Die Reifenindustrie forscht für mehr Nachhaltigkeit

Autoreifen vom Acker

d'Lëtzebuerger Land du 26.05.2017

Kautschuk ist ein Indio-Wort, es bedeutet „Tränen von Bäumen“. Zum Weinen, jedenfalls zum Grübeln bringt das zähe Material die Hersteller von Reifen, Handschuhen, Kondomen, Förderbändern und anderen Gummiprodukten: Bisher wurde kein Kunststoff gefunden, der auch bei tieferen Temperaturen so strapazierfähig, so elastisch ist wie natürlicher Latex, also geronnene und getrocknete Pflanzenmilch. Gummi wird zwar mittlerweile überwiegend aus Erdöl gefertigt. Auf Pflanzensaft kann aber zumindest als Beimischung nicht verzichtet werden. Und von fossilen Rohstoffen will man ja wegkommen.

Wie lässt sich bei der Reifenproduktion Erdöl ersetzen? Goodyear präsentierte im Jahr 2009 zur Klimakonferenz in Kopenhagen zwei Konzept-Reifen mit elastischen Teilen aus Bio-Isopren. Das dänische Biotechunternehmen Genencor hatte ein Verfahren entwickelt, Biomasse mit Mikroben zu fermentieren, um diese Schlüsselchemikalie für die Produktion von synthetischem Gummi zu gewinnen. Zwei Jahre später wurde Genencor jedoch vom Chemiekonzern DuPont übernommen, und seither war von „grünem“ Isopren nichts mehr zu hören.

Gesponsert von US-Sojabohnenproduzenten untersuchte vor drei Jahren das Innovationszentrum von Goodyear in Akron, Ohio, den Einsatz von Sojabohnenöl in Reifen. Die Forscher bescheinigten, Soja-Gummi könne die Lebensdauer der Laufflächen um zehn Prozent verlängern und den US-Erdölverbrauch um 26 Millionen Liter verringern. In der Produktion greift Goodyear das aber noch nicht auf. Ebenfalls erst im Planungsstadium sind Projekte, den Reifen-Bestandteil Silica aus der Asche von bisher weggeworfenen Reisspelzen zu fertigen.

Zur Gewinnung von Naturkautschuk lässt sich derzeit bloß ein Gewächs kommerziell anzapfen: Hevea brasiliensis, vulgo Kautschukbäume. Diese 20 bis 40 Meter hohen Stämme wachsen nur in feuchtheißen Gebieten am Äquator. In Südamerika verhindern Pilze den Anbau in Plantagen. In Südostasien, wo derzeit 90 Prozent des weltweit verbrauchten Naturkautschuks produziert werden, konkurrieren sie mit Ölpalmen oder verdrängen Urwälder. Preise und Qualität von Naturkautschuk schwanken so stark wie die Ernte; die Versorgungssicherheit aus Ländern wie Malaysia oder Indonesien ist zweifelhaft; die Transportwege sind lang; auch Proteste von Umweltschützern und Freunden der Orang-Utans können lästig werden.

In einem Autoreifen stecken an die drei Kilo, in einem Lastwagenreifen bis zu 25 Kilo Naturkautschuk – besonders in Winterreifen gut ein Drittel der Masse. Pro Jahr werden weltweit mehr als eine Milliarde Reifen verkauft, Tendenz steigend. Deshalb wird intensiv nach Alternativen zu Hevea gesucht, zum Beispiel in den europäischen Forschungsprojekten „EU-Pearls“ und „Drive4EU“, die von der holländischen Universität Wageningen koordiniert werden.

Mehr als 2 000 verschiedene Pflanzenarten enthalten in ihrem Saft ebenfalls Kautschuk. Bislang wurden aber bloß zwei gefunden, die als wirtschaftlich aussichtsreich gelten: Guayule und Russischer Löwenzahn. Beide könnten auch Menschen helfen, die auf Hevea-Latex allergisch reagieren.

Guayule ist ein holziger Zwergstrauch, der nicht viel Wasser braucht, in den Wüsten von Mexiko und dem Südwesten der USA wächst, aber auch in trockenen Gebieten Südeuropas angebaut werden könnte. In Amerika wurde daraus in den 1930-er und 1940-er Jahren Gummi fabriziert, als schwer an Hevea aus dem japanisch besetzten Südostasien zu kommen war. Seit ein paar Jahren fertigt das Unternehmen Yulex in Arizona aus Guayule einen Neopren-Ersatz für Taucheranzüge. Die Reifen-Hersteller Bridgestone, Pirelli und Apollo-Vredestein haben aus diesem Material bereits erste Prototypen gefertigt. Cooper-Tire will nächstes Jahr in Arizona eine Pilotfabrik eröffnen. Serienreifen aus Guayule-Gummi könnten ab 2020 auf den Markt kommen, wird versprochen.

Deutschland setzt dagegen auf eine besonders kautschukhaltige Löwenzahn-Art, die in unserem Klima und sogar auf Brachland wachsen kann. Bereits 1931 hatten sowjetische Biologen diese Pflanze in Kasachstan entdeckt und auf den Namen Taraxacum koksaghyz („Gummiwurzel“) getauft, weil vor allem die Wurzel die begehrte Milch liefert. Während der weiße Milchsaft des in Mitteleuropa heimischen Gewöhnlichen Löwenzahns (Taraxacum officinale) nur rund zehn Prozent Kautschuk enthält, sind es bei dieser Variante mehr als 30 Prozent.

