Selbstverständlich erfand ein Luxemburger auch das Automobil

Auf der Suche nach Étienne Lenoirs Auto

d'Lëtzebuerger Land du 30.01.2015

Zwei Kinder, die auf dem großen Platz in der Dorfmitte nicht richtig spielten, sondern in der kalten Wintersonne die Zeit totschlugen, waren die einzigen Lebewesen, denen ich begegnete. Auch in Mussy-la-Ville ist der Sonntagnachmittag die schrecklichste Zeit der Woche. Am Rande des ansonsten leeren Platzes war ein ehemaliger kleiner Laden mit zwei Schaufenstern, über dem nun „Mairie“ stand. Als ich die bürgersteiglose Rue Latte zu der kleinen Kapelle aufstieg, leuchtete mir ein, weshalb Mussy-la-Ville seinen Beinamen tragen musste: Das Städtchen sieht wie jedes Dorf dies- und jenseits der belgisch-luxemburgischen Grenze aus.

Gleich nach der Kapelle, linkerhand, kamen zwei Wirtshäuser. Das erste hieß Le tacot. Für jemand, der nach dem ersten, obendrein von einem Luxemburger erfundenen Auto suchte, war das ein vielversprechender Hinweis. Das zweite Wirtshaus hieß Chez Zizi. Sowieso waren beide Lokale geschlossen. Doch gleich daneben stand ein unscheinbares, einstöckiges Haus mit gelber Fassade und einer hohen Scheuneneinfahrt. Über der Eingangstür hing ein Hinweisschild aus Kacheln, das daran erinnerte: „Ici naquit Étienne Lenoir“. Darüber ein ungelenk gemalter roter Wagen und Eichenlaub.

Dem Bild des roten Wagens war ich schon auf halbem Weg zwischen Arlon und Mussy begegnet, auf einem Straßenschild am Waldrand. Im Wald war ein Militärlager versteckt, das Neugierige mit Totenkopfsymbolen abschreckte. Zur Zeit der Bommeleeërten fanden hier an der Grenze mekrwürdige Kriegsspiele statt.

In diesem frisch gestrichenen gelben Haus mit diskreten Gardinen an allen Fenstern und selbst über dem Scheunentor, zwei Zierpflanzen am Eingang kam also Étienne Lenoir am 12. Ja­nuar 1822 zur Welt. Damals hieß das Bauern- und Hausiererdorf noch Misseg und gehörte zum Großherzogtum. So war Étienne Lenoir erst einmal Luxemburger.

Aber von seinem Automobil war weit und breit keine Spur in seinem Heimatdorf. Wohl auch nicht richtig von seinem Geburtshaus. Denn 1912 war schon einmal eine erste, damals gusseisene Gedenktafel an der Fassade angebracht worden, um an den Erfinder des Gasmotors und des Auto­mobils zu erinnern. Im Sommer 1914 schossen, so erzählte man im Dorf, deutsche Soldaten mit einer Kanone auf die Tafel und setzten dadurch sein Geburtshaus und eine Reihe Nachbarhäuser in Brand. Das Deutsche Heer ertrug wohl nicht, dass der welsche Erbfeind den Deutschen Gottfried Daimler und Carl Benz sowie dem Österreicher Siegfrid Marcus zuvor gekommen sein soll.

In der Revolution von 1830 schlugen sich die Luxemburger mit Ausnahme der Festungsbewohner auf die Seite der Belgier. Misseg und Étienne Lenoir wurden Belgier und blieben es, nachdem das Großhezogtum in der Restauration von 1839 geteilt wurde.

Doch dem 16-jährigen Étienne Lenoir wurde sein Dorf zu klein. 1838 machte er sich auf und marschierte in die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. In Paris arbeitete er als Kellner, danach als Handwerker. Die industrielle Revolution war die goldene Zeit der Bastler und Autodidakten, und so wurde aus dem gerade aus der Dorfschule entlassenen Handwerker ein Erfinder, der mit 23 Jahren seine esten Patente anmeldete. Sie reichten bald von Ziffernblättern über Knöpfe, Badewannen und Feuerwaffen bis zu Schiffsschrauben.

Seine größte Erfindung machte Étienne Lenoir 1860 in einer Werkstatt auf Nummer 115 in der Pariser Rue de la Roquette: einen Gasmotor, mit dem er die Dampfmaschinen in den Fabriken ersetzen und so die industrielle Produktion revolutionieren wollte. Obwohl der Motor in Produk­tion ging und mehrfach verbessert wurde, gelang das nur ansatzweise: Er hatte einen enormen Verbrauch an Leuchtgas und Kühlwasser, musste laufend geschmiert werden und brachte kaum mehr als eine Pferdestärke auf. Trotzdem soll Lenoir 1863 seinen Motor auf einen dreirädigen Holzwagen montiert haben und mit flüssigem Brennstoff von seiner Werkstatt in drei Stunden 18 Kilometer bis nach Joinville-le-Pont, auf der anderen Seite des Bois de Vincennes, und zurück gefahren sein.

