Tiere in den sozialen Medien

De Renert 2.0

d'Lëtzebuerger Land du 03.07.2020

Sie springen auf Trampolinen rum, tanzen auf Blechtonnen, fischen gewieft Gegenstände aus Behältern. Wildtiere, Hausziegen, Pandas, Schweine und Waschbären tummeln sich auf unseren Bildschirmen, tun dort Erstaunliches oder sorgen einfach für Unterhaltung. In der menschlichen Kulturzone der sozialen Medien wird ihnen dabei zumeist ein Odem einer humanoiden Welterfahrung eingehaucht: Auf dem Twitter-Account Daily Owls wird eine Eule gezeigt, die ihrem Partner eine Maus vor den Schnabel hält. Über dem Video steht: Vergesst Schokolade und Blumen. Um das Herz dieser Dame zu erobern, braucht es eine Maus.

Die Vermenschlichung geht oft jedoch tiefer, sie wird verwoben mit dem Bildmaterial, gräbt sich auf Tonspuren ein. Der Schriftsteller Rabi Alameddine schreibt in den sozialen Medien: „Ich habe das jetzt gebraucht: Baby-Fuchs Gelächter“. Darunter befindet sich ein Video auf dem eine Frau den Bauch von zwei Füchsen streichelt, auf die Tonbandspur wurde ein Gelächter-Remix gelegt, so dass der getäuschte Zuschauer lachende Füchse hört. Der User Akki verbreitete einen Filmabschnitt, in dem ein Hund neben einem Kleinkind auf einem Kissen liegt, beide lesen scheinbar gemeinsam ein Buch.

Das Phänomen des Anthropomorphisierens ist ein vermotteter Hut. In Mythen, Volks-Erzählungen, Kinderbüchern und Fabeln weltweit tauchen Tiere auf, die mit Menschen sprechen, wie Menschen handeln oder diese auf ihre Charakterschwächen hinweisen. Auch ein Klassiker der Luxemburger Literatur vermittelt seine Gesellschaftskritik durch anthropomorphe Tierfiguren. In Michel Rodanges De Renert oder de Fuuss am Frack an a Maansgréisst treffen Vögel, Mäuse, Schafe auf „Wolfsgesetze“ und die Hinterlist eines Fuchses. Mit diesem Stilmittel veranschaulicht Rodange den Opportunismus der Politiker und die Hypokrisie der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts.

Die Tierfiguren von Volkserzählungen, Fabeln, und Kindergeschichten sind dabei nicht willkürlich gewählt, sondern verweisen häufig auf Eigenschaften, die Mensch-Tier-Beziehungen auszeichnen: Im Mittelpunkt können friedvolle Allianzen sowie die Kooperationsbereitschaft stehen, aber genauso gut das Austricksen und Ausnutzen von artfremden Wesen. Sie verweisen auf Ambiguitäten von Beziehungen, ihre möglichen Gefahren und Abhängigkeiten sowie ihre Vorteile. Der Hund kann bei der Jagd der Gehilfe des Menschen sein, das Wildschwein jedoch das Opfer von dem Hund-Mensch-Duo.

Wer jedoch Rodanges epochale Werk mit Tiktok-Tiervideos vergleicht, der merkt: Hier liegen Unterschiede vor! Die Qualität des Anthropomorphisierens ist neu; der Inhalt und die Form des kulturellen Vermenschlichungsreflexes verändert sich mit den technologischen Mitteln, die bereitstehen. Neben Mythen und Fabeln ist eine neue Kategorie der Tiergeschichten aufgetaucht, eine Unterkategorie des Internetgenres, eine Sub-sub-Kategorie, für die der Duden künftig vielleicht einen eigenen Eintrag führt. Manche Videos enthalten eine politische Botschaft, andere tragen nur auf den zweiten Blick eine politische Note: Diese erklingt dann, wenn Holstein-Rinder, deren Milch, und Hühner, deren Eier wir essen, Dinge tun, die wir nicht unsympathisch finden.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts war das Interesse an Tieren etwas eingeschlafen, vor allem den sogenannten Nutztieren. Auslaufställe werden in Weidelandschaften ausgelagert, Schlachthöfe werden an den Rand der Zivilisation verbannt, Tierfleisch fetischisiert man in Wurstform bis zur Unkenntlichkeit ihres lebendigen Ursprungs, Hühner werden eingesperrt und laufen nicht mehr durch die verschlafenen Ortschaften. Auf den kleinbäuerlichen Betrieben des beginnenden 20. Jahrhunderts war es hingegen kein Widerspruch, eine Beziehung zu seinen Hoftieren zu pflegen und sie trotzdem als Nahrungsmittelspender zu betrachten. Diese Form des Zusammenlebens brach mit dem Aufkommen einer urbanen Dienstleistungsgesellschaft in eine Polarität auseinander: Es existieren nur noch die verwöhnten Haustiere, die nahezu als individuelles Familienmitglied anerkannt werden und die ausbeutbaren Säugetiere mit Nummer im Ohr. Erstaunlich, dass die Weggesperrten nun wieder Boden gewinnen: Jedoch nicht in den Dorfstraßen, sondern in den Newsfeed der sozialen Medien. Die Kadenz, mit der die Internetwohnzimmer mit diesem Unterhaltungsprodukt überschwemmt werden, ist gleichwohl spektakulär.

Trotzdem: Obwohl zusehends Ziegen auf Trampolinen rumspringen, bleiben die Lieblinge des Menschen Hund und Katze. Erzählungen und Mythen beschäftigten sich zumeist mit Tieren aus dem unmittelbaren Umfeld des Menschen, sei es, weil das Tier Menschen bedroht, in Erstaunen versetzt, mysteriös anmutet oder ihn emotional aufheitert. Da der Mitteleuropäer in seinen Gefilden nur noch selten von nicht-menschlichen Tieren bedroht wird und sein Berufsalltag tierlos ist, interessiert ihn vor allem sein Schosstier – und das ist im Internet nicht anders. Die meisten Videos und Fotos zeigen vor allem Hunde und Katzen in Wohnzimmern, Betten oder Gärten. Der Erfolg dieser tierischen Medienauftritte ruft wiederum bei einigen Besitzern ein grenzwertiges Verhalten hervor: Tiere werden verkleidet und in missliche Lagen versetzt nur um der Unterhaltung willen. Besitzer jagen nach Abstrusitäten, um ihr Haustier zu filmen, zu fotografieren, zu posten.

Die Anthropologin und Tierrechtsaktivistin Margo DeMello schreibt, Tierrechtsaktivisten würden häufig mit anthropomorphisierenden Gratwanderungen arbeiten. Indem man Tieren eine menschliche Stimme ausleihe, werden sie öffentlich wahrgenommen, so die Annahme. Es sei ein ausdrucksstarkes Mittel, um eine Verbindung zu Empfindungszuständen herzustellen, die Tiere ebenso wie Menschen kennen. Das Anthropomorphisieren würde einen Bezug zu Wesen schaffen, die eigentlich keine Menschen sind, aber eben doch fast, bzw. andersrum: Der Mensch ist ein eigenartiges Tier. DeMellos Analyse lässt ein vorläufiges kulturoptimistisches Fazit zu: Schweine und Ziegen, die über Bildschirme hüpfen, können menschliche Tiere für das Leben von nicht-menschlichen Tieren sensibilisieren.

Stéphanie Majerus
© 2024 d’Lëtzebuerger Land