Leitartikel

Verkehrte Rollen

d'Lëtzebuerger Land du 26.05.2017

Das Ansehen von Politikern ist bekanntlich nicht sehr hoch. Sie gelten vielerorts als korrupt, opportunistisch und bloß auf den eigenen Vorteil bedacht. Das mag manchmal stimmen. Sicher ist aber, dass, mit Ausnahme von Kleinkindern, niemand so korrupt, opportunistisch und auf den eigenen Vorteil bedacht ist wie ihre sich stets für edel und unschuldig haltenden Wähler. Anders als in der Privatwirtschaft, wo die aktive Korruption kein Thema ist, bleibt im Wahlgeschäft der passive Teil der Korruption tabu. Dabei verkaufen die Wähler sich, ihre edele Gesinnung, ihren über ­Facebook verbreiteten kritischen Geist und ihr Gefühl der moralischen Überlegenheit für eine Handvoll Euro an den Meistbietenden, der ihnen zu Beginn eines Wahljahrs etwas weniger Steuern oder etwas mehr Kindergeld, Rente und Punktwert verspricht.

Diese Umstände führen zwangsläufig dazu, dass eine Regierung kurz vor den Wahlen nach der letzten Münze in der Staatskasse kramen muss, um sich die Stimmen der über jeden Verdacht erhabenen Wähler zu kaufen. Und dass die Opposition in einem endlosen Wettlauf zwischen Hase und Igel stets noch einige Euro mehr zu verteilen verspricht, als die Regierung im Interesse anderer Lobbys als der Privathaushalte ­zahlen will.

Seit jedoch Jean-Claude Juncker über seinen Spëtzeldéngscht stürzte, sind vorübergehend manche Dinge in der Politik verkehrt. DP, LSAP und Grüne hatten sich zuerst verwegen vorgenommen, die Maastrichter Austeritätskriterien doppelt und dreifach zu unterbieten, bis das Murren ihrer Wähler und der schwarzen Wechselwähler lauter wurde. Daraufhin machten sie auf quietschenden Reifen eine Kehrtwende, senkten die Steuern und erhöhten für ihre Mittelschichten-Wahlklientel die Sozialleistungen und Zuschüsse.

Dadurch wurde die CSV aber auf dem falschen Fuß erwischt. Denn Herr Wiseler hatte sich im Andenken an verblichene CSV-Patriarchen und den mythischen ­Werner-Frang als besonnenen Staatsmann inszenieren wollen, der auf hausväterliche Art und Weise die Steuergelder noch vorsichtiger als die liberale Sparkoalition hütete. Doch nun ist ihm die Konkurrenz der liberalen Sparkoalition abhanden gekommen und es fehlte ihm der Mut zum Wettlauf zwischen Hase und Igel, wie ihn seine Fraktionskollegen Laurent Mosar und Gilles Roth vor allem bei der Unternehmensbesteuerung gezeigt haben. So dass der christlich-soziale Spitzenkandidat sich nun zum Gaudi von DP, LSAP und Grünen in der unbequemen Position wiederfindet, bei jährlich über vier Prozent Wachstum als Bußprediger und Sparapostel umherzuziehen und die notorisch korrupten, opportunistischen und bloß auf den eigenen Vorteil bedachten Wähler zu ermahnen, den Gürtel enger zu schnallen. Hat die Regierung ihr ursprüngliches Haushaltsziel von einem 0,5-prozentigen Überschuss skrupellos in ein 0,5-prozentiges Defizit verkehrt, will der CSV-Spitzenkandidat dies zwar rückgängig machen, aber nur ein wenig, denn sein Mut reicht bloß zu einem 0,25-prozentigen Überschuss aus.

Bei der Vorstellung der ersten Ecksteine seines Wahlprogramms im vergangenen Oktober kündigte Claude Wiseler auch an, mit dem seit dem Rententisch beliebten Schreckgespenst einer Rentenmauer in den Wahlkampf ziehen zu wollen. Aber während der parlamentarischen Debatte über die Erklärung zur Lage der Nation vor einem Monat gelang es ihm nicht, zu erklären, an welchen „drei bis vier Stellschrauben“, wie Beitragserhöhungen, Verlängerung der Lebensabeitszeit oder Rentenkürzungen, die nächste Regierung drehen soll, und auch eine anderntags eigens nachgereichte Pressekonferenz schuf kaum größere Klarheit. Doch so delikat, wie das Thema nun einmal ist, kann allzuviel Klarheit vielleicht nur schaden.

Romain Hilgert
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