Die Mitarbeiter der HIV-Beratung sind für die Erkennung von HIV und Hepatitis C unverzichtbar. Sie gehen dorthin, wo gewöhnliche Ärzte nicht sind: zu Risikopatienten auf der Straße und im Gefängnis. Eine Reportage

Die andere Testfahrt

d'Lëtzebuerger Land du 06.02.2015

Es klopft an der Fensterscheibe. „Da ist unser erster Kunde. Los geht’s!“, ruft Krankenschwester Natascha Da Silva und öffnet mit beherztem Ruck die mit einem Sichtschutz versehene Schiebetür des weißen Dimps-Busses. Dimps steht für Dispositif d’intervention mobile pour la promotion de la santé sexuelle – und Name ist hier Programm. Seit vielen Jahren engagiert sich die Luxemburger Aids-Beratung in der Gesundheitsprävention, bietet Schnelltests für Geschlechtskrankheiten, HIV und Hepatitis C an. Das Engagement spiegelt sich im neuen Namen wider: Seit 2013 heißt die Beratungsstelle des Roten Kreuzes HIV-Beratung (l’hepatitis C, infections sexuellement transmissibles et VIH).

„Die Idee des Testmobils stammt von einem Projekt, das wir ursprünglich im Senegal und Guinea Bissau hatten“, wird Henri Goedertz, freundlicher Leiter der HIV-Beratung später erzählen. Mitarbeiter des Roten Kreuzes fuhren mit einem Transporter voller Schnelltests und Verhütungsmittel gezielt in Dörfer, um die Bevölkerung über Infektionswege, Risiken und Safer Sex aufzuklären. „Wir haben gedacht, das wäre für Luxemburg auch eine gute Sache.“ Vor zwei Jahren wurde mit Geldern des Gesundheitsministeriums der alte Bus ab- und ein neuer Bus angeschafft und für 48 000 Gesamtkosten in einen Testwagen der besonderen Art umgebaut. Jede Woche fährt der Transporter durch das Land, besucht Orte wie das Obdachlosenasyl Abri-Sud in Esch, den Strich am Hauptbahnhof oder die Schwulen-Sauna in Remich, um Freiwillige auf HIV und Hepatitis C zu testen und sie über Ansteckungsrisiken zu informieren. So auch heute beim Abrigado an der Route de Thionville in Luxemburg-Stadt.

Die Tür steht offen, ein Mann im grauen Anorak zwängt sich umständlich auf die kleine Bank, die im mittleren Raum des Kleintransporters steht. Seine Wangen sind rot vor Kälte. Oder ist es die Aufregung? Ihm gegenüber auf der anderen Bank sitzt Jacques Kohl, der Psychologe. Ein wenig erinnert die Sitzgruppe an einen Campingwagen, nur dass dieser Transporter in sterilem Weiß gehalten ist – mit vereinzelten Farbtupfern, etwa neben der Tür, wo die durchsichtigen Behälter mit den Gratiskondome hängen oder oben, wo in kleinen Fächer Stifte und Broschüren aufbewahrt werden. Und dass ein Besuch im Bus bei den Testpersonen wohl kaum Urlaubsgefühle auslösen dürfte – könnte es doch sein, dass sie schon bald eine Nachricht hören, die ihr Leben drastisch verändern könnte.

Das Reden ist Jacques’ Aufgabe. Der junge Psychologe mit der hippen Brille und Turnschuhen hat wie seine Teamkollegen Fortbildungen über die Übertragungswege der Seuchen besucht und ist zudem geschult in der Gesprächsführung. Wobei: „Einen positiven Befund zu übermitteln, ist nie angenehm. Da gibt es keine Regel. Jeder reagiert auf seine Weise“, weiß Jacques. Anders als Natascha Da Silva und Tom Weber, der Krankenpfleger mit dem blond gefärbten Haarschopf und mit Knopf im Ohr, trägt er kein gelbes T-Shirt mit rotem Dimps-Logo über der Jacke, sondern einen roten Pullover mit weißem Logo. Vor ihm liegt ein Ordner, er nimmt einen Fragebogen heraus und zückt den Kugelschreiber.

„Hallo. Du willst dich also testen lassen?“, fragt Jacques ruhig. Der Mann vor ihm nickt stumm. „Dann brauche ich zunächst den zweiten und letzten Buchstaben deines Namens, dein Geburtstag und das Geburtsjahr und den ersten Buchstaben im Vornamen deiner Mutter.“ Was wie eine verkappte Konzentrationsübung klingt, ist in Wirklichkeit ein Code für den Fragenbogen. Die Tests finden freiwillig und vertraulich statt, der Code soll ermöglichen, Kunden, die schon einmal da waren, dennoch wiederzufinden. „Die Methode ist ziemlich treffsicher. Es kam bisher nur ein, zwei Mal vor, dass wir die gleiche Zahlenkombination herausbekamen“, erklärt Tom.

