Kot als Zeichen der Verzweiflung: Wie in Victor Castanets Les fossoyeurs, seinem Essai über die katastrophalen Zustände in Frankreichs Altenheimen, in dem er von einem älteren Herrn berichtete, der die Mauern seines überteuerten EHPAD-Zimmers mit den eigenen Exkrementen zukleisterte, so stehen auch in Eugénie Anselins Dammriss die Fäkalien für die Ausweglosigkeit. Nur geht es hier nicht um die letzten, sondern um die ersten Lebensjahre: um genauer zu sein um die eines jungen Paares, das versucht, seinen Arbeitsalltag mit dem anstrengendsten aller Jobs – dem Elternsein – in Einklang zu bringen.
Irgendwann ist die Übermüdung so groß, irgendwann ist die Lage so angespannt, dass er ihr eine vollgeschissene Windel ins Gesicht klatscht – was sie natürlich nicht einfach so hinnehmen kann. Und schon beginnt die wohl erste Windelschlacht ever im Kasemattentheater.
Dabei hat alles so schön mit einem gemeinsamen Pizzaabend angefangen – ein Abend, der den Verhaltenskodex, die Paarhierarchie und die Machtgefüge dieser Beziehung überspitzt, aber eindrucksvoll darstellt: Während David mittels einer Pizzabestellung ihrem gemeinsamen Wunsch nach Junkfood im Zeitalter des bioveganen Hipstertums nachgeht und im Endeffekt eine Pizza „ohne alles mit Oliven“ bestellt, freut Maxi sich so sehr über einen beruflichen Erfolg, dass sie den gerade durchgeführten Schwangerschaftstest total vergisst.
Über sein Erstaunen, dass der Test positiv ist, obwohl sie die Pille doch gerade erst abgesetzt hat, zeigt sie sich ebenso verwundert: „Ich bin eben effizient. Das müsstest du so langsam wissen.“ So effizient, dass wenige Minuten später ein riesiges Packet vor der Wohnung abgeliefert wird: Für die Auswahl des Kinderwagens hat sie nächtelang allmögliche Optionen verglichen – und den Testsieger dieser nahezu vergleichswissenschaftlichen Studie in weiser Voraussicht schon mal bestellt.
Die Familie ist die kleinstmöglichste politische Organisation, schreibt Blandine Rinkel in La faille – und in dieser Organisation, die mit ihrer Schwangerschaft beginnt, macht Maxi überdeutlich, wer hier die Hose anhat. Schließlich ist sie es auch, die das Geld eintreibt – und laut David so sehr nach der Pfeife ihrer Chefin tanzt, dass sie sogar drei Tage vor der voraussichtlichen Geburt noch auf Geschäftsreise gehen würde. Wohingegen er seine Tage mit dem Grübeln über den „Ansatzwinkel“ seiner Doktorarbeit in Genderforschung verbringt – oder, aus Maxis Perspektive, mit Nichtstun vergeudet.
Und schließlich ist sie es auch, die während neun Monaten erstmal allmögliche körperliche wie psychische Lasten auf sich nimmt, weswegen sie Davids verklärten Enthusiasmus erstmal bremst: „Zuerst werde ich noch anschwellen, leide unter Schwangerschaftsübelkeit, Diabetes, Demenz, Dehnungsstreifen und Sodbrennen, bekomme Hämorrhoiden, Blähungen, Bauchkrämpfe, Verstopfung, Durchfall, Rippenschmerzen, und zum Abschluss noch einen Dammriss. Und dann ja, dann wirst du Papa.“ Aus genau diesem Grund hasst sie (verständlicherweise) Menschen, die „wir sind schwanger“ sagen.
Um seine Ohnmacht zu transzendieren, startet David einen Podcast, der seinem leichten Hang zum Mansplaining frönt. Das findet Maxi zwar anfangs doof, aber neben der dramaturgischen Funktion – der Podcast erlaubt es nicht nur, die Figuren vorzustellen, sondern auch, die Ellipsen zwischen den einzelnen Szenen zu füllen und dem Stück so einen chronologischen Rahmen zu verleihen – erfüllt dieser aber auch eine kathartische, denn der Podcast wird zum gemeinsamen Sprachrohr, in dem sich der angestaute Frust über die ungleiche Rollenverteilung in der gemeinsamen Kommunikation an andere werdende Eltern wieder auflöst.
Weiterhin erlaubt es der Podcast, die nicht immer ganz subtil eingeflochtenen fun facts über die Schwangerschaft und das Kinderkriegen zu legitimieren – und quasi den Bildungsauftrag, der in einer Kasemattentheaterproduktion stets irgendwo durchschimmern muss, auf der Metaebene programmatisch festzulegen. In Dammriss dem Stück geht es also, genau wie in „Dammriss“ dem Podcast darum, „ganz authentisch und ohne Tabus die Themen rund ums Kinderkriegen [zu] besprechen“ – und das in den besten Szenen des Stücks mit einer gehörigen Portion Humor.
