„Jo, dat ass batter“, kommentierte RTL-Journalistin Mariette Zenners gegen 19.15 Uhr das Resultat der Grünen nach den ersten Hochrechnungen aus dem Nord-Bezirk. Die RTL-Wahlsendung wurde in den Rotunden großformatig an die Wand projiziert. Die Spitzenkandidaten Claude Turmes und Stéphanie Empain konnten ihren Nordsitz nicht verteidigen. Der Energieminister verlor 7 000 Stimmen im Vergleich zu 2018. Nur wenige Mitglieder der grünen Partei hatten sich am frühen Abend im Innern des Saals eingefunden. Bereits während der Auszählung der Listenstimmen hatte sich der landesweite Absturz der Grünen abgezeichnet. Die Parteimitglieder blieben mit ihrem Crémant und Biog-Apfelsaft vor der Tür stehen, so als wolle man sich vor schlechten Nachrichten des RTL-Streamings schützen. Sie schielten dennoch auf ihr Smartphone, um neueste Trends zu verfolgen. Teile der Exekutive hatten sich derweil in Hinterzimmer zurückgezogen. Gegen Mitternacht stand fest, das die Partei auf ihr Gewicht von 1989 zurückgeschrumpft ist.
„Mat Bauchwéi erliewen ech dësen Owend“, sagt Semiray Ahmedova. Man sei oft im Schussfeld gewesen, doch man habe gekontert und politisch geliefert, meint die Süd-Kandidatin: Der öffentliche Transport wurde aufgemotzt, in der Wohnungsbaupolitik habe Henri Kox einen Weg gefunden, um die Preise zu drücken und ein Großteil der Trinkwasserquellen sind heute geschützt. Josée Lorsché fragt sich angesichts des Zuwachses rechts der Mitte: „Wou ass eis Gesellschaft geland?“ Während der Wahlkampagne hat sie den Absturz nicht kommen sehen. Im Austausch mit den Wählenden habe man positive Rückmeldungen erhalten. „Und Sam Tanson hat bewiesen, was sie kann – und zwar hervorragend argumentieren“, wundert sich Josée Lorsché über das schlechte Resultat.
Anders Georges Nesser, er kandidierte bei den Gemeindewahlen in Remich: „In meinem nahen Umfeld sagen Personen, es sei ihnen unmöglich einen Grünen zu wählen.“ Im ländlichen Raum würden Grüne stark angefeindet. Das sieht Gilles Losch ebenfalls so. Bei ihm in Helperknapp sitzen drei Landwirte im Gemeinderat. Landbesitz spielt hier eine zentrale Rolle – Naturschutzauflagen werden als Einmischung in die Privatsphäre aufgefasst. „Aber ich höre auch von jungen Wählern, dass ihnen die Grünen nicht mehr poppig genug sind“, erläutert er. Diese würden nun die Piraten wählen, die Themen wie Veganismus und Tierschutz popularisieren. Andere Grüne vermuten, dass eine Wählerwanderung Richtung DP und LSAP stattfand; womöglich hätten ehemalige CSV-Wähler sich nun für die ADR entschieden – und die dadurch bei der CSV entstandene Lücke sei von ehemaligen Grünen-Wählern gefüllt worden. Dies erkläre, weshalb die CSV ein ähnliches Resultat wie 2018 einfuhr.
Tatsächlich schienen die Grünen mit den Piraten zu konkurrieren. Im Norden konnten die Piraten einen Sitz zulegen, während die Grünen einen verloren. Und im Süden kam es um einen Restsitz zu einem Kopf an Kopf-Rennen zwischen den Piraten und den Grünen. Schließich zeichnete sich gegen 21.30 Uhr ab, dass der Ko-Parteipräsident Meris Sehovic im Süden ins Parlament einrückt. Gegenüber Reporter packte er ein identitätspolitisches Wording aus: „Es ist eine große Ehre, ich bin der erste Vertreter der Community aus Ex-Jugoslawien im Parlament“. Anschließend hoffte die Partei auf einen dritten Sitz im Zentrum, um ihre Fraktionsstärke zu halten – vergeblich; der Restsitz ging an die LSAP.