Das Interview beginnt wie alle Interviews, ein standardisierter Fragebogen hilft, das Gespräch zu strukturieren. Warum er sich testen lassen wolle, fragt Jacques den Mann in Grau – nennen wir ihn Manuel – und beugt sich vor. „Ich weiß nicht, ob ich mich angesteckt habe“, druckst dieser. Jacques befragt ihn zu seinem Drogenkonsum. HIV wird durch Blut, Scheidenflüssigkeit und Sperma übertragen, Hepatitis C nur über Blut. Die größte Ansteckungsgefahr geht von schmutzigem Nadelbesteck aus, etwa wenn ein Gesunder es mit einem Infizierten teilt. Die Fragen sollen helfen, abzuklären, ob ein Risikoverhalten vorliegt oder nicht. Er rauche und schnupfe Heroin, sagt Manuel, der nervös die Hände knetet. „Da ist das Übertragungsrisiko nicht sehr hoch“, wendet Jacques ein. Doch der junge Mann, der sein Alter mit 24 angibt, redet weiter: Normalerweise teile er sein Drogenbesteck nicht mit Anderen. Vor kurzem aber habe er gemeinsam mit einem Freund an einer Glaspfeife gezogen, die kaputt gewesen sei und an deren Rand Blut klebte. Nun habe er Angst, sich angesteckt zu haben. Hier vor dem Abrigado, wo Männer und Frauen in der Kälte dicht gedrängt stehen, nimmt fast jeder Drogen. Durch einen kleinen Spalt über dem Milchglas ist zu sehen, wie einige Männer am dreckigen Boden knien und hastig etwas auf Alufolie erhitzen.

Im Wagen notiert Jacques konzentriert die Antworten auf dem Fragebogen. Sachlich fragt er nach dem Sexualverhalten. Wie er sich schütze? „Bis vor kurzem nicht, da war ich noch verheiratet. Inzwischen lebe ich getrennt“, erzählt Manuel weiter. „Und seitdem?“, hakt Jacques nach. Er trägt die Antwort in die entsprechende Spalte ein. Knappe sieben Minuten dauert die Befragung, die in freundlich-sachlicher Atmosphäre abläuft. Dann wird der Kunde in den hinteren Teil des Transporters auf einen Hocker gelost. Dort warten Natascha und Tom.

„Was testen wir? HIV und Hepatitis?“ Manuel nickt bekräftigend und schluckt. Natascha streicht sich die braunen lockigen Haare aus dem Gesicht, zieht die blauen Wegwerf-Handschuhe über und bekommt von Tom ein Röhrchen gereicht. „Das piekst nur kurz“, beruhigt sie und sticht, nachdem sie die Stelle desinfiziert hat, mit einer fließenden Handbewegung in den Zeigefinger des jungen Mannes. Ein dunkelroter Bluttropfen quillt an die Oberfläche. Tom reicht Natascha eine Kanüle. Darin steigt Blut hoch. Die Probe reicht sie an Tom, während sie die Einstichstelle wieder abtupft und mit einem Pflaster abklebt. „War doch harmlos“, sagt sie und lacht. Tom hat das Blut auf zwei weiße Testbehälter verteilt. Der eine ist kreisrund wie ein Pillendöschen und hat in der Mittel ein kleines Sichtfenster. Dort ist ein leichter Punkt zu sehen. „Erscheint ein zweiter Punkt, dann ist das Ergebnis positiv“, erklärt Natascha.

Das muss nicht unbedingt etwas heißen: Positive Ergebnisse bei einem Schnelltest können fehlerhaft sein – weshalb ein zweiter Bestätigungstest erfolgen muss. Im Gegensatz zum Hepatitistest ist das Ergebnis in Sekundenschnelle da: kein HIV. Das heißt, der Patient hat keine HIV-Antikörper im Körper. Wenn sich eine Person jedoch zu früh testen lässt, das heißt, bevor sich Antikörper bilden konnten, ist das Resultat des Schnelltests trotzdem nicht aussagekräftig. Denn die Bildung von HIV-Antikörpern braucht Zeit. Im Durchschnitt beträgt die Zeit zwischen einer HIV-Infektion und dem möglichen Nachweis von HIV-Antikörpern 25 Tage. Eine HIV-Infektion kann deshalb erst nach drei Monaten durch den fehlenden Nachweis von HIV-Antikörpern ausgeschlossen werden.

