ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Aufstieg und Fall

d'Lëtzebuerger Land du 27.10.2023

Die Überraschung der rezenten Kammerwahlen war das Ausmaß der grünen Niederlage. Bei den Gemeindewahlen am 11. Juni verlor die Partei gründlich: in 30 von 36 Gemeinden. Bei den Kammerwahlen verlor sie präzise: in 100 von 100 Gemeinden.

Der grüne Misserfolg entspricht dem Erfolg bei den vorigen Kammerwahlen. 2018 gewannen die Grünen 201 893 Stimmen hinzu. Nun verloren sie fast die gleiche Anzahl: 211 998. Das Jahr 2018 brachte den Triumph der Grünen als Regierungspartei. 2023 brachte ihr Debakel als Regierungspartei.

Der politische Anspruch der Grünen ist universalistisch. „Wir haben nur diesen einen Planeten“, beginnt ihr Wahlprogramm. Umweltschutz stelle „die größte Verantwortung dar, die uns Menschen zufällt“ (S. 5). Sie fühlen sich auserwählt, den Planeten zu retten. Dafür erwarten sie Anerkennung. Als sie ihnen versagt blieb, brachen sie am Wahlabend in Tränen aus.

Die Grünen sprechen im Namen der Menschheit. Aber sie sind eine Klassenpartei: Die Partei eines akademisch gebildeten Kleinbürgertums. Grüne Wähler haben das höchste Bildungsniveau. Die Partei einer materieller Sorgen enthobener Mittelschicht. Am besten gewählt wurde sie in Schüttringen, Walferdingen, Luxemburg, Betzdorf, Beckerich, Hesperingen, Sandweiler, Niederanven... In Schlafgemeinden, wo Beamtinnen, Selbständige, Fachkräfte der Steuervermeidungsindustrie, leitende Angestellte wohnen. Wo die Medianlöhne am höchsten sind (d’Land, 13.10.23).

2018 erkannten viele Wählerinnen, dass die Klimaveränderung nicht mehr droht, sondern begonnen hat. Dass sie gebremst werden muss. Das brachte den Grünen weit über ihre Kernwählerschaft hinaus Sympathien ein. Sie bekamen 61 Prozent mehr Stimmen. 21 Prozent kamen von jungen Erstwählern, zehn von der DP, neun von der CSV (Elect 2018, S. 70). Die Grünen waren die cooleren Liberalen.

Dann kamen die Covid-Seuche, der Ukraine-Krieg, die Preissteigerungen, die Zinserhöhungen... Im Covid-Lockdown sperrte der Staat die Leute zu Hause ein. Während des Erdgasboykotts drängte er sie, Zimmertemperatur zu senken. Nun wollen sie nicht mehr geschulmeistert werden. Auch nicht von grünen Technokraten. Die nicht den moralischen Ansprüchen gerecht wurden, die sie anderen predigten. Vielleicht ging ein Drittel der grünen Wähler (zurück) zur altbackenen DP (Luc Biever, rtl.lu).

Der Umsatz der Bioläden sinkt. Naturata bilanzierte Verluste und schloss Filialen. Die Verbraucherinnen wollen sich gesund ernähren. Aber viele müssen sparen. Der Partei erging es wie Naturata: Die Wähler wollten eine gesunde Umwelt. Aber viele glaubten, sich keine grünen Minister mehr leisten zu können. Sie wollten eine Pause in der ökologischen Transition. Beim Kauf von Elektroautos, Wärmepumpen, Bambusstrohhalmen.

Die Wählerinnen bleiben sich bewusst, dass die Klimaveränderung gebremst gehört. Aber sie stufen sie wieder als mittelfristiges Problem ein. Die kurzfristigen Probleme haben Vorrang: ob das Einkommen reicht für Miete, Tanken, Heizen, Darlehen, Einkaufen.

Wer nicht grün wählt, halten die Grünen für begriffsstutzig. Sie hypen das grüne Kapital. Für das fossile wirbt die ADR bei den klein gehaltenen Leuten. In der Tripartite gifteten grüne Minister gegen die Gewerkschaften. Die Partei schreibt die Arbeiterklasse ab, als sei sie ein Verbrennungsmotor. So lässt sie Klimaschutz als Diktat einer wohlhabenden Minderheit erscheinen. Die sich für Bruno Latours „classe écologique“ hält.

2013 erbte die Reformkoalition den verstaubten CSV-Staat. Die Grünen halfen, ihn zu entrümpeln. An die gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Sie warben mit „solutionnisme“, Austeritätsökologie, vielhundertseitigen Richtlinien für die Begrünung des Produktionsstandorts. Seit 2018 verdoppelten sie die Militärausgaben. Nun werden sie nicht mehr gebraucht. Die alten Liberalen von Luc Frieden bis DP können ungestört regieren. Grünes und fossiles Kapital freuen sich schon.

Romain Hilgert
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