Theater

Protokoll eines menschlichen Skandals

d'Lëtzebuerger Land du 07.12.2012

„Ich habe ihm in die Augen geschaut. Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund und vergessen. Aber er blieb stumm. Stumm mit allen Worten. Ich will es nicht länger bleiben. Deshalb habe ich. Korrigieren. Habe löschen. Schreibe ich. Deshalb schreibe ich dieses Buch.“ Es mag dies eine jener Textstellen sein, die den Kern von Albert Ostermaiers Stückfassung zu seinem Erfolgsroman Schwarze Sonne scheine am besten treffen. Sebastian, 24, wurde eine Diagnose gestellt. Er ist todkrank. Ein seltenes Herpes-Virus, das er sich im Jemen eingefangen haben soll. Ein halbes Jahr noch hat er zu leben. Sagt Professor Scher. Schwarze Sonne scheine ist nur vordergründig die Geschichte einer skandalösen Fehldiagnose und der Profilneurose eines geltungssüchtigen Pfaffen. Das Drama zieht seinen Reiz vor allem aus jenem Zusammenspiel an morbider Metaphorik und spitzem Zynismus, wie es gerade auch dem obigen Zitat zu entnehmen ist. Es stößt in diesem engen Krankenzimmer, gerade einmal ausgestattet mit Krankenbett und Krankentisch und Krankenvorhang, die Fatalität eines vermeintlich Sterbenden auf die schwarzhumorige Lexik und Wortspielereien eines gewitzten Autors, der seine Vergangenheit noch einmal festhalten möchte: „So wird meine Seele gesund und vergessen.“ Spirituelle Kraft aus den Worten der Heiligen Schrift zu nutzen ist nicht das Ding dieses jungen Sterbenden. So wird auch die christliche Trostquelle des Mentors, Abt Sylvester, ins Lächerliche gezogen, das Wort verdreht. Sebastian ist mental und intellektuell lediglich auf eine verschwurbelte Weise bereit für den Tod: „Ich will doch Dichter sein, sagt mir nicht der Tod, dass ich es bin, ist er nicht die Tinte, die mir fehlte für das weiße Blatt vor mir?“ Und dann doch wieder der Zyniker im Rückblick auf einen Selbstmordversuch: „Wenn ich mich umbringe, muss der Ausgang todsicher sein, und es muss gut aussehen (...).“ Schwarze Sonne scheine liefert 90 Minuten Monolog, 90 Minuten feinster Sprachakrobatik eines Albert Ostermaier, der an Luxemburger Bühnen bereits mit Aufstand oder Das Leben der anderen auf sich aufmerksam machen ließ. Schwarze Sonne scheine lebt jedoch genauso sehr von der komischen, körperlich anstrengenden Interpretation des Luxemburger Darstellers Luc Feit. Ob er sich mit Papier einer Mumie gleich einrollt, in ein Bettlaken eingehüllt den Propheten Mohammed nachahmt oder Ostermaiers Sprache Leben einhaucht und minutenlange Gedankengänge zum Ausdruck bringt: Die Besetzung ist ein Glücksgriff. Dass Ostermaiers Werk auch autobiografischer Natur ist, zählt zu den Fakten. Welche Inhalte genau authentisch sind und welche hinzugedichtet, das bleibt im Vagen. Allein die Tatsache, dass der Grundzug der Geschichte, des rein handlungsbezogenen Ablaufs der Wahrheit entspricht, ist ein menschlicher und medizinischer Skandal. Dass die Inszenierung auf einer Luxemburger Bühne zu sehen war, ist von reinem Gewinn. Schwarze Sonne scheine ist morbide, urkomisch, unterhaltend, anspruchsvoll und – soweit ein einziger Besuch im Theater diesen Schluss erlaubt – weitestgehend frei von Schwächen. Der minutenlange Applaus mit fünf Vorhängen bestätigt diese Rezeption.

Schwarze Sonne scheine von Albert Ostermaier; eine Produktion der Théâtres de la Vlle de Luxembourg; Inszenierung: Johannes Zametzer; Assistenz: Francis Schmit; Kostüm und Requisite: Anatoli Papadopoulou; Licht: Max Kohl; Ton: Marc Morth; mit Luc Feit. Keine weiteren Vorstellungen.
Claude Reiles
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