Tom überprüft das andere Testgerät, das ein wenig an eine Sanduhr erinnert. Dort gilt: Erscheint neben dem vertikalen Strick ein zweiter, dann ist das Ergebnis positiv. Fast drei Minuten dauert es, die Spannung ist deutlich zu spüren. Manuel sitzt mit gekrümmten Rücken, als ducke er sich vor einem Schlag. Aber es bleibt bei dem einen, schwach sichtbaren Querstrich. „Beide negativ. Prima“, lobt Natascha. „Pass gut auf dich auf, damit das so bleibt“, fügt sie hinzu und klopft Manuel ermunternd auf den Rücken. Erleichtert springt der aus dem Wagen.

Den Satz wird sie an diesem Nachmittag noch häufiger sagen. Zum Beispiel zu dem heroinsüchtigen Paar, das ungeschützten Sex hat und die Nadeln teilt. Die Frau, für Tom und Natascha offenbar keine Unbekannte, kennt die Untersuchung und streckt routiniert die Hand hin. Sie will es schnell hinter sich bringen. Auch ihr Freund, darauf beharrt sie, soll sich testen lassen. Ohne zu murren, fügt der sich und zwängt sich nach ihr in den Wagen.

„Viele Gesichter kennen wir. Die sind länger in der Szene“, flüstert Natascha im Hinterraum, während Jacques vorne mit dem nächsten Interview beginnt. Nicht immer gehe der Test gut aus. „Kürzlich hatte jemand ein negatives Testergebnis. Sobald der den zweiten Punkt gesehen hat, ist der wie eine Rakete zur Hintertür raus“, erinnert sich Tom. Der Krankenpfleger war zuvor Rettungssanitäter, ein Rückenleiden zwang ihm zum Wechsel. „Ich hätte mir früher nicht träumen lassen, diese Arbeit zu tun“, erzählt Tom, der betont, als Sanitäter Schlimmeres gesehen zu haben. Doch die Schicksale lassen ihn nicht kalt: „Man sieht, wie die Drogen schleichend die Persönlichkeit zerstört“, sagt er mit gedämpfter Stimme, damit man ihn nicht vorne hört.

Natascha nickt zustimmend. Doch ehe sie etwas hinzufügen kann, erklingen aufgeregte Stimmen vor dem Wagen. Männer flitzen um die Ecke, kramen hastig Tüten weg. Durch das Sichtfenster sehen wir die Polizei und ein Kamera-Team von RTL. Natascha geht raus und spricht mit der Polizei. „Das Fernsehen will die Polizei bei ihrer Arbeit dokumentieren – und die haben nichts Besseres gefunden, als sie hier bei Kontrollen zu filmen“, sagt sie kopfschüttelnd, als sie die Schiebetür wieder zuzieht. Die energische Krankenschwester arbeitet halb im Abrigado und halb in der HIV-Beratung. Eine hilfreiche Kombination, die ihr einen guten Einblick in die Drogenszene gibt. Beim Doktor im Drogenkonsumraum können Freiwillige sich ebenfalls testen lassen.

Zur Bestätigung einer Hepatitis-C-Infektion reicht ein Schnelltest nicht aus. Um sicher zu sein und um einzuschätzen, ob die Krankheit behandelt werden muss, sind weitere Tests vonnöten. Vertiefende Blutanalysen werden vom Dimps im Zusammenarbeit mit der Abteilung für Infektionskrankheiten des Centre hospitalier (CHL) durchgeführt, aber den dafür notwendigen Fibroscan gibt es im Testmobil bisher nicht. Er dient zur Beurteilung der Bindegewebe-Einlagerung (Fibrose) beziehungsweise Verhärtung (Zirrhose) der Leber. So wird bestimmt, inwieweit der Virus die Leber angegriffen hat. „Rund zwanzig Prozent der Hepatitis-C-Erkrankungen heilen spontan, bei den anderen 80 Prozent wird sie chronisch und kann zu schweren Leberschädigungen wie der Leberzirrhose und dem Leberzellkarzinom führen“, weiß Natascha. Nur wessen Leber stark geschädigt ist, bekommt eine Behandlung angeraten. Das liegt nicht nur daran, dass die medikamentöse Therapie aufwändig ist. Die Behandlungsdauer ist durch neue Verfahren zwar deutlich gesunken. Zwölf Wochen sind dank neuer Medikamenten maximal üblich. Früher dauerte die Behandlung mehrere Monate, oft sogar ein Jahr, die Nebenwirkungen der alten Medikamenten waren zudem erheblich. „Heute liegen die Heilungschancen bei fast 80 Prozent und die Verträglichkeit ist viel besser“, unterstreicht Vic Arendt, Infektologe am CHL die Vorteile der neuen Medikamente. Allerdings haben die ihren Preis: Je nach Genotyp des Virus, Virusmenge und Medikament kostet eine Behandlung zwischen 45 000 und 80 000 Euro, die von der Krankenkasse übernommen werden. Sofern man krankenversichert ist.

