Kino

Das Leben und so

d'Lëtzebuerger Land du 04.02.2022

„I want my movies to be pieces of cake rather than slices of life“, hat Alfred Hitchcock1 einmal gesagt. Dass die genau gegensätzliche Auffassung von Film nicht zwingend ausgeschlossen ist, beweist der amerikanische Regisseur Mike Mills mit seinem neuen Film C’mon C’mon: Johnny (Joaquin Phoenix) schlägt vor, auf den neunjährigen Jesse (Woody Norman), den Sohn seiner Schwester Viv (Gaby Hoffmann), aufzupassen, damit diese sich um ihren unter einer bipolaren Störung leidenden Mann kümmern kann. Der alleinstehende Johny unternimmt mit Jesse eine Reise von Los Angeles nach New York, die ihn mit Fragen der elterlichen Verantwortung und Fürsorge konfrontiert.

Mills hat bereits in Thumbsucker (2005) und Beginners (2010) ein gutes Gespür für atypische Familienkonstellationen gezeigt. Seine Geschichten unterfüttert er oft mit autobiografischer und sehr persönlicher Erfahrung: Christopher Plummers Rolle als homosexueller Vater im hohen Alter in Beginners stützt sich auf Mills’ eigenen Vater. Annette Bennings Rolle in 20th Century Women (2016) ist seiner Mutter nachempfunden. Eigenen Angaben zufolge kam Mills die Grundidee zu seinem neuen Film, als sein Sohn in der Badewanne saß. Die Ausgangssituation von C’mon C’mon ist die Zustandsbeschreibung einer ganz dysfunktionalen Familie: Johnnys Verhältnis zu seiner Schwester Viv ist mehr als angespannt. Es gibt unausgesprochene Konflikte, und auf dem ohnehin kommunikationsarmen Bruder-Schwester-Verhältnis lastet der kritische Gesundheitszustand der Mutter. Zu seinem Neffen Jesse verspürt Johny indes eine tiefgreifende emotionale Verbindung, die das Zentrum des Filmes ausmachen wird. Mills präsentiert die Figurenkonstellationen gleich zu Beginn sehr präzise. Anschließend drängt er umso unmittelbarer auf ein sofortiges Gefühl von Zusammenhalt bei dem Darstellerpaar Phoenix-Norman, dessen Zusammenspiel den Erzählfluss maßgeblich bestimmt: Man glaubt an – und erkennt diese Menschen und Orte.
Unter der Produktionsleitung von A24, einem Filmstudio mit deutlich erkennbarem Arthouse-Appeal, und in ganz reduktionistischen Schwarzweiß-Aufnahmen gedreht, ist C’mon C’mon vor allem ein Film, der auf die aufmerksame Kontemplation ausgerichtet ist; ein Film, der das Auge zum Schweifen einlädt. Obwohl Mills immer wieder auf die visuelle Inszenierung seiner Filme achtet – beinahe jede Einstellung ist sehr sorgfältig arrangiert –, liegt seine besondere Stärke im Erzeugen eines äußerst einladenden Gefühls der Intimität zwischen den Figuren.

Mit Jesse erfährt Johnny die Einfachheiten des Alltags neu und muss sich mit ihm auch den großen Sinnfragen des Menschseins stellen, die ihn zur Schmerzbewältigung und zum Weitermachen anregen. Darin liegt die besondere Anziehungskraft von Mills’ Filmen: Seine Drehbücher, seine Rollenbesetzung und Schauspielführung machen seine Darsteller schnell zu Menschen, die einem am Herzen liegen, weil von ihnen eine unmittelbare Wahrhaftigkeit ausgeht, die dem Eindruck von Film als vorgefertigtem Zeichensystem entgegenläuft. Immer wieder verhalten sich die Figuren entgegen dem Stereotyp, das sie andernorts in den Genrewelten des Kinos zu bedienen haben. Mills nimmt seine Figuren als Menschen wahr und nimmt sie ernst: Das wird schon am Anfang deutlich, als Johnny, der als Radiojournalist tätig ist, eine Reihe von Kindern zu gesellschaftlichen Themen interviewt. Mills Einstieg in den Film ist nahezu programmatisch für den weiteren Handlungsverlauf. Er zeugt von einem großen Respekt vor der Individualität der Kinder und davon, dass sie als Mitglieder der Gesellschaft genauso wichtig sind wie die Erwachsenen und entsprechend wahrgenommen werden sollen.

1 Alfred Hitchcock ist aktuell Gegenstand filmischer Begeisterung: Das Luxembourg City Film Festival und das Cercle Cité werden am 11.2.2022 eine umfangreiche Ausstellung unter der Leitung von Paul Lesch eröffnen. Eine Buchpräsentation wird folgen, bevor die Cinémathèque und die Uni Luxemburg sich Hitchcocks im Rahmen der Université Populaire du Cinéma annehmen.

Marc Trappendreher
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