Nachdem sie um 61 Millionen Euro betrogen wurde, ist die Zukunft der Caritas ungewiss. Auf die Hilfe der Regierung kann sie sich nicht mehr verlassen

„Keen eenzegen Euro vum Staat“aLuc Laboulle

d'Lëtzebuerger Land du 26.07.2024

Die Caritas sei „en Déngschtleeschtungsservice fir de Staat“, sagte CSV-Premierminister Luc Frieden am Mittwoch nach der Sitzung des Familienausschusses, bei dem es um die Zukunft der 500 Beschäftigten der Hilfsorganisation ging. Im Auftrag des Staates kümmere sie sich um Flüchtlinge und Obdachlose; die 61 Millionen Euro, die in den vergangenen Monaten veruntreut wurden, gehörten nicht dem Staat. Der Staat überweise der NGO lediglich in regelmäßigen Abständen Beträge, die im Rahmen von Konventionen an bestimmte Aufgaben gebunden seien, unterstrich Frieden. Laut Regierung sind das jährlich 45 Millionen Euro, in diesem Jahr sei bislang die Hälfte davon geflossen, wovon ein Teil nun gestohlen wurde. Diesen Teil werde der Staat selbstverständlich von der Caritas zurückfordern und sich dafür jegliche rechtliche Schritte vorbehalten, unterstrich Frieden. Es handle sich schließlich um eine „extrem grave Infraktioun“. Der CSV-Premierminister zeigte sich erbarmungslos gegenüber dem katholischen Hilfswerk, das von einer schweren Betrugsaffäre erschüttert wurde.

„La casse du siècle pose question“ titelte der Quotidien am Montag, nachdem Radio 100,7 schon am Freitag gemeldet hatte, dass eine hohe Mitarbeiterin der Caritas die Organisation um 61 Millionen Euro geprellt hat. Zwischen Februar und Juli hatte sie Hunderte Überweisungen im Gesamtwert von 28 Millionen Euro auf ein spanisches Konto genehmigt, von wo aus das Geld offenbar auf ein anderes Konto weitergeleitet wurde. Während Caritas-Generaldirektor Marc Crochet von Ende Mai bis Anfang Juli nach Santiago de Compostela pilgerte, nahm die CFO bei der Spuerkeess und der BGL zusätzlich Kreditlinien in Höhe von insgesamt 33 Millionen Euro auf, die ebenfalls verschwunden sind. Gegenüber dem Verwaltungsrat und dem Generaldirektor rechtfertigte sie die Kredite damit, dass der Staat wegen des Regierungswechsels und des provisorischen Haushalts mit den Subventionen in Verzug geraten sei. Was am Ende mit den 61 Millionen Euro passierte, ist noch unklar, zurzeit deutet aber nichts darauf hin, dass die Caritas noch Zugriff darauf hat.

Die verdächtige Person, die vergangene Woche in Frankreich im Urlaub weilte, hat sich am Montag, nachdem der Betrug aufgeflogen war, der Polizei gestellt und wurde verhaftet. Am Montagmorgen hatte Marc Crochet dem 100,7 und RTL schon Details zum Tathergang geschildert. Nachdem er aus Spanien zurückgekommen sei, habe er Kontobewegungen festgestellt, für die es keine Erklärungen gegeben habe. Die Verdächtige habe vorgetäuscht, ihm bei der Spurensuche zu helfen. Am 16. Juli habe er sich intensiver damit auseinandergesetzt und sei innerhalb von 15 Minuten fündig geworden.

Die Affäre wirft jede Menge Fragen auf. Zum Beispiel hinsichtlich der Compliance, sowohl bei der Caritas als auch bei den Banken, bei denen die Überweisungen getätigt wurden und die die Kreditlinien gewährt haben. Die Aufträge wurden Land-Informationen zufolge gegengezeichnet, weshalb der Betrug trotzdem niemandem auffiel, muss die Staatsanwaltschaft nun klären. Dem 100,7 sagte Marc Crochet am Montag, er habe in einem Telefonat vom Jakobsweg aus grünes Licht für die Aufnahme der Kreditlinie gegeben: Er sei zwar besorgt gewesen, weil noch kein Geld von der Regierung angekommen sei, Verdacht auf Betrug habe er jedoch nicht geschöpft. Während seiner Abwesenheit vertrat ihn sein Chief Operating Officer, ein ausgebildeter Psychologe, der kaum Erfahrung in Unternehmensmanagement hat.

100,7-Chefredakteur Jean-Claude Franck mutmaßte am Dienstag in einer Analyse, es könne sich um einen Fall von Social Engineering oder Präsidentenbetrug handeln; eine Masche, bei der Betrüger sich Zugang zu einer Firma verschaffen, um an Insiderwissen zu gelangen, das sie anschließend dazu benutzen, um sich als Verwaltungsrat oder Geschäftsführer auszugeben und Befehle an Mitarbeiter/innen zu erteilen. Mithilfe von künstlicher Intelligenz können inzwischen E-Mails, Telefonanrufe und sogar Videocalls mit Deepfakes täuschend echt nachgestellt werden. Wahrscheinlich ist, dass die Aktion von langer Hand geplant war. Ob die verdächtige Person eingeweiht war und einen Komplizen innerhalb der Caritas hatte, ist bislang noch unklar.

Mehrere Angestellte der Hilfsorganisation berichten, dass andere Mitarbeiter/innen der Finanzabteilung, die kritische Fragen gestellt hätten, in den vergangenen Monaten versetzt oder entlassen worden seien. Der Verwaltungsrat und die Direktion waren sich möglicherweise bewusst, dass ihr internes Compliance- und Sicherheitssystem Lücken aufwies: Ende 2023 ließen sie die Finanzabteilung von einer Auditfirma prüfen, um „Dinge zu verbessern“, wie Crochet am Montag im Radio darlegte. Vor drei Monaten stellte die Caritas-Stiftung einen leitenden Managementberater ein, der Anfang Juli eine Stellenanzeige zur Rekrutierung eines Spezialisten in Informationstechnologie schaltete. Letzterer sollte sich um die Funktionsfähigkeit der internen IT-Infrastruktur, die Netzarchitektur und die Datensicherheit kümmern.

Sowohl der Verwaltungsrat der Caritas-Stiftung als auch die Direktion scheinen nicht erst seit dieser Woche mit der Situation überfordert. Crochet verriet im Radio Details, die eigentlich unter das Untersuchungsgeheimnis fallen, gestand „naiv“ gewesen zu sein und warf der mutmaßlichen Täterin Vertrauensbruch vor. Caritas-Präsidentin Marie-Josée Jacobs sagte im RTL-Tëlé: „Dat ass mat dat schlëmmst, wat mir bis elo am Liewe geschitt ass.“ Nachdem der Betrug entdeckt worden war, bat Caritas die Beraterfirma PWC, ihr bei der Erneuerung ihres Systems und der Prozeduren zu helfen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die auf Spenden angewiesene Organisation wiederherzustellen.

Die Affäre sorgte aber vor allem bei der 500-köpfigen Belegschaft für große Verunsicherung. Am Montag riefen Marie-Josée Jacobs und Marc Crochet eine Personalversammlung ein, auf der sie vor rund 200 Beschäftigten erklärten, die Jobs bei der Caritas seien gesichert. Auch dem OGBL, der die absolute Mehrheit in der Personaldelegation hält, versicherte Crochet, die Arbeitsplätze und Löhne der Beschäftigten seien vorerst nicht in Gefahr. Land-Informationen zufolge verfügt die Caritas derzeit noch über Reserven in Höhe von 8 Millionen Euro, die dafür reichen, die laufenden Geschäfte zwei Monate weiterzuführen (2023 beliefen die Personalausgaben der Stiftung sich laut Finanzbericht auf rund 22 Millionen Euro).

Wie es danach weitergeht, ist unklar. Am Montag zeigte Crochet sich noch zuversichtlich, dass die Regierung die Organisation weiter finanziell unterstützen werde. Am Mittwoch widersprach ihm der Premierminister resolut: „Mir hunn och decidéiert, datt d’Caritas am Moment keen eenzegen Euro vum Staat iwwerwise kritt.“ In die aktuelle Struktur habe die Regierung kein Vertrauen, ihre Aufgabe sei es, „d’Steiersuen ze schützen“, sagte Frieden. Deshalb verlangte er, dass ein externer Ansprechpartner – beispielsweise ein administrateur provisoire – eingesetzt werde, mit dem die Regierung sich über „praktische Aspekte“ austauschen könne. Aufgabe der Regierung sei es nicht, sicherzustellen, dass die Caritas weiterbesteht, sondern, dass Flüchtlingen, Obdachlosen und anderen Bedürftigen geholfen wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Croix-Rouge und andere Hilfsorganisationen die „Dienstleistungen“ der Caritas in Luxemburg bis auf Weiteres übernehmen werden.

Ob die 1928 gegründete luxemburgische Caritas auch nach dem Besuch von Papst Franziskus am 26. September noch weiterbestehen kann, wird nun in einer ersten Phase davon abhängen, ob Spuerkeess und BGL mehr Verständnis zeigen als die Regierung, und der Caritas Aufschub bei der Rückzahlung der Kreditlinien gewähren. Doch mittel- bis langfristig kann der katholische Wohlfahrtsverband nur mit der finanziellen Unterstützung der Regierung überleben. Die Frage ist, ob die Regierung daran überhaupt Interesse hat. Seit mehr als hundert Jahren bildeten katholische Kongregationen und Wohlfahrtsverbände den sozialen Unterbau des auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhenden Luxemburger Staats, der bis heute einen Großteil seiner sozialen Aufgaben an wohltätige Organisationen auslagert. Die Barmherzigkeit und die zum Teil noch feudalen Strukturen der Caritas passen aber nicht mehr in den Zeitgeist und machen sie augenscheinlich anfällig für Betrug. Der Verwaltungsrat der Caritas-Stiftung wird laut Statuten nach wie vor vom Erzbischof ernannt (nach dem Weggang von Erny Gillen hatte der damalige Erzbischof Jean-Claude Hollerich Ende 2012 den Vorsitz für ein Jahr selbst übernommen), ihr Einsatz orientiert sich „am christlichen Menschenbild, den Werten des Evangeliums und der Gesellschaftsdoktrin der katholischen Kirche“. Ihr wohl größter „Konkurrent“ im Sektor der sozialarbeitlichen „Dienstleistungen“, die Croix-Rouge, ist neutraler, offener und liberaler aufgestellt. Als Präsident der Handelskammer saß Frieden neben der Präsidentin der Salariatskammer in der von der Ehefrau des Großherzogs präsidierten Vollversammlung des Roten Kreuzes, dessen Verwaltungsrat vom früheren UEL- und Handelskammerpräsidenten Michel Wurth geleitet wird.

Während das Rote Kreuz und andere Organisationen die staatlich konventionierten Wohlfahrtstätigkeiten und auch das Personal der Caritas in Luxemburg übernehmen könnten, dürfte es schwieriger werden, die benötigten Mittel zu finden, um die hauptsächlich von der EU geförderten internationalen Kooperationsprojekte im Mittleren und Nahen Osten, in Afrika und der Ukraine weiterzuführen. Für die Menschen in diesen Krisenregionen könnte die fehlende Hilfe lebensbedrohlich werden. In Luxemburg müsste die Caritas wohl zuerst beim Verwaltungspersonal sparen, sollten die staatlichen Zuschüsse nach den Sommerferien weiter ausbleiben. Auf die Solidarität aus den eigenen Reihen kann sie sich wohl kaum verlassen: Der Versuch, das Erzbistum, die Caritas sowie die vor allem an Immobilien und Bauland reichen Kongregationen in einer gemeinsamen Verwaltungsstruktur zusammenzuführen, war schon 1995 gescheitert.

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