Kein Pappenstiel, erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass eine einmal geheilte Hepatitis nicht immun macht, sondern man sich erneut anstecken kann. Eine Impfung gegen Hepatitis C gibt es bisher nicht. „Wir haben als Doktor den Auftrag zu helfen, wenn ein Mensch krank ist“, so Arendt. Der Doktor mit dem breitem Lächeln und der Aids-Schleife am weißen Kittel ist Facharzt für Infektionskrankheiten. Die HIV-Beratung und er arbeiten seit vielen Jahren zusammen. Wenn ein Hepatitis-Erkrankter, dessen Behandlung nicht begonnen hat oder nicht abgeschlossen ist, auf der Straße lebt oder aus dem Gefängnis entlassen wird, kann er beantragen, in einer der 48 Wohnungen des Roten Kreuzes unterzukommen und die Therapie dort abzuschließen – vorausgesetzt, er erfüllt gewisse Auflagen. „Unser Angebot ist eher höherschwellig. Drogen in unseren Wohnungen zu konsumieren, erlauben wir nicht“, betont Goedertz. Auch wer aggressiv wird oder die Therapie nicht ernstnimmt, fliegt. Das komme aber nicht sehr oft vor. Die meisten Kranken nehmen ihre Medikamente. „Denen bedeutet ihre Gesundheit auch etwas und mit Medikamenten kennen sie sich aus“, widerlegt Arendt das Klischee vom lebensmüden Junkie, der nichts auf die Reihe bekommt.

Zwischen Januar 2003 und Dezember 2012 wurden im CHL 665 Menschen positiv auf Hepatitis C getestet, von denen 79 nichts von ihrer Erkrankung wussten, die meisten drogenabhängige Häftlinge. Das CHL stellt auch die Gesundheitsversorgung in der Schrassiger Haftanstalt. Von 209 Patienten, die daraufhin behandelt wurden, steckten sich 21 zuvor als geheilt Entlassene binnen drei Jahren wieder an. „Das ist eine Quote von immerhin 17 Prozent“, so Arendt. Langzeitstudien mit der neuen Methode fehlen noch.

Da sich Hepatitis C durch Blut überträgt, ist die Krankheit vor allem bei Drogenabhängigen ein Problem (bei Bluttransfusionen ist das Übertragungsrisiko im Westen quasi inexistent, Tattoos und Piercings mit verunreinigtem Instrument sind auch risikobehaftet). In manchen EU-Ländern beträgt die Prävalenz unter ihnen 80 Prozent und mehr, in Luxemburg schätzen Experten die Verbreitung des Virus unter Drogenabhängigen auf etwa 70 Prozent. Die Hepatitis-C-Krankheitsrate in der Gesamtpopulation liegt bei 0,7 Prozent, das sind zwischen 3 500 und 4 000 Infizierte. Im Gefängnis ist die Rate trotz Spritzenaustauchprogramm deutlich höher. Damit sich ein Geheilter nicht neu ansteckt, muss sich sein Verhalten verändern. Gerade bei Abhängigen, die schon länger drücken und auf der Straße leben, ist das nicht selbstverständlich. Um nachhaltig gegen Hepatitis C vorzugehen, reicht daher eine medizinische Behandlung nicht aus, sondern müsste der Übertragungsweg besser kontrolliert, also der Spritzenkonsum eingedämmt werden. Beim Rauchen und Sniffen ist das Ansteckungsrisiko niedriger. Nicht wenige Junkies ziehen jedoch die Nadel vor, weil die Droge so unmittelbar in die Blutbahn gelangt und schneller wirkt.

Die Testpersonen im Dimps-Wagen vorm Abrigado kennen ihre Risiken recht gut. „Ich weiß“, sagt Pedro (Name geändert, d. Red.) verlegen, als ihn Jacques darauf hinweist, dass Sex ohne Kondom keine so gute Idee ist. „Aber wie so ist das: Manchmal ist die Lust zu groß“, sagt er und grinst schief. Der Italiener hat Glück: Wie bei allen acht heute Getesteten ist auch sein Testergebnis negativ. Für ihn ein guter Tag.

Ines Kurschat
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