Am Montag fragte 100,7-Journalist Rick Mertens die Ko-Parteipräsidentin Djuna Bernard: „Wat ass schif gaang fir är Partei?“ Sie wünsche, sie hätte eine Antwort, erwidert die Zentrumskandidatin. Für das „Grünen-Massaker“, wie RTL-Journalist Serge Pauly das Wahlresultat bezeichnete, gibt es wohl nicht nur eine Antwort, sondern mehrere. Und es wimmelte diese Woche von Hypothesen. Im RTL-Presseclub am Montag urteilte Wort-Journalistin Ines Kurschat, Sam Tanson habe als Justiz- und Kulturministerin grüne Schwerpunkte nicht überzeugend vermittelt – wenngleich sie selbst gut abschnitt. Am Sonntag kamen ebenfalls Stimmen aus der Basis, die meinten, unangenehme Aspekte des Klimawandels, wie Brände in den Ardennen und Trinkwasserengpässe, habe man im Wahlkampf vermieden – vielleicht zu Unrecht. Der Reporter-Journalist Laurent Schmit schrieb, die Grünen hätten sich der Koalitionsräson unterworfen und keine eigenen Akzente mehr gesetzt. Mehr als den blau-rot-grünen Kompromiss hatte die Partei nicht zu bieten: Im Wahlkampf ging „kaum eine Forderung weiter als der nationale Energie- und Klimaplan, auf den sich die Regierung im Sommer geeinigt hatte“. Die Koalitionspartner zu kritisieren, wie etwa die Fehler der DP in der Wohnungsbaupolitik, trauten sie sich nicht. Und eigene Fehler beim Mietschutzgesetz gaben sie nicht zu. Hinzu kommt, dass sich die Wahlkampfdebatten auf technische Dossiers ausrichteten, wie Steuerpolitik, in denen eher die CSV auftrumpfte. Und mittlerweile greifen DP, LSAP und CSV das Klimathema ebenfalls auf. Was Elisabeth Margue am Tag nach den Wahlen unterstrich. Die CSV-Spitzenkandidatin meinte, Klima- und Umweltschutz würden nicht nur von den Grünen besetzt. Es gebe auch andere Wege, als die von den Grünen vorgeschlagenen.
Immer wieder wurde das Green-Bashing von grünen Kandidat/innen adressiert. Am Montagmorgen sagte Meris Sehovis: „Wir haben einen Wahlkampf erlebt, der mit einer massiven Aggressivität gegen unsere Partei aufgeladen war.“ Sam Tanson hatte im September gegenüber Reporter mitgeteilt, sie haben ihren Facebook-Account gelöscht. Die Attacken dort gegen die deutschen Grünen werden kontextlos über Memes auf die hiesigen Grünen gecopy-pastet. Die Kärrnerarbeit, politische Sachverhalte zu analysieren, macht sich hier niemand. Ein Ziel der ADR war es am 8. Oktober, mehr Stimmen als die Grünen zu erhalten. Ihr eigenes Profil schärften sie, indem sie die Energiewende und ökologische Transformation als Anschlag auf das Familienauto interpretierten und behaupteten, die Grünen würden die Gesellschaft mit einem elitären Duktus und Klimaideologie vor sich hertreiben.
Ein Diskurs, den die CSV ebenfalls nicht müde wird zu wiederholen. Am Dienstag behauptete der CSV-Abgeordnete Michel Wolter mit Blick auf die neue Regierung, man werde auf die Menschen zugehen, „amplaz se ofzeleenen an ze degutéiren an hinnen ee schlecht Gewëssen ze maachen“ (dabei warb Luc Frieden mit autoritären Charakterzügen und seiner Nähe zum internationalen Großkapital für sich. Nur sekundär versuchte er bürgernah zu sein). Der Soziologe Steffen Mau äußerte sich letzte Woche in verschiedenen Medien zur angeblichen Polarisierung der Gesellschaft. Sein Fazit: Das Sein folgt dem Bewusstsein. Die ständige heraufbeschworene gesellschaftliche Erregung von Politiker/innen und deren Verstärkung über unterschiedliche Medien führe in einem zweiten Schritt zu einer tatsächlichen Polarisierung. Im Verlauf eines Rundtischgesprächs mit Politikern am Montag wirft der RTL-Journalist François Aulner ein, „et schéngt besser ze fonctionéieren, wann een op déi Gréng schléit. Dat ass iergendwéi méi in, ech weess net firwat.“ Weniger gut käme an, wenn die etablierten Medien auf die Unzulänglichkeiten von anderen Politikern hinweisen.