Wie der an Bergmanns Szenen einer Ehe angelehnte Untertitel (Bruchstücke aus dem Leben eines frischgebackenen Ehepaares) es schon andeutet, besteht Dammriss aus einer Aneinanderreihung von Vignetten, die nicht etwa die langsame Zersplitterung eines Paares darstellen, sondern das schwierige Hineinwachsen in die Rolle des Elternseins humorvoll eruieren – und dabei gleichzeitig den Mythos rund um die Schwangerschaft und das Elternsein dekonstruieren. Und auch wenn Bergmanns Film hier ein deutlicher Hypotext ist – aus der Rechtsanwältin wurde eine Beraterin, aus dem Naturwissenschaftler ein hipper Gender-Studies, aus der Homestory ein Podcast – ist der Tonfall von Dammriss deutlich klamaukiger.
Zwischen Autofiktion und Sitcom, so könnte man Dammriss, das 2023 durch das Stipendium Edmond Dune entstand, am besten umreißen. Schauspielerin Eugénie Anselin schrieb den Text und spielt die Hauptrolle, ihr Lebensgefährte Antoine De Saint Phalle inszeniert. Wie in (fast) jeder Autofiktion ist es für die ästhetische Erfahrung jedoch letztlich unerheblich, was und wie viel hier wirklich erlebt, transzendiert, übertrieben, hinzu- oder weggedichtet wurde: Was zählt ist der Drahtseilakt zwischen Komödie und Drama, was zählt sind die Momente, in denen die Situationskomik so sehr auf die Spitze getrieben wird, dass sie fast schon wieder ins Drama kippt – und umgekehrt.
Das funktioniert immer dann am besten, wenn der Text den beiden tollen Hauptdarstellern Eugénie Anselin und Jonas Götzinger genug Freiräume lässt – wie etwa, wenn David viel zu lang versucht, den neuen Kinderwagen aufzuklappen und Maxi lakonisch kommentiert: „Jetzt hast du auch etwas zu tun während der Schwangerschaft. Ich arbeite am Kind und du am Wagen.“ Oder wenn die beiden sich gegenseitig parodieren – und dann, wie hätte es anders sein können, Maxis Fruchtblase platzt. Hier zeigt Regisseur Antoine De Saint Phalle ein deutlich sichereres Gespür für Rhythmus und findet eine spannendere Bühnensprache als bei seinem wenig subtilen Regiedebut am Centaure, wo er Anouilhs Antigone inszenierte.
Dammriss funktioniert allerdings immer dann am wenigsten, wenn der Humor zu grobschlächtig ist, die Dramaturgie zu didaktisch und die Darsteller es nicht vermögen, die Schwankungen in der Textqualität aufzufangen (Anselin gelingt der bitterböse Humor deutlich besser als die etwas kitschigen Überlegungen über die wundersame Banalität der Geburt) – sprich wenn das Stück zu sehr in Richtung deutsche Sitcom abdriftet und bei verschiedenen Gags – etwa eine Szene mit einer Ikea-Gebrauchsanleitung – ein Gefühl von Déjà-vu-trop-de-fois aufkommt. Dabei beruft sich das Stück auf eine gewisse Komplizenschaft mit dem Publikum: Viele dieser Zankereien, Ängste und Fragen kennt jeder, der den steinigen Weg zum Elternwerden mitgemacht hat, sodass auch die weniger überzeugenden Momente durch den situationellen Wiedererkennungsfaktor aufgefangen werden.
Szenografisch ist das Stück durch und durch minimalistisch: Auf der Bühne häufen sich erstmal die Umzugskartons, bevor diese dann sehr ökologisch zu Wohnungsmöbeln upgecycelt werden. So passt das Bühnenbild zu den hippen Eltern, die sich der Widersprüche ihrer Generation sehr bewusst sind – und ihre alltäglichen Entscheidungen stets an den großen ethischen Fragen unserer Zeit messen.
Inmitten aller Betrachtungen über das Wunder der Geburt und den Irrungen und Wirrungen des Elternwerdens hat Dammriss jedoch einen blinden Fleck: Das Bühnenbild mag noch so nachhaltig sein, an die Frage, wieso man in Zeiten der totalen Unruhe, in denen die politische Zukunft und die der Erde nicht nur ungewisser, sondern auch unheilvoller denn je erscheint, überhaupt noch diese unnachhaltigste aller Entscheidungen trifft, an die Frage also, wieso man überhaupt noch Kinder kriegt, wagt sich Anselins Text leider zu keinem Zeitpunkt heran.