importierte Boxeknäpp im Dezember kaum noch in den Lebensmittelgeschäften und Supermärkten zu finden.

Denn was einst den Erfolg der Boxeknäpp ausmachte, dürfte heute ihr Verschwinden verursachen: Die zu mehr als der Hälfte aus Zucker bestehenden Kekse gelten als ungesund. Sie werden für Karies und Übergewicht verantwortlich gemacht, während der rezente Wahlerfolg der Grünen zeigt, wie viele Wähler inzwischen ihren Kindern mit erhobenem Zeigefinger Biokost vorsetzen.

Mittelschichten- und Oberschichteneltern, die vom schlechten Gewissen geplagt sind, dass sie ihren Kindern nicht genug Zeit widmen, kaufen sich zu Nikolaus lieber mit Edelgebäck aus der Luxuskonditorei zurück statt mit Armerleutekeksen wie Boxeknäpp. Tatsächlich sind Boxeknäpp so billig, dass sie einst in manchen Zoos als Tierfutter verkauft wurden – bis das Ernährungsbewusstsein auch in Käfige und Gehege Einzug hielt.

Schließlich gelten industriell hergestellte Boxe­knäpp nicht mehr als modern. Der neue Biedermeier zeichnet sich durch selbstgebackene Plätzchen und handwerkliche Kekse mit lokalen Zutaten aus. Zudem erfährt das Nikolausfest durch die Mobilität der Arbeitskraft und die Werbung in ausländischen Medien wachsende Konkurrenz durch das Weihnachtsfest, dem Boxeknäpp so fremd sind wie das Hesperinger Oktoberfest.

Romain Hilgert
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