Der Abgeordnete Charles Margue, Soziologe und ehemaliger Ilres-Leiter, analysierte die Lage am Wahlabend ähnlich: „Medieméisseg wësse mer net méi, wat leeft.“ Er denke da an die sozialen Medien, aber nicht nur: „Wissen wir, was die zweite Generation, der Personen mit osteuropäischem und lusophonem Hintergrund für Podcasts hören und welche Sendungen sie einschalten? Was für Thesen werden da verbreitet?“ Daneben würden immer mehr Menschen politisches und zivilgesellschaftliches Engagement verachten. Der Parteispitze der Grünen zufolge ist am Sonntag ein Rechtsruck eingetreten. Aber die CSV sieht das anders: „Also ich würde nicht von einem Rechtsruck sprechen, die ADR hat ein Prozent zugelegt und damit einen Sitz errungen. Esou eppes vu Ruck ass dat awer nu wierklech net“, sagte CSV-Parteipräsident Claude Wiseler im Radio 100,7. Die ADR hatte vor Jahren mal sieben Sitze inne. Der Journalist Rick Mertens ergänzt: „Zu einer Zeit, als die Partei einen anderen Namen und eine andere Ausrichtung hatte.“
Im Gespräch mit dem Land lässt François Bausch das Stichwort „Gaardenhäischen“ als weitere Erklärung für das Wahldesaster fallen. 2019 meldete Reporter, Roberto Traversini habe an seinem Haus und dessen Gartenlaube in einem der ältesten Naturschutzreservate ohne Genehmigung Arbeiten durchführen lassen. Gegen die frühere Umweltministerin Carole Dieschbourg liegt zudem der Verdacht vor, zu einem späteren Zeitpunkt keine rechtmäßige Genehmigung an Roberto Traversini nachgereicht zu haben. Sie trat schließlich aufgrund der möglichen Begünstigung des Parteikollegen zurück. Vor Gericht wurden die Anschuldigungen allerdings noch nicht verhandelt. 2017 war Roberto Traversini ein Stimmenmagnet im Süden, er verdoppelte damals die Partei-Madate in Differdingen. Am Sonntag stürzten die Grünen in Differdingen um 13 Prozent ab. Von fast 18 auf fünf Prozent. Im Süden war die Partei ebenfalls durch das Herzinfarkt von Vizepremier Felix Braz 2019 geschwächt worden, als der Escher dauerhaft ausscheiden musste. Nach seiner Rekonvaleszenz brach zudem ein interner Rechtsstreit über seine Amtsenthebung aus.
Die zivilgesellschaftlich organisierte Umweltbewegung führt das Wahldebakel auf einen Wust an administrativen Prozeduren im Umweltministerium zurück: Baulücken könnten sich nicht zu Wohnraum wandeln aufgrund von Umweltauflagen. Des Weiteren sei die Partei durch die Koalition gebremst worden, sie habe nicht schnell genug geliefert. NGO-Projekte habe sie außerdem nicht öffentlichkeitswirksam wertgeschätzt. Aber das Kommunikationsproblem liegt scheinbar noch tiefer: Claude Turmes und Henri Kox konnten ihre Entscheidungen kaum publikumsorientiert darlegen – und verpassten es deshalb, für grüne Politik zu werben. Überhaupt käme Claude Turmes nicht gut an. „Er ist nicht Camille Gira“, heißt es aus der Basis der Partei. Der Beckericher konnte echte Anteilnahme gegenüber seinen Gesprächspartnern zeigen – der Parteispitze wird heute vorgeworfen, sie halte sich „zu viel mit Gleichgesinnten auf“, wie es RTL-Journalist Jean-Marc Sturm ausdrückte. Mit Bildungsbürgern und Gutverdienern? Jedenfalls sind das ihre Wähler/innen, wie es Studien über die deutschen Grünen nahelegen. Vielleicht haben sie Geringverdiener als Adressaten während der Energiekrise aus dem Blick verloren. Und gingen die Wählenden vor fünf Jahren in einer Hochkonjunkturphase zur Urne, verbindet man die Partei in Zeiten hoher Inflation mit wirtschaftsfeindlicher, post-materieller Ideologie. Unter den abhanden gekommenen Wechselwählern geht wohl auch die Angst vor einer Rezession um.
Weil die Grünen ihren Fraktionsstatus verloren haben, entfällt eine mögliche Einflussnahme auf die Gestaltung der Plenarsitzungen. Um jedoch an einen größeren Geld-Pool zu gelangen, um Räumlichkeiten zur Verfügung zu bekommen und höhere Personalkosten abzudecken, könnte die Partei einen „Groupe technique“ mit déi lénk bilden. Alex Bodry verkündete auf X, die Zeit für eine Kooperation zwischen Sozialisten und Grünen „ronderem ee gemeinsamen regierungstauglechen sozial-ökologesche Projet“ sei gekommen. Entscheidungen sind noch keine gefallen: „Wir müssen erst noch eine Wahlresultatanalyse machen, bevor wir sehen, wie es weiter geht“, sagte François Bausch Mitte dieser Woche. An Sam Tanson könne es aber nicht gelegen haben, sie „ist eine exzellente Rednerin“.