Es hatte gerade zu regnen aufgehört, als ich aus der Métro-Station Voltaire ans Tageslicht stieg. Die Rue de la Roquette führte nach Osten in Richtung Père-Lachaise, wo Étienne Lenoir, einige hundert Meter von Hippolyte Marinonis Werkstatt entfernt, begraben lag. Dort, wo in der Werkstatt sein Gasmotor gebaut wurde und von wo er die erste Automobilfahrt der Geschichte unternommen haben soll, auf Nummer 115, war nun der fahl beleuchtete Traiteur asiatique Shanghai. In dem engen Laden konnte man für wenig Geld Nudeln und Frühlingsrollen kaufen, doch am Spätnachmittag war er menschenleer. Passanten eilten durch die anbrechende Dämmerung, der Wind trieb leere Pizzakartons durch die Straße.

In der schmalen Querstraße Cité industrielle standen Mülleimer vor den Garageneinfahrten. Eine ältere Frau beobachtete mich argwöhnisch aus einem oberen Stockwerk, als ich nach einer Spur von Étienne Lenoirs Automobil suchte. Doch nicht einmal eine Gedenktafel hing an der Fassade. Vielleicht fand ich eher eine Spur im Conservatoire national des arts et métiers. Schließlich bewahrte das Museum auch Joseph Cugnots mit einer Dampfmaschine betriebenen Armeelore auf, die bereits 1769 beanspruchte, das erste Automobil zu sein.

Schon der Eingang des Conservatoire national des arts et métiers war mit seinen Säulen, Statuen und dem steinernen Vordach der Eingang eines Sakralbaus. In diesem nach der Französischen Revolution gegründeten und in einem ehemaligen Priorat untergebrachten Fortschritts­tempel wurden die Ideale der Aufklärung und der Erfindergeist der industriellen Revolu­tion mit schier endlosen Vitrinen voller Maschinen und Instrumente wie aus einem Jules-Verne-Roman verehrt. Kurz vor dem Ende der Besuchszeit begegnete ich nur wenigen Besuchern, als ich durch die Säle voll blank geputzer Mechanik eilte.

Tatsächlich stellte das Technikmuseum einen Prototypen von Lenoirs Gasmotor aus, ein solides Kunstwerk der Schmiede- und Schlosserkunst mit seinen handgefertigten Kolben, Pleueln, Wellen, Bolzen, Hebeln und Fliehkraftreglern. Ein späteres Modell aus dem Besitz des Physiklabors des Collège de France besaß ein mehr als mannshohes Schwungrad.

Nur von dem dazu gehörenden Auto fehlte jede Spur. Ich begann mir so langsam die Frage zu stellen, wie Lenoir einen solchen über eine Tonne schweren Motor auf einen Holzkarren montieren konnte, wie er ihn während der Fahrt mit den riesigen Mengen Treibstoff und Kühlwasser versorgen konnte und das anderthalb Pferde starke Gefährt auch noch die nötige Energie behielt, um sich von der Stelle zu rühren.

Merkwürdig war es schon, dass es keine zeitgenössischen Quellen zu Lenoirs Erfindung und seiner ersten Spritzfahrt in den Osten von Paris gab. Alle Zeichungen und Modelle des Karrens waren viele Jahrzehnte später entstandene Phantasien, zeigten bald ein dreirädriges, bald ein vierrädriges Gefährt, dem irgendjemand auch den Namen „Hippomobile“ gegeben hatte. Über den Treibstoff, der das Leuchtgas von Lenoirs Gasmotor ersetzen sollte, gingen die Berichte auseinander, reichten von Petroleum bis zu Wasserstoff. Doch die benötigten riesigen Treibstoff- und Kühlwassertanks waren auf allen Zeichnungen diskret weggelassen.

In der Literatur tauchte eine angeblich um 1895 datierte Erinnerung des Erfinders auf, der kurz erzählte: „J’ai fait, en ’63, une voiture autombile avec laquelle, au mois de septembre, nous allions à Joinville-le-Pont; une heure et demie pour aller, autant pour revenir. La voiture était lourde; le moteur, de 1 cheval et demi, tournait 100 tours à la minute, avec un volant assez lourd.“

Am 10. Januar 1900 verfasste eine Arbeitsgruppe des Automobile Club de France einen ebenso kurzen wie entschiedenen Bericht, in dem sie feststellte: Étienne Lenoir „a fait, au mois de mai 1862, une voiture munie d’un moteur à gaz qui circula plusieurs fois des ateliers où elle avait été construite, rue de la Roquette, à Paris, partant de ce point pour aller à Vincennes. La preuve de la construction de cette voiture et la constatation de son fonc­tionnement sont faites en une pièce authentique signéee par M. Goriot, ex-chef des ateliers de M. Lenoir, et M. Pinotot, ex-contremaître, encore existants. Le rapporteur peut de même, s’il en est besoin, corroborer ces dires et affirmer avoir vu circuler la voiture construite par M. Lenoir avec son moteur à gaz. Ces preuves irréfutables établissent d’une façon certaine que la France peut revendiquer pour l’un de ses enfants la gloire d’avoir construit le premier moteur à gaz et la première voiture avec moteur à gaz.“ 1881 hatte Lenoir seine dritte Staatsangehörigkeit angommen und war Franzose geworden.

Das wollte aber das um seinen Platz an der Sonne und die Wettbewerbsfähigkeit seines Standorts kämpfende Deutsche Kaiserreich nicht gelten lassen. Als der Wettbewerb der europäi­schen Industrienationen wenige Jahre später mit dem Ersten Weltkrieg blutiger Ernst wurde, zerstörte das Deutsche Heer gleich die Erinnerungstafel an Étienne Lenoirs Geburtshaus in Mussy-la-Ville.

Romain Hilgert
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