Im Zweiten Weltkrieg produzierte die Sowjetunion aus Löwenzahn bis zu ein Drittel ihres Gummis. Westliche Forscher experimentierten damit ebenso wie deutsche Nazis, die beim Konzentrationslager Auschwitz dafür Versuchsfelder anlegten. Nach 1950 wurde der Anbau aber überall wieder aufgegeben: Mischungen von Hevea-Latex und Erdöl-Kautschuk waren unschlagbar billig. Immerhin erbrachten große Felder im Süden Schwedens den Nachweis, dass der Russische Löwenzahn nicht auswildert und in der benachbarten Natur auch sonst keinen Unfug anstellt.

Seit 2012 tüfteln die deutschen Forschungsprojekte „Tarulin“ und „Takowind“ wieder an Löwenzahn-Gummi. Allein die deutsche Bundesregierung fördert diese Arbeiten im Rahmen der „Nationalen Forschungsstrategie Bioökonomie 2030“ mit mehr als fünf Millionen Euro.

Wissenschaftlern der Universität Münster ist es gelungen, den Kautschuk-Gehalt von Löwenzahn zu erhöhen, die Gewinnung und Verarbeitung zu verbessern: Dirk Prüfer und Christian Schulze Gronover hatten zunächst untersucht, welche Gene die Kautschukproduktion fördern und welche sie behindern. Weil gentechnisch veränderte Pflanzen in Deutschland nicht besonders beliebt sind, haben sie dann mit klassischen Züchtungsmethoden den Gewöhnlichen Löwenzahn mit der russischen Pusteblume gekreuzt – also lange Pfahlwurzeln mit hohem Kautschuk-Gehalt kombiniert. Das Ziel sind Löwenzahn-Pflanzen gleichbleibender Qualität, deren Wurzeln so dick und schwer sind, dass sie mit herkömmlichen Karotten-Erntemaschinen geerntet werden können.

Während Kautschukbäume erst nach sieben bis zehn Jahren Erträge bringen und Guayule drei Jahre reift, kann Löwenzahn schon nach wenigen Monaten und mehrmals im Jahr geerntet werden. Für die industrielle Verarbeitung ist auch wichtig, dass der Kautschuk flüssig bleibt. Wenn Löwenzahnsaft mit Luft in Berührung kommt, wird er zäh und verfärbt sich braun – das wehrt gefräßige Insekten ab. Professor Prüfer und seine Mitarbeiter haben jedoch das Enzym identifiziert, das für die Verklebung verantwortlich ist. So konnten sie Löwenzahn züchten, dessen Milch nicht gerinnt und aus angeritzten Pflanzen ungehindert ausläuft. Die Forscher entwickelten auch ein umweltfreundliches Extraktionsverfahren: Die Wurzeln werden zermahlen, der Kautschuk dann mit Wasser herausgelöst.

Bei Straubing wird bereits versuchsweise auf acht Hektar Russischer Löwenzahn angebaut. Continental hat daraus erste Kleinserien von Winterreifen für PKW und LKW, aber auch Lager für Motoren und Gelenkwellen gefertigt. Bei Versuchen schnitten die Prototypen tadellos ab und brauchten den Vergleich mit Hevea-Kautschuk nicht zu scheuen. Als Vorstufe zur Serienproduktion, die in fünf bis zehn Jahren anlaufen soll, baut der Konzern gerade im vorpommerischen Anklam eine Testanlage für Löwenzahn-Gummi. Der Betrieb soll mehr als 20 Angestellte beschäftigen. „Im Laufe der nächsten fünf Jahre wollen wir 35 Millionen Euro investieren, um die Prozesse, die wir bisher nur im Labormaßstab etabliert haben, nach dem Motto ‚von Gramm über Kilo zu Tonnen‘ in einen Industriemaßstab zu transformieren“, sagt Burkhardt Köller, der Vorsitzende der Geschäftsführung von Continental Reifen Deutschland. In Anklam soll Russischer Löwenzahn vorerst auf 800 Hektar angebaut werden.

Als Nebenprodukt fällt dabei Inulin an. Diesen Zucker- und Fett-Ersatz, der zum Beispiel Wurst oder Schokolade beigemischt wird, gewinnt die Lebensmittelindustrie bisher vor allem aus Chicorée-Wurzeln. Forscher des Fraunhofer-Instituts IGB und der Universität in Stuttgart haben die Extraktion des kalorienarmen Süßungsmittels aus den Wurzeln von Pusteblumen verbessert. Die Inulin-Gewinnung aus Löwenzahn wäre sogar billiger als die heutigen Verfahren; zu Einsatzmöglichkeiten forscht die Mannheimer Südzucker AG. Es könnte sogar einmal ein Hauptprodukt daraus werden: Ein Hektar Russischer Löwenzahn liefert pro Jahr rund eine Tonne Naturkautschuk und zwei Tonnen Inulin. Leider arbeitet aber wohl niemand an einer Kombination davon: Fahrzeug-Reifen, die man nach Gebrauch einfach aufessen kann, würden Umweltschutz bestimmt populär machen.

Martin